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10 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 2 StR 19/07
  4. vom
  5. 18. April 2007
  6. in der Strafsache
  7. gegen
  8. 1.
  9. 2.
  10. wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen u. a.
  11. -2-
  12. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführer am 18. April 2007 gemäß § 349 Abs. 2
  13. und 4 StPO beschlossen:
  14. 1. Auf die Revision des Angeklagten P.
  15. S.
  16. wird das Urteil
  17. des Landgerichts Kassel vom 26. Juni 2006 - soweit es ihn betrifft - mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
  18. a) soweit der Angeklagte im Fall II 36 verurteilt wurde und
  19. b) im Gesamtstrafenausspruch.
  20. 2. Auf die Revision der Angeklagten M.
  21. S.
  22. wird das ge-
  23. nannte Urteil - soweit es sie betrifft - mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
  24. 3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel,
  25. an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  26. 4. Das weitergehende Rechtsmittel des Angeklagten P.
  27. wird verworfen.
  28. S.
  29. -3-
  30. Gründe:
  31. Das Landgericht hat den Angeklagten P.
  32. 1
  33. S.
  34. wegen sexuellen
  35. Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 36 Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, zu
  36. der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt und ihn
  37. im Übrigen freigesprochen.
  38. Die Angeklagte M.
  39. 2
  40. S.
  41. hat das Landgericht wegen sexuellen
  42. Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 14 Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe
  43. von einem Jahr und sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.
  44. 3
  45. Die Angeklagten rügen mit ihren Rechtsmitteln die Verletzung materiellen
  46. Rechts, der Angeklagte P.
  47. S.
  48. auch die Verletzung des formellen Rechts.
  49. Die Rechtsmittel haben in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang
  50. Erfolg. Das weitergehende Rechtsmittel des Angeklagten P.
  51. S.
  52. ist unbe-
  53. gründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
  54. 4
  55. 1. Revision des Angeklagten P.
  56. S.
  57. 5
  58. a) Im Fall II 35 hat das Landgericht den Angeklagten wegen sexueller
  59. Nötigung (§ 177 Abs. 1 StGB) in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von
  60. Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB) zu der Einzelfreiheitsstrafe von
  61. acht Monaten verurteilt.
  62. 6
  63. Der Schuldspruch auch wegen des tateinheitlichen Vergehens nach
  64. § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB hält der sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand. Die
  65. durch diese Tat geschädigte Stieftochter Si-Yen ist am 24. Dezember 1985 ge-
  66. -4-
  67. boren, die Tat wurde im Sommer 2002 begangen (UA S. 12). Damit war die
  68. Geschädigte zur Tatzeit älter als 16 Jahre und hatte die Schutzaltersgrenze des
  69. § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB bereits überschritten.
  70. 7
  71. Der Angeklagte hat nach den Feststellungen des Landgerichts aber den
  72. mit einer höheren Schutzaltersgrenze von 18 Jahren versehenen Tatbestand
  73. des § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt, weil zwischen ihm und der Stieftochter ein
  74. Erziehungsverhältnis bestand und er die Tat unter Missbrauch der mit diesem
  75. Erziehungsverhältnis verbundenen Abhängigkeit begangen hat. Der Angeklagte
  76. nahm nach den Feststellungen maßgeblichen Einfluss auf die Erziehung der
  77. Stieftochter. Diese hatte 2001 gegenüber ihrem leiblichen Vater erklärt, sie
  78. werde zu den Übergriffen des Angeklagten gegenüber ihrer jüngeren Schwester
  79. beim Jugendamt oder der Polizei nichts sagen, weil sie fürchtete, dann den
  80. Haushalt ihrer Mutter (und des Angeklagten) wieder verlassen zu müssen (UA
  81. S. 28). Die Geschädigte war mit den sexuellen Handlungen des Angeklagten
  82. - im Gegensatz zu ihrer Schwester (UA S. 36) - nicht einverstanden. Der Angeklagte nutzte die Situation innerhalb der Familienwohnung und die aufgrund
  83. seiner Erziehungsfunktion dominierende Stellung aus, um sexuelle Handlungen
  84. an seiner Stieftochter vorzunehmen. Darüber hinaus wollte er mit ihr den Geschlechtsverkehr vollziehen. Erst die Rückkehr der mitangeklagten Ehefrau hielt
  85. ihn von der Fortsetzung der Tat ab.
  86. 8
  87. Dem Austausch der Tatbestandsvarianten steht § 265 StPO nicht entgegen, weil sich der Angeklagte insoweit auch nach einem rechtlichen Hinweis
  88. nicht erfolgreicher hätte verteidigen können. Der Schuldspruch auch wegen tateinheitlichen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen wird durch den Austausch der Tatbestands-Varianten nicht berührt. Eine ausdrückliche Schuldspruchänderung ist deshalb nicht veranlasst. Auch die vom Landgericht für die
  89. Tat II 35 verhängte Einzelfreiheitsstrafe kann bestehen bleiben. Ein minder
  90. -5-
  91. schwerer Fall der sexuellen Nötigung im Sinne von § 177 Abs. 5 StGB lag fern
  92. und musste daher vom Landgericht nicht ausdrücklich erörtert werden.
  93. 9
  94. b) Die Verurteilung wegen versuchter sexueller Nötigung in Tateinheit mit
  95. sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zum Nachteil der Stieftochter SiYen im Fall II 36 kann jedoch keinen Bestand haben.
  96. 10
  97. Nach den Feststellungen hat der Angeklagte versucht, Si-Yen in der Küche an die Brust zu fassen. Um ihre Gegenwehr zu unterbinden, legte er ihr
  98. einen Koffergurt um den Oberkörper und zog den Gurt zu. Erst nach langer Zeit
  99. gelang es Si-Yen, sich aus der Fesselung zu befreien. Die mitangeklagte Mutter
  100. sah dem Treiben unbeteiligt zu und lachte. Ergänzend führt das Landgericht im
  101. Rahmen der Beweiswürdigung lediglich aus, dass sich für den Angeklagten infolge der Fesselung die Möglichkeit geboten habe sein Vorhaben, seine Stieftochter an der Brust zu berühren, in die Tat umzusetzen (UA S. 31).
  102. 11
  103. Auf der Grundlage dieser Feststellungen lässt sich weder überprüfen, ob
  104. der Angeklagte vom Versuch der sexuellen Nötigung strafbefreiend zurückgetreten ist oder ob ein Rücktritt wegen Vollendung der Tat nicht mehr möglich
  105. war, noch, ob es über die Fesselung hinaus überhaupt zu einer sexuellen Handlung des Angeklagten an seiner Stieftochter gekommen ist. Aus welchen Gründen der Angeklagte von seinem Vorhaben, sexuelle Handlungen an Si-Yen vorzunehmen, abließ, ob freiwillig oder in Anbetracht des drohenden "Ausrastens"
  106. der Geschädigten (UA S. 31), ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht.
  107. 12
  108. Insoweit ist das Urteil daher im Schuld- und Einzelstrafenausspruch aufzuheben. Auch die Gesamtfreiheitsstrafe kann danach nicht bestehen bleiben.
  109. 13
  110. c) Im Umfang der Aufhebung ist die Sache zu neuer Verhandlung und
  111. Entscheidung zurückzuverweisen, weil nicht ausgeschlossen ist, dass in einer
  112. -6-
  113. neuen Hauptverhandlung die bisher fehlenden Feststellungen zu der Tat II 36
  114. getroffen werden können.
  115. 14
  116. 2. Revision der Angeklagten M.
  117. S.
  118. 15
  119. Der Schuldspruch wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen
  120. in den Fällen II 22 bis 34 und 36 hält der sachlich-rechtlichen Prüfung nicht
  121. stand.
  122. In den Fällen II 22 bis 34 hat das Landgericht festgestellt, dass es im
  123. 16
  124. Wohnzimmer der Familienwohnung an Wochenenden zwischen dem Angeklagten P.
  125. S.
  126. und der Stieftochter Angela zu sog. "Familienspielen" kam. Sie
  127. führten dazu, dass sich der Angeklagte P.
  128. S.
  129. und Angela gegen den ge-
  130. spielten Widerstand des anderen gegenseitig ganz oder teilweise auszogen.
  131. Dabei kam es auch dazu, dass sie sich an den Geschlechtsteilen anfassten.
  132. Die anwesende Angeklagte M.
  133. S.
  134. beteiligte sich mindestens zweimal
  135. aktiv an diesen "Familienspielen", blieb im Übrigen aber passiv, ohne gegen
  136. diese Handlungen einzuschreiten. Das Landgericht hat 13 derartige Vorfälle
  137. festgestellt, wobei sich die Angeklagte M.
  138. S.
  139. am ersten und letzten
  140. Vorfall aktiv beteiligt habe (UA S. 10 ff.).
  141. 17
  142. Diese Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen täterschaftlichen
  143. sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 13 Fällen nicht. Der sexuelle
  144. Missbrauch von Schutzbefohlenen ist ein eigenhändiges Delikt, das nur derjenige als Täter verwirklichen kann, der mit dem Tatopfer körperlich in Berührung
  145. kommt (BGHSt 41, 242). Täterschaftliches Handeln durch Unterlassen ist deshalb bei diesem Tatbestand nicht möglich. Weder in den elf Fällen, in denen die
  146. Angeklagte M.
  147. S.
  148. passiv blieb (Fälle II 23 bis 33) noch in den beiden
  149. Fällen (II 22 und 34), in denen sich die Angeklagte aktiv an den Vorfällen beteiligt haben soll, ist aber ein körperlicher Kontakt der Angeklagten mit ihrer Toch-
  150. -7-
  151. ter Angela festgestellt, sodass ein täterschaftlicher Missbrauch nicht hinreichend belegt ist. Sollten sich insoweit auch in der neuen Hauptverhandlung keine konkreten Feststellungen treffen lassen, kommt jedoch eine Strafbarkeit der
  152. Angeklagten wegen Beihilfe zu den Taten des Mitangeklagten P.
  153. S.
  154. in
  155. Betracht (vgl. BGHSt aaO S. 246).
  156. 18
  157. Aus den gleichen Gründen hat auch die Verurteilung der Angeklagten als
  158. Täterin eines sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen zum Nachteil ihrer
  159. Tochter Si-Yen im Fall II 36 keinen Bestand. Auch insoweit ist ein Körperkontakt
  160. der Angeklagten mit ihrer Tochter im Zusammenhang mit dem Tatgeschehen
  161. nicht festgestellt, sodass hier ebenfalls nur eine Beihilfehandlung der Angeklagten zur Haupttat des Mitangeklagten P.
  162. S.
  163. in Betracht kommt, wenn der
  164. neue Tatrichter hierzu keine weiteren Feststellungen treffen kann.
  165. 19
  166. Eine Änderung des Schuldspruchs durch den Senat wäre hier nicht
  167. sachgerecht, weil nicht auszuschließen ist, dass in einer neuen Hauptverhandlung weitere Feststellungen zu den Anklagevorwürfen getroffen werden können.
  168. Zudem steht § 265 StPO entgegen.
  169. 20
  170. Mit der Aufhebung des Schuldspruchs ist der gesamte Strafausspruch
  171. gegenstandlos.
  172. 21
  173. 3. Das Landgericht hat zudem die erhobene Anklage bisher nicht erschöpfend behandelt. Die Staatsanwaltschaft hat in der Hauptverhandlung zwei
  174. Anträge nach § 154 Abs. 2 StPO gestellt. Diese Anträge betrafen beide Angeklagte. Den Akten lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass das Landgericht über diese Anträge entschieden hat. Dies hat bei dem Angeklagten P.
  175. S.
  176. zur Folge, dass unter Berücksichtigung des Schuldspruchs wegen 36 Taten und
  177. des Teilfreispruchs wegen fünf Taten (UA S. 34 bis 36) von den 103 angeklagten Taten noch 62 bei der bisher zuständigen Jugendschutzkammer des Land-
  178. -8-
  179. gerichts anhängig sind. Die Angeklagte M.
  180. S.
  181. ist wegen 41 Taten an-
  182. geklagt worden. Auch insoweit sind nach der Verurteilung wegen 14 Taten noch
  183. 27 Fälle bei der Jugendschutzkammer des Landgerichts anhängig. Die noch
  184. nicht erledigten Anklagevorwürfe können nicht im Revisionsverfahren erledigt
  185. werden, zuständig hierfür ist die bisherige Jugendschutzkammer (vgl. BGHR
  186. StPO § 352 Abs. 1 Prüfungsumfang 4).
  187. Rissing-van Saan
  188. Bode
  189. Roggenbuck
  190. Rothfuß
  191. RiBGH Appl ist wegen
  192. Urlaubs ortsabwesend und
  193. deshalb an der Unterschrift
  194. gehindert.
  195. Rissing-van Saan