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12 KiB

  1. 5 AR (VS) 23/10
  2. BUNDESGERICHTSHOF
  3. BESCHLUSS
  4. vom 4. August 2010
  5. in der Beschwerdesache
  6. gegen
  7. – Beschwerdegegner –
  8. vertreten durch:
  9. Rechtsanwalt
  10. hier:
  11. Rechtsbeschwerde der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main
  12. – Beschwerdeführerin –
  13. -2-
  14. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4. August 2010
  15. beschlossen:
  16. Auf die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft wird der
  17. Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom
  18. 25. Februar 2010 in Ziff. 1 und 2 aufgehoben.
  19. Der Antrag des Beschwerdegegners auf gerichtliche Entscheidung gegen den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 21. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.
  20. Der Beschwerdegegner trägt die Kosten des Verfahrens.
  21. G r ü n d e
  22. 1
  23. Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Generalstaatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom
  24. 25. Februar 2010, mit dem unter Aufhebung gegen den Beschwerdegegner
  25. ergangener Vollstreckungsbescheide die Vollstreckungsbehörde verpflichtet
  26. worden ist, den Beschwerdegegner unter Beachtung der Rechtsauffassung
  27. des Oberlandesgerichts über die Reihenfolge der Vollstreckung neu zu bescheiden.
  28. I.
  29. Der angefochtenen Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrun-
  30. 2
  31. de:
  32. 3
  33. Gegen den vielfach, auch aufgrund von Straftaten, die nicht im Zusammenhang mit seiner Betäubungsmittelabhängigkeit stehen, vorbestraften
  34. -3-
  35. Beschwerdegegner wurde zunächst eine (nach § 35 Abs. 1, 3 Nr. 1 BtMG
  36. zurückstellungsfähige) Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wegen Diebstahls in zwei Fällen sowie Computerbetrugs in vier Fällen
  37. aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 20. Juni 2008 (Az. 3620 Js
  38. 42794/07) vollstreckt. Die Zweidrittelverbüßung war auf den 27. Juni 2010
  39. notiert. Seither verbüßt der Beschwerdegegner eine (nicht nach § 35 BtMG
  40. zurückstellungsfähige) ursprünglich zur Bewährung ausgesetzte, dann aber
  41. widerrufene fünfmonatige Gesamtfreiheitsstrafe wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 14. Juni 2005 (Az. 9821 Js 30581/04). Die Zweidrittelverbüßung ist auf den 7. Oktober 2010, das Strafende auf den 27. November 2010 notiert. Daran anschließend sind die Vollstreckung eines durch das Landgericht Marburg
  42. – Strafvollstreckungskammer – nach einer Zurückstellung gemäß § 35 BtMG
  43. widerrufenen Strafrests aus dem Urteil des Landgerichts Kassel vom 6. Januar 1999 sowie die Vollstreckung des letzten Drittels der zunächst zur Bewährung ausgesetzten, dann aber widerrufenen (ebenfalls gemäß § 35
  44. Abs. 1, 3 Nr. 1 BtMG zurückstellungsfähigen) Freiheitsstrafe von einem Jahr
  45. und sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 23. August 2007 und des letzten Drittels der Strafe aus dem oben genannten Urteil
  46. des Amtsgerichts Kassel vom 20. Juni 2008 notiert. Das Gesamtstrafende ist
  47. auf den 11. Mai 2013 berechnet.
  48. 4
  49. Der Beschwerdeführer hat am 25. Mai 2009 eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge dahingehend beantragt, dass zunächst die nicht nach
  50. § 35 Abs. 1 BtMG zurückstellungsfähige Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 14. Juni 2005 zu vollstrecken sei, weil er beabsichtige,
  51. zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen Antrag auf Zurückstellung der Vollstreckung nach § 35 BtMG zu stellen. Diesen Antrag hat die Staatsanwaltschaft Kassel mit Bescheid vom 23. Juni 2009 abgelehnt, eine dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht Fulda – Strafvollstreckungskammer – als Einwendung nach § 458 Abs. 2 StPO mit Beschluss vom 16. September 2009 verworfen. Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdegeg-
  52. -4-
  53. ners hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main diesen Beschluss aufgehoben, weil der Rechtsweg nach § 23 EGGVG eröffnet sei, weswegen zunächst die Generalstaatsanwaltschaft über die Vorschaltbeschwerde zu entscheiden habe.
  54. 5
  55. Gegen den daraufhin ergangenen Verwerfungsbescheid der Generalstaatsanwaltschaft hat der Beschwerdegegner das Oberlandesgericht Frankfurt am Main angerufen. Mit der Begründung, dass die Zurückstellung einer
  56. Strafe bereits in dem Zeitpunkt möglich sei, in dem die nicht zurückstellungsfähige Strafe zu zwei Dritteln verbüßt und ihre weitere Vollstreckung unterbrochen sei, hob das Oberlandesgericht die Vollstreckungsbescheide auf
  57. und verpflichtete die Vollstreckungsbehörde, den Beschwerdegegner unter
  58. Beachtung seiner Rechtsauffassung erneut zu bescheiden. Zugleich hat es
  59. gemäß § 29 EGGVG die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.
  60. II.
  61. 6
  62. Die zulässige Rechtsbeschwerde der Generalstaatsanwaltschaft hat
  63. – entsprechend der Stellungnahme des Generalbundesanwalts – in der Sache Erfolg (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2010 – 5 AR (VS) 22/10, zur
  64. Veröffentlichung in BGHSt bestimmt).
  65. 7
  66. Ein wichtiger Grund, der gemäß § 43 Abs. 4 StVollstrO eine Abweichung von der in Absatz 2 und 3 dieser Vorschrift geregelten Reihenfolge der
  67. Vollstreckung gebietet, liegt nicht vor. Durch die vom Beschwerdegegner begehrte Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge kann eine frühere Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1, 3 BtMG nicht erreicht werden.
  68. Dieser steht entgegen, dass mit der wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in
  69. zwei Fällen ergangenen Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 14. Juni 2005 eine weitere, nicht zurückstellungsfähige
  70. Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist (vgl. § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG). Eine Zurück-
  71. -5-
  72. stellungsentscheidung kommt deshalb erst in Betracht, wenn nach § 454b
  73. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 StPO über die Reststrafenaussetzung aller Strafen entschieden worden ist.
  74. 8
  75. 1. Nach allgemeiner Meinung darf die Strafvollstreckung nicht gemäß
  76. § 35 BtMG zurückgestellt werden, wenn gegen den Verurteilten schon im
  77. Zeitpunkt der Zurückstellungsentscheidung eine weitere Freiheitsstrafe zu
  78. vollstrecken ist, mithin der Widerrufsgrund nach § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG gegeben ist (vgl. BGHSt 33, 94, 95 f.; Körner, BtMG 6. Aufl. §. 35 Rdn. 116
  79. m.w.N.). Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt am
  80. Main im angefochtenen Beschluss (im Ergebnis ebenso OLG Stuttgart
  81. NStZ-RR 2009, 28, 29 f.; Kornprobst in MünchKomm-StGB Nebenstrafrecht I
  82. § 35 BtMG Rdn. 130) stellt dabei die nach § 454b Abs. 2 StPO in ihrer Vollstreckung unterbrochene, nicht gemäß § 35 BtMG zurückstellungsfähige
  83. Strafe eine im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG zu vollstreckende Strafe
  84. dar, die die Zurückstellung der weiteren Strafen gemäß § 35 BtMG hindert (in
  85. diesem Sinne auch OLG München NStZ 2000, 223; KG, Beschluss vom
  86. 3. April 2009 – 4 VAs 3/09; Körner aaO § 35 Rdn. 316).
  87. 9
  88. a)
  89. Nach
  90. der
  91. durch
  92. das
  93. 23. Strafrechtsänderungsgesetz
  94. vom
  95. 13. April 1986 (BGBl I S. 393) eingeführten Vorschrift des § 454b Abs. 2
  96. Satz 1 Nr. 2 StPO ist die Vollstreckung mehrerer nacheinander zu vollstreckender zeitiger Freiheitsstrafen grundsätzlich zum Zweidrittelzeitpunkt zu
  97. unterbrechen. Die Regelung dient dem Zweck, hinsichtlich der Reste aller
  98. Strafen eine einheitliche Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung
  99. zu ermöglichen (vgl. Regierungsentwurf in BTDrucks. 10/2720 S. 15; Bericht
  100. des Rechtsausschusses des Bundestages in BTDrucks. 10/4391 S. 19).
  101. 10
  102. aa) Aufgrund dieser insoweit eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers scheidet zunächst – was im angefochtenen Beschluss auch nicht verkannt wird – die vom Beschwerdegegner vorrangig erstrebte vollständige
  103. -6-
  104. Vorabvollstreckung der nicht zurückstellungsfähigen Strafe nach Änderung
  105. der Vollstreckungsreihenfolge (§ 43 Abs. 4 StVollstrO) zwingend aus.
  106. bb) § 454b Abs. 2 StPO ermöglicht eine Unterbrechung der Vollstre-
  107. 11
  108. ckung zum Zweidrittelzeitpunkt lediglich zum Zweck der Vollstreckung weiterer Freiheitsstrafen. Die Vorschrift schafft hingegen nicht die Grundlage, die
  109. Strafvollstreckung zur Ermöglichung einer Therapie nach Zurückstellung der
  110. Strafvollstreckung nach § 35 BtMG zu unterbrechen. Hätte der Gesetzgeber
  111. die zuletzt genannte Möglichkeit eröffnen wollen, so wäre eine ausdrückliche
  112. Regelung erforderlich gewesen. Denn ein Verurteilter, der sich gemäß § 35
  113. BtMG einer Therapie unterzieht, befindet sich nicht mehr im Strafvollzug.
  114. Dies verdeutlicht der Wortlaut von § 35 Abs. 1 BtMG. Danach wird die Vollstreckung der Strafe „zurückgestellt“, die Strafe mithin gerade nicht vollstreckt. Dementsprechend gehört die Therapiezeit nicht zur Strafvollstreckung im eigentlichen Sinne. Vielmehr ist sie nach § 36 BtMG auf die Strafe
  115. anzurechnen.
  116. 12
  117. b) Die Vollstreckungsunterbrechung nach § 454b Abs. 2 StPO belässt
  118. die jeweils von ihr betroffene Strafe weiterhin im Stadium der Vollstreckung.
  119. Sie ist deshalb eine „zu vollstreckende“ im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2
  120. BtMG.
  121. 13
  122. Die Unterbrechung stellt eine vom Gesetzgeber bei Vorliegen der Voraussetzungen zwingend angeordnete Verfahrensmaßnahme dar, die für
  123. – vorweggenommene (vgl. KG aaO) – prognostische Erwägungen keinen
  124. Raum lässt. Ihr alleiniger Zweck ist es, nach weiterer Vollstreckung mindestens einer Strafe im weiteren Verlauf die einheitliche Entscheidung über die
  125. Aussetzung der Reststrafen zu ermöglichen (vgl. oben lit. a). Das Vollstreckungsstadium dauert demnach hinsichtlich sämtlicher betroffener Strafen
  126. bis zu dieser (einheitlichen) Entscheidung fort. Beendet wird die Vollstreckung erst mit der (positiven) Entscheidung nach § 57 StGB, durch die – unter dem Vorbehalt der Legalbewährung – auf einen Teil der Strafvollstre-
  127. -7-
  128. ckung verzichtet wird (vgl. Stree in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 57
  129. Rdn. 2), oder nach vollständiger Vollstreckung der jeweiligen Strafe.
  130. 14
  131. c) Auch der Normzweck des § 35 Abs. 6 BtMG spricht dafür, die Zurückstellung einer Strafe erst nach der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung einer nicht zurückstellungsfähigen Strafe zu ermöglichen.
  132. 15
  133. § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG will verhindern, dass ein erfolgreich therapierter Verurteilter nach Beendigung der Therapie wieder in den Strafvollzug gelangt, weil dadurch der Behandlungserfolg wieder gefährdet werden könnte
  134. (vgl. Kornprobst aaO § 35 BtMG Rdn. 215). Eine solche Gefahr ist in den
  135. betroffenen Fällen nicht auszuschließen. Dies folgt in erster Linie daraus,
  136. dass für die Prognose im Rahmen der Reststrafenaussetzung nach § 36
  137. Abs. 1 Satz 3 BtMG gegenüber der allgemeinen Regelung nach § 57 Abs. 1
  138. StGB durch die Sucht des Verurteilten bedingte Besonderheiten gelten; namentlich kann das Vorleben des Verurteilten eine geringere Rolle spielen
  139. (vgl. Weber, BtMG 3. Aufl. § 36 Rdn. 58 ff.; Kornprobst aaO § 36 Rdn. 50 ff.;
  140. Körner aaO § 36 Rdn. 62 ff.). Es ist deshalb denkbar, dass die Prognose hinsichtlich der Begehung von Straftaten aufgrund der Betäubungsmittelabhängigkeit im Hinblick auf die erfolgreich durchlaufene Therapie positiv ausfällt,
  141. wohingegen die Legalbewährung des betroffenen (Vielfach-) Täters aufgrund
  142. dessen Neigung, auch unabhängig von seiner Drogensucht Straftaten zu
  143. begehen, negativ zu beurteilen ist. Überdies sind in der Regel verschiedene
  144. Spruchkörper zuständig (bei der Reststrafenaussetzung nach § 57 StGB
  145. gemäß § 462a StPO zumeist die Strafvollstreckungskammer; bei der Reststrafenaussetzung nach § 36 BtMG gemäß § 36 Abs. 5 Satz 1 BtMG das
  146. Gericht des ersten Rechtszuges), so dass auch deswegen divergierende
  147. Entscheidungen zu besorgen sind. Es besteht mithin das nicht nur theoretische Risiko, dass der erfolgreich Therapierte – was § 35 Abs. 6 BtMG gerade verhindern will – erneut in den Strafvollzug gelangt.
  148. -8-
  149. 16
  150. d) Eine analoge Anwendung des § 454b Abs. 2 StPO mit Blick auf die
  151. nach der Zurückstellung erfolgende Therapie (so Schöfberger NStZ 2005,
  152. 441, 442) scheidet aus. Es ermangelt bereits einer erkennbar planwidrigen
  153. Regelungslücke. Aus dem Schweigen des Gesetzgebers kann – bei nachvollziehbaren Ergebnissen – vielmehr auch abgeleitet werden, dass er in
  154. Fallgestaltungen wie der hier zu beurteilenden der Einheitlichkeit der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung den Vorrang einräumt.
  155. 17
  156. 2. Eine weitere Aufklärung entscheidungserheblicher Tatsachen ist
  157. nicht erforderlich. Der Senat entscheidet deshalb gemäß § 74 Abs. 6 Satz 1
  158. FamFG in der Sache selbst.
  159. 18
  160. 3. Die durch das Oberlandesgericht vorgenommene Festsetzung des
  161. Geschäftswerts unterliegt – weil unanfechtbar (§ 30 Abs. 3 Satz 2 KostO) –
  162. nicht der Aufhebung. Der Senat weist jedoch darauf hin, dass sich diese in
  163. Fällen wie dem hier zu beurteilenden regelmäßig am Mindestwert zu orientieren hat (vgl. Kissel/Mayer, GVG 6. Aufl. § 30 EGGVG Rdn. 7; Schoreit in KK
  164. 6. Aufl. § 30 EGGVG Rdn. 7).
  165. Brause
  166. Solin-Stojanović
  167. Jäger
  168. König
  169. Schaal