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20 KiB

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 533/15
Verkündet am:
22. November 2016
Holmes
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
StVG § 7 Abs. 1
Bei einem berührungslosen Unfall ist Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass es über seine
bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige
Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (Festhaltung, Senatsurteil vom 21. September 2010 - VI ZR 263/09).
BGH, Urteil vom 22. November 2016 - VI ZR 533/15 - OLG Hamm
LG Paderborn
ECLI:DE:BGH:2016:221116UVIZR533.15.0
-2-
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 22. November 2016 durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter
Offenloch und die Richterinnen Dr. Oehler, Dr. Roloff und Müller
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 11. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Hamm vom 7. August 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1
Der Kläger nimmt die Beklagten nach einem Verkehrsunfall auf Schmerzensgeld, Schadensersatz und Feststellung bei einer Haftungsquote von 75 %
in Anspruch.
2
Am 10. April 2011 fuhr der Kläger auf seiner Ducati S 2 auf der B 83 von
Beverungen Richtung Werden, wobei er dem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Motorrad der Beklagten zu 1 folgte. Die Beklagte zu 1 überholte
unter Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn den Pkw des Zeugen B. Der Kläger wollte sowohl die Beklagte zu 1 als auch den Pkw überholen. Er fuhr weiter
außen auf der Gegenfahrbahn und geriet, ohne dass es zu einer Fahrzeugbe-
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rührung gekommen wäre, in das Bankett. Dort verlor er die Kontrolle, stürzte
und verletzte sich schwer.
3
Der Kläger behauptet, er habe die noch hinter dem Pkw des Zeugen B.
fahrende Beklagte zu 1 fast schon überholt gehabt, als diese plötzlich ohne
Schulterblick und Blinksignal nach links ausgeschert sei, und den Kläger zu einem kontinuierlichen Ausweichen nach links gezwungen habe. Die Beklagten
tragen vor, die Beklagte zu 1 habe ordnungsgemäß den Pkw des Zeugen B.
überholt und sei kurz vor dem Einscheren nach rechts von dem Kläger in zweiter Reihe verkehrsordnungswidrig überholt worden. Dabei sei er dem linken
Fahrbahnrand zu nahe gekommen, ohne dass die Fahrweise der Beklagten
zu 1 dazu Veranlassung gegeben habe.
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Das Landgericht hat durch Grund- und Teilurteil die Haftung der Beklagten dem Grunde nach zu 50 % festgestellt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Das Berufungsgericht hat das Urteil auf die Berufung der Beklagten aufgehoben und die Klage insgesamt abgewiesen. Die Anschlussberufung des Klägers hat es zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt
der Kläger seine Ansprüche weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
5
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG, weil sich nicht mit
hinreichender Sicherheit feststellen lasse, dass der ihm entstandene Schaden
dem Betrieb des Motorrads der Beklagten zu 1 zuzurechnen sei. Ein offenes
Beweisergebnis gehe hierbei zu Lasten des Klägers. Er habe nicht den Beweis
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geführt, dass ein Sach- und Personenschaden adäquat kausal "bei dem Betrieb" des Motorrads der Beklagten zu 1 entstanden sei.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei das Haftungsmerkmal "bei dem Betrieb" zwar grundsätzlich weit auszulegen und umfasse
alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe. Ausreichend sei, dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr verwirklicht habe und das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt
worden sei. Erforderlich sei aber stets, dass es sich bei dem Schaden, für den
Ersatz verlangt werde, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handele, hinsichtlich derer der Verkehr schadlos gehalten werden müsse. Die Schadensfolge müsse in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm
erlassen worden sei. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr komme es damit
maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen
Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten
Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs stehe.
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Ausgehend von diesen Grundsätzen könne die Betriebsgefahr des Motorrads der Beklagten zu 1 nicht dem Schadensereignis zugerechnet werden.
Die Zurechnung scheitere zwar nicht schon daran, dass sich die beiden Motorräder nicht berührt hätten. Es lasse sich aber nicht feststellen, dass die Fahrweise der Beklagten zu 1 in einem engen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang auf die Schadensentstehung hingewirkt habe. Allein der Umstand, dass
sich die Beklagte zu 1 wegen ihres eigenen Überholmanövers überhaupt auf
der Gegenfahrbahn aufgehalten habe, habe keine Reaktion des Klägers im
Sinne der angeführten Rechtsprechung ausgelöst.
8
Der Kläger habe nicht den Beweis geführt, dass er nur deshalb auf der
Gegenfahrbahn weiter zum Fahrbahnrand geraten sei, weil er dabei auf eine
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Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung der Beklagten zu 1 reagiert
und neben dem eigentlichen Überholmanöver eine zusätzliche Ausweich- oder
Abwehrreaktion vorgenommen habe. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen
Beweisaufnahme könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Fahrlinie des
Klägers allein auf seinem aktiven Entschluss beruht habe, die bereits im Gegenverkehr befindliche Beklagte zu 1 in einem Bogen zu umfahren, womit das
Motorrad der Beklagten zu 1 ebenso wie das überholte Fahrzeug des Zeugen
B. einfach nur auf der Straße gewesen wären. Die erstinstanzlich vernommenen Zeugen hätten weder die Darstellung des Klägers noch diejenige der Beklagten bestätigt. Sie hätten die beiden Motorräder erst zur Kenntnis genommen, als sie bereits nebeneinander auf Höhe des Fahrzeugs des Zeugen gewesen seien. Die Einleitung des jeweiligen Überholmanövers hätten sie daher
nicht beschreiben können. Der vom Kläger behauptete Unfallhergang sei auch
nicht durch das eingeholte schriftliche Sachverständigengutachten bewiesen.
Die zeitliche Abfolge der Fahrmanöver habe sich mangels aussagekräftiger Unfallspuren nicht näher aufklären lassen, so dass sich zwar der Unfall dargestellt
haben könne wie vom Kläger geschildert, aber die ebenfalls mögliche Unfallvariante der Beklagten nicht ausgeschlossen sei.
II.
9
Das hält den Rügen der Revision im Ergebnis nicht stand.
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1. Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass die
Halterhaftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG und die Haftung des Fahrers aus vermutetem Verschulden gemäß § 7 Abs. 1 i.V.m. § 18 StVG nicht eingreifen, wenn
ein in Betrieb befindliches Kraftfahrzeug lediglich an der Unfallstelle anwesend
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ist, ohne dass es durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung)
zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat.
11
a) Das Haftungsmerkmal "bei dem Betrieb" ist nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der
Vorschrift weit auszulegen. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG umfasst daher
alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe. Es genügt,
dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr ausgewirkt hat und
das Schadensgeschehen in dieser Weise durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt
worden ist. Ob dies der Fall ist, muss mittels einer am Schutzzweck der Haftungsnorm orientierten wertenden Betrachtung beurteilt werden. An diesem
auch im Rahmen der Gefährdungshaftung erforderlichen Zurechnungszusammenhang fehlt es, wenn die Schädigung nicht mehr eine spezifische Auswirkung derjenigen Gefahren ist, für die die Haftungsvorschrift den Verkehr schadlos halten will (Senatsurteil vom 26. April 2005 - VI ZR 168/04, VersR 2005,
992, 993 unter II 1 a mwN).
12
Für eine Zurechnung zur Betriebsgefahr kommt es maßgeblich darauf
an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht. Allerdings hängt die Haftung gemäß § 7
StVG nicht davon ab, ob sich der Führer des im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs verkehrswidrig verhalten hat, und auch nicht davon, dass es zu einer Kollision der Fahrzeuge gekommen ist (Senatsurteil vom 26. April 2005, aaO
mwN).
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Diese weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals "bei dem Betrieb eines
Kraftfahrzeugs" entspricht dem weiten Schutzzweck des § 7 Abs. 1 StVG und
findet darin ihre innere Rechtfertigung. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist
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sozusagen der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kfz - erlaubterweise - eine Gefahrenquelle eröffnet wird, und will daher alle durch den KfzVerkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist demgemäß
bereits dann "bei dem Betrieb" eines Kfz entstanden, wenn sich von einem Kfz
ausgehende Gefahren ausgewirkt haben (Senatsurteil vom 26. April 2005, aaO
mwN).
14
Allerdings reicht die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen
Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle für eine Haftung nicht aus. Insbesondere bei
einem sogenannten "Unfall ohne Berührung" ist daher Voraussetzung für die
Zurechnung des Betriebs des Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis,
dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat (Senatsurteile vom 22. Oktober 1968 - VI ZR 178/67,
VersR 1969, 58; vom 29. Juni 1971 - VI ZR 271/69, VersR 1971, 1060; vom
11. Juli 1972 - VI ZR 86/71, NJW 1972, 1808 unter II 1 c), mithin, dass das
Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu
der Entstehung des Schadens beigetragen hat (Senatsurteile vom 19. April
1988 - VI ZR 96/87, VersR 1988, 641 unter 1 a; vom 21. September 2010
- VI ZR 263/09, VersR 2010, 1614 Rn. 5; Galke, zfs 2011, 2, 5, 63; Laws/Lohmeyer/Vinke in Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR 2016, § 7 StVG Rn. 37;
Schwab, DAR 2011, 11, 13; Bachmeier in Lütkes/Bachmeier/Müller/Rebler,
Straßenverkehr, Stand April 2016, § 7 StVG Rn. 173; Burmann in Burmann/
Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 7 Rn. 13; Eggert
in Ludovisy/Eggert/Burhoff, Praxis des Straßenverkehrsrechts, 6. Auflage, § 2 A
Rn. 77 ff.; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 7
StVG Rn. 10).
-8-
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b) So liegt es - jedenfalls nach den bisher von dem Berufungsgericht getroffenen Feststellungen - hier aber nicht. Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht - anders als das Berufungsgericht in der der Senatsentscheidung
vom 21. September 2010 (VI ZR 263/09, aaO) zugrundeliegenden Fallgestaltung - nicht feststellen können, dass der Unfall - auch nur mittelbar - durch die
Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) des Motorrads der Beklagten
zu 1 verursacht worden ist. Entgegen der Ansicht der Revision genügt dafür der
Umstand, dass die Beklagte zu 1 zeitlich parallel zu dem Unfallgeschehen ein
Überholmanöver vorgenommen hat und der Kläger selbst nach dem Vorbringen
der Beklagten einen Bogen gefahren ist, um in zweiter Reihe zu überholen, allein nicht.
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aa) Jedes im Betrieb befindliche und an der Unfallstelle (lediglich) anwesende Fahrzeug nimmt parallel zu dem Unfallgeschehen ein - wie auch immer
geartetes Fahrmanöver - vor. Aus diesem Grund kann der Unfall immer auch
auf die Verkehrssituation in ihrer Gesamtheit zurückgeführt werden. Hier wäre
der Unfall zwar auch nach dem Vorbringen der Beklagten ohne das Überholmanöver der Beklagten zu 1 nicht geschehen, weil die Fahrlinie des Klägers
dann möglicherweise eine andere gewesen wäre. Das reicht indes für den gemäß § 7 Abs. 1 StVG erforderlichen Zurechnungszusammenhang nicht aus,
weil die Zurechnung von dem Unfallgeschehen selbst nicht gelöst werden kann.
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(1) Es ist im Straßenverkehrsrecht anerkannt, dass maßgeblicher Zeitpunkt für Ursächlichkeit und Zurechnungszusammenhang der Eintritt der konkreten kritischen Verkehrslage ist, die unmittelbar zum Schaden führt. Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm
erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann (Senatsurteile vom 25. März 2003
- VI ZR 161/02, VersR 2003, 783, 784; vom 1. Dezember 2009 - VI ZR 221/08,
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VersR 2010, 642 Rn. 16, 21). Das gilt auch für die Gefährdungshaftung gemäß
§ 7 Abs. 1 StVG (König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42.
Aufl., Einleitung Rn. 101; § 7 StVG Rn. 13; § 17 Rn. 17).
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(2) Nach diesen Grundsätzen war - den Vortrag der Beklagten zugrunde
gelegt - eine kritische Verkehrslage durch den von der Beklagten zu 1 vorgenommenen Überholvorgang (allein) noch nicht eingetreten. Eine kritische Verkehrslage entstand frühestens dann, als der Kläger sich gleichzeitig mit ihr auf
die Gegenfahrbahn begab. Auch dieser Umstand kann der Beklagten zu 1 indes nicht zugerechnet werden. Denn es stellt keine typische Gefahr eines
Überholvorgangs dar, dass rückwärtiger Verkehr diesen seinerseits zum Überholen in zweiter Reihe nutzt und dabei - ohne dass eine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung des Überholenden dazu Anlass gegeben hätte - ins
Schlingern gerät. Allein der Umstand, dass die Beklagte zu 1 überholte, reicht
daher nicht aus, um eine im Rahmen des § 7 Abs. 1 StVG relevante Ursächlichkeit ihrer Fahrweise (oder sonstigen Verkehrsbeeinflussung) für den Unfall
zu bejahen.
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Wäre dies anders, würde letztlich die bloße Anwesenheit eines in Betrieb
befindlichen Kraftfahrzeugs in der Nähe der Unfallstelle für eine Haftung gemäß
§ 7 Abs. 1 StVG genügen. Dies führte zudem zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten, weil nicht nur die das Überholmanöver vornehmende Beklagte
zu 1, sondern auch der Zeuge B. mit seinem Kraftfahrzeug die Verkehrssituation gleichermaßen (mit-)geprägt hat. Auch diesem ist der Kläger - unter Zugrundelegung des Vortrags der Beklagten - durch sein Überholmanöver letztlich
"ausgewichen".
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bb) Insofern liegt es hier nach den (bisherigen) Feststellungen des Berufungsgerichts anders als in den bisher von dem Senat entschiedenen Fällen, in
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denen stets eine Verursachung des Unfalls durch eine wie auch immer geartete
Verkehrsbeeinflussung des gegnerischen Fahrzeugs festgestellt war. So geht
auf einer Bundesautobahn von einem verhältnismäßig sperrigen und langsam
überholenden Fahrzeug oder auch nur einem Fahrverhalten, das als Beginn
des Überholvorgangs oder seine Ankündigung aufgefasst werden kann, eine
typische Gefahr für auf der Überholfahrbahn nachfolgende schnellere Verkehrsteilnehmer aus, die durch eine misslingende Abwehrreaktion zu Schaden kommen (Senatsurteil vom 29. Juni 1971, aaO). Eine typisch mit dem Betrieb eines
Sattelschleppers verbundene Gefahr wirkt sich aus, wenn ein von diesem überholter Fahrer eines Motorfahrrades unsicher wird und deshalb stürzt (Senatsurteil vom 11. Juli 1972 - VI ZR 86/71, aaO unter II 1 c). In zurechenbarer Weise
durch ein Kraftfahrzeug (mit-)veranlasst ist ein Unfall bei seinem Herannahen
an entgegenkommenden Fahrradverkehr, wenn der Verkehrsraum zu eng zu
werden droht und einer der Fahrradfahrer bei einem Ausweichmanöver stürzt
(Senatsurteil vom 19. April 1988 - VI ZR 96/87, aaO unter 1 b). Selbst ein Unfall
infolge einer voreiligen - also objektiv nicht erforderlichen - Abwehr- und Ausweichreaktion ist dem Betrieb des Kraftfahrzeugs zuzurechnen, das diese Reaktion - im Streitfall durch einen kleinen Schlenker aus seiner Fahrspur hinaus ausgelöst hat (Senatsurteil vom 26. April 2005 - VI ZR 168/04, aaO unter II 1 b).
Dagegen rechtfertigt die bloße Anwesenheit eines anderen im Betrieb befindlichen Fahrzeugs an der Unfallstelle für sich allein noch nicht die Annahme, dass
ein in seinem Ablauf ungeklärter Unfall bei dem Betrieb dieses Fahrzeugs entstanden ist (Senatsurteil vom 22. Oktober 1968 - VI ZR 178/67, VersR 1969,
58).
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2. Zu Recht rügt aber die Revision, dass das Berufungsgericht seiner
Entscheidung den von den Beklagten geschilderten Unfallhergang zugrunde
gelegt hat, ohne sich mit den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen ausreichend auseinanderzusetzen, § 286 ZPO.
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a) Die Würdigung der Beweise ist grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO
gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., Senatsurteil vom 16. April 2013
- VI ZR 44/12, NJW 2014, 71 Rn. 13 mwN).
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b) Einen solchen Fehler zeigt die Revisionsbegründung hier im Hinblick
auf die Feststellungen des Berufungsgerichts auf. Das Berufungsgericht hat
seiner Entscheidung den von den Beklagten geschilderten Unfallhergang zugrunde gelegt und gemeint, der insoweit darlegungs- und beweisbelastete (§ 7
Abs. 1 StVG) Kläger habe den von ihm behaupteten Geschehensablauf nicht
beweisen können. Es ist daher davon ausgegangen, dass das Fahrverhalten
des Klägers durch die Beklagte zu 1 in keiner Weise beeinflusst worden sei.
Dabei hat es indes den Prozessstoff und die Beweisergebnisse nicht ausgeschöpft.
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aa) Zwar hatte das Berufungsgericht entgegen der Ansicht der Revision
keinen Anlass, die Zeugen gemäß § 398 Abs. 1 ZPO erneut zu vernehmen (vgl.
BGH, Urteil vom 18. Oktober 2006 - IV ZR 130/05, NJW 2007, 372, 374 mwN;
Voit in Musielak, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 529 Rn. 14 f.). Sowohl das Landgericht
als auch das Berufungsgericht gehen davon aus, dass die Zeugenaussagen für
die maßgebliche Frage, ob der Kläger aufgrund des Fahrverhaltens der Beklagten zu 1 ein Ausweichmanöver durchgeführt hatte, unergiebig sind.
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bb) Das Berufungsgericht hat bei seiner Würdigung aber - wie die Revision zu Recht rügt - eine wesentliche Aussage des Sachverständigen unbeachtet gelassen. Der Sachverständige hat ausgeführt, die Spurenlage lasse ein
Ausweichmanöver des Klägers aus dem linken Randbereich der linken Fahrbahn (Gegenfahrbahn) weiter nach links mit Einleitung einer Notbremsung erkennen. Das Landgericht hatte, ohne dies zu hinterfragen, festgestellt, der Kläger sei durch das Fahrzeug der Beklagten zu 1 zu einem Ausweichmanöver
veranlasst worden.
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Vor diesem Hintergrund durfte das Berufungsgericht nicht ohne ergänzende Beweisaufnahme wie etwa einer Anhörung des Sachverständigen und
gegebenenfalls einer erneuten Anhörung der Parteien in Anwesenheit des
Sachverständigen davon ausgehen, dass der Überholvorgang des Klägers
durch den der Beklagten zu 1 in keiner Weise beeinflusst worden sei (vgl. Senatsurteil vom 21. September 2010 - VI ZR 263/09, aaO Rn. 8). Dies gilt umso
mehr, als die aus der Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserhebliche
Frage des Vorliegens eines Ausweichmanövers in erster Instanz weder für den
Sachverständigen noch für das Gericht von maßgeblicher Bedeutung gewesen
ist.
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III.
27
Das Berufungsurteil kann daher keinen Bestand haben, sondern ist aufzuheben und mangels Entscheidungsreife zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563
Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Galke
Offenloch
Roloff
Oehler
Müller
Vorinstanzen:
LG Paderborn, Entscheidung vom 08.10.2014 - 3 O 60/13 OLG Hamm, Entscheidung vom 07.08.2015 - I-11 U 186/14 -