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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 355/13
Verkündet am:
21. Mai 2014
Kiefer
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
GVG § 198 Abs. 6 Nr. 1; FamFG § 44
Das Anhörungsrügeverfahren (hier: § 44 FamFG) und das vorangegangene
Hauptsacheverfahren stellen ein einheitliches Gerichtsverfahren im Sinne von
§ 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG dar. Die Entschädigungsregelung bei überlanger Verfahrensdauer (§§ 198 ff GVG) ist auf das Anhörungsrügeverfahren unmittelbar
anzuwenden.
BGH, Urteil vom 21. Mai 2014 - III ZR 355/13 - OLG Dresden
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anordnung des schriftlichen
Verfahrens mit einer Schriftsatzfrist bis zum 17. April 2014 durch den Vizepräsidenten Schlick und die Richter Wöstmann, Tombrink, Dr. Remmert und Reiter
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 19. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Dresden vom 24. Juli 2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Der Kläger nimmt das beklagte Land auf Entschädigung für immaterielle
Nachteile wegen überlanger Dauer eines Anhörungsrügeverfahrens nach § 44
FamFG in Anspruch.
2
Der Kläger ist Vater zweier minderjähriger ehelicher Kinder. Nach rechtskräftiger Ehescheidung regelte das Familiengericht durch Beschluss vom
18. Oktober 2010 den Umgang des Klägers mit seinen Kindern und übertrug
das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie das Recht zur Bestimmung des Schulbesuchs auf die Kindesmutter. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Klä-
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gers wies das Oberlandesgericht nach mündlicher Verhandlung mit Beschluss
vom 6. Oktober 2011 zurück. Die Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen
(§ 70 Abs. 2 FamFG). Nach Zugang der schriftlichen Entscheidungsgründe Ende Oktober 2011 erhob der Kläger mit Schriftsatz vom 7. November 2011 "Gehörsrüge nach § 44 FamFG", mit der er sein Beschwerdeziel weiterverfolgte.
Zur Begründung führte er aus, das Beschwerdegericht habe seine Entscheidung "überbeschleunigt" und ihm keine Gelegenheit gegeben, sich angemessen mit dem Ergebnis eines Sachverständigengutachtens auseinanderzusetzen.
3
Der Vorsitzende des zuständigen Familiensenats verfügte am 14. November 2011 die Übersendung der Gehörsrüge an den Prozessbevollmächtigten der Kindesmutter zur Stellungnahme binnen zwei Wochen. Diese lag dem
Senat am 5. Dezember 2011 vor. Nachdem der Kläger mit Schriftsätzen vom
5. und 23. Dezember 2011 eine zügige Entscheidung angemahnt und mit
Schriftsatz vom 25. Mai 2012 die Sachbehandlung durch den Familiensenat als
"skandalös" beanstandet hatte, wies das Oberlandesgericht die Anhörungsrüge
mit Beschluss vom 23. Juli 2012 zurück.
4
Mit seiner Entschädigungsklage hat der Kläger geltend gemacht, das
Beschwerdegericht habe die Entscheidung über seine Gehörsrüge unangemessen verzögert. Der Beklagte schulde deshalb eine monatliche Entschädigung von 150 € (insgesamt 825 €).
5
Das Oberlandesgericht hat die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Der Kläger verfolgt mit der Revision seinen erstinstanzlichen Antrag
weiter.
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Entscheidungsgründe
6
Die zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.
I.
7
Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
8
Dem Kläger stehe wegen der behaupteten unangemessenen Dauer des
Anhörungsrügeverfahrens schon deshalb kein Entschädigungsanspruch zu,
weil der geltend gemachte Anspruch von vornherein nicht in den Anwendungsbereich der § 198 ff GVG falle. Die Anhörungsrüge nach § 44 FamFG sei kein
Gerichtsverfahren im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG. Das Hauptsacheverfahren sei durch den Beschluss des Beschwerdegerichts vom 6. Oktober 2011
rechtskräftig abgeschlossen worden. Da die nachfolgende Anhörungsrüge
lediglich die Möglichkeit einer justizinternen Selbstkorrektur und damit eine
Durchbrechung der Rechtskraft ermöglicht habe, stelle sie auch entschädigungsrechtlich kein eigenständiges Gerichtsverfahren dar. Es komme hinzu,
dass die formalen Anforderungen an die Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs mit dem Ablauf des Anhörungsrügeverfahrens nicht in Einklang zu bringen seien. Nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG müsse die Entschädigungsklage spätestens sechs Monate nach dem rechtskräftigen Abschluss des
Ausgangsverfahrens erhoben werden. Diese Voraussetzung könne nicht erfüllt
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werden, da die Entscheidung über die Anhörungsrüge nicht in Rechtskraft erwachse.
II.
9
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
10
Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts stellen das Anhörungsrügeverfahren nach § 44 FamFG und das vorangegangene Hauptsacheverfahren entschädigungsrechtlich ein einheitliches Gerichtsverfahren dar. Die
Entschädigungsregelung bei überlanger Verfahrensdauer (§§ 198 ff GVG) ist
auf das durch die Gehörsrüge eröffnete Rechtsbehelfsverfahren unmittelbar
anzuwenden.
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1.
§ 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG enthält eine Legaldefinition des Gerichtsverfah-
rens im entschädigungsrechtlichen Sinn. Danach gilt der gesamte Zeitraum von
der Einleitung eines Verfahrens in der ersten Instanz bis zur endgültigen
rechtskräftigen Entscheidung als ein Verfahren (BT-Drucks. 17/3802 S. 22),
wobei das Gesetz von einem an der Hauptsache orientierten Verfahrensbegriff
ausgeht. Gerichtsverfahren ist nicht jeder einzelne Antrag oder jedes Gesuch
im Zusammenhang mit dem verfolgten Rechtsschutzbegehren (Senatsurteile
vom 5. Dezember 2013 - III ZR 73/13, NJW 2014, 789 Rn. 20 und vom
13. März 2014 - III ZR 91/13, BeckRS 2014, 06851 Rn. 23).
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a) Durch die Gehörsrüge nach § 44 FamFG, die darauf abzielt, eine neue
Entscheidung in der Sache herbeizuführen und die Rechtskraft des angegriffenen Beschlusses zu beseitigen, wird kein selbständiges Verfahren eingeleitet.
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Vielmehr ist das Rügeverfahren dem durch den angegriffenen Beschluss zunächst beendeten Verfahren als Annex angegliedert. Es dient ausschließlich
dem Zweck, das vorangegangene Verfahren auf den behaupteten Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu prüfen und führt bei begründeter Rüge zur Fortführung des ursprünglichen Verfahrens. Die Anhörungsrüge ist kein Rechtsmittel.
Sie weist weder einen Suspensiv- noch einen Devolutiveffekt auf (Keidel/MeyerHolz, FamFG, 18. Aufl., § 44 Rn. 41, 58, 62; siehe auch Musielak, ZPO,
11. Aufl., § 321a Rn. 2; Zöller/Vollkommer, ZPO, 30. Aufl., § 321a Rn. 2, 15 ff).
Das Anhörungsrügeverfahren ist nach alledem kein selbständiges Verfahren.
Es wird dem Hauptsacheverfahren hinzugerechnet und ist somit Teil eines einheitlichen Gerichtsverfahrens im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG. Kommt es
(erstmals) im Anhörungsrügeverfahren zu einer sachlich nicht mehr gerechtfertigten Verzögerung, entsteht kein isolierter Entschädigungsanspruch (anders
Guckelberger, DÖV 2012, 289, 294; Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rn. 54). Vielmehr muss
die Bearbeitungsdauer für die Gehörsrüge in die abschließende Betrachtung
der Gesamtverfahrensdauer einbezogen werden. Denn Verzögerungen, die in
einem Stadium des Verfahrens oder bei einzelnen Verfahrensabschnitten eingetreten sind, bewirken nicht zwingend die Unangemessenheit der Verfahrensdauer. Erforderlich ist vielmehr eine abschließende Gesamtabwägung (siehe
Senatsurteile vom 14. November 2013 - III ZR 376/12, NJW 2014, 220 Rn. 28
ff; vom 5. Dezember 2013 - III ZR 73/13 aaO Rn. 40 ff; vom 23. Januar 2014
- III ZR 37/13, NJW 2014, 939 Rn. 36 ff; vom 13. Februar 2014 - III ZR 311/13,
NJW 2014, 1183 Rn. 26 ff und vom 13. März 2014 - III ZR 91/13 aaO Rn. 31 ff
zu den maßgeblichen Abwägungskriterien).
13
b) Nach diesem Maßstab hätte das Oberlandesgericht die Anwendbarkeit der §§ 198 ff GVG auf die streitgegenständliche Gehörsrüge nicht ablehnen
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dürfen. Das familiengerichtliche Sorge- und Umgangsrechtsverfahren wurde
durch unanfechtbaren Beschluss des Beschwerdegerichts (zunächst) rechtskräftig abgeschlossen (§ 70 Abs. 1, 2 FamFG). Die daraufhin vom Kläger erhobene Anhörungsrüge zielte darauf ab, das Ursprungsverfahren unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 44
Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 5 FamFG fortzuführen und die Rechtskraft des Beschlusses vom 6. Oktober 2011 zu durchbrechen (vgl. Keidel/Meyer-Holz aaO
§ 44 Rn. 1, 53 ff, 62 f). Erst durch die Zurückweisung der Gehörsrüge mit Beschluss des Beschwerdegerichts vom 23. Juli 2012 wurde das Hauptsacheverfahren im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG endgültig rechtskräftig abgeschlossen (§ 44 Abs. 4 Satz 3 FamFG). Das Oberlandesgericht hätte daher die
Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs nach § 198 GVG mit Blick
auf die Gesamtverfahrensdauer prüfen müssen.
14
2.
Für dieses Ergebnis spricht auch der Zweck der neuen Entschädigungs-
regelung. Durch die Einräumung eines Entschädigungsanspruchs gegen den
Staat bei überlanger Verfahrensdauer soll eine nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestehende Rechtsschutzlücke
geschlossen und eine Regelung geschaffen werden, die sowohl den Anforderungen des Grundgesetzes (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG) als auch denen
der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 6
Abs. 1, Art. 13 EMRK) gerecht wird (Senatsurteil vom 10. April 2014 - III ZR
335/13; BeckRS 2014, 08780 Rn. 25; siehe auch BT-Drucks. 17/3802 S. 1, 15).
Dementsprechend erfasst die Entschädigungsregelung sämtliche Verfahren der
ordentlichen Gerichtsbarkeit (Zivilverfahren, freiwillige Gerichtsbarkeit und
Strafverfahren einschließlich Bußgeldverfahren) und auf Grund entsprechender
Anwendung auch alle Verfahren der Fachgerichtsbarkeiten (BT-Drucks.
17/3802 S. 22). Mit diesem umfassenden Gesetzeszweck wäre es schlechthin
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unvereinbar, Anhörungsrügeverfahren von vornherein nicht als Gerichtsverfahren im Sinne § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG anzusehen (anders Vielmeier, NJW 2013,
346, 349, 350). Denn die Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, kann allein schon dadurch verletzt
werden, dass über eine singuläre Rechtsfrage, nämlich die Verletzung des
rechtlichen Gehörs, in einem besonderen gesetzlichen Rechtsbehelfsverfahren
verzögert entschieden wird und deshalb eine etwaige Rechtskraftdurchbrechung in der Schwebe bleibt.
15
3.
Soweit § 198 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 GVG Mindestfristen enthalten,
sind diese mit dem Ablauf eines Anhörungsrügeverfahrens ohne weiteres vereinbar.
16
a) Auch in diesem Fall gilt, dass die Verzögerungsrüge frühestens erhoben werden kann, wenn Anlass zu der Besorgnis besteht, dass über die Gehörsrüge nicht in angemessener Zeit entschieden wird. Maßgeblich ist, wann
ein Betroffener erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Anhörungsrügeverfahren als solches keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt (Ott aaO § 198
GVG Rn. 190). Es genügt grundsätzlich, dass die Verzögerungsrüge nach diesem Zeitpunkt im laufenden Anhörungsrügeverfahren erhoben wird (Senatsurteil vom 10. April 2014 - III ZR 335/13, BeckRS 2014, 08780 Rn. 31). Im vorangegangenen Verfahren bereits eingetretene Verzögerungen können allerdings
durch eine erstmals im Rügeverfahren erhobene Verzögerungsrüge nicht mehr
geltend gemacht werden. Dies folgt schon daraus, dass Gegenstand des Anhörungsrügeverfahrens allein die behauptete Gehörsverletzung ist und für das
Gericht keine Möglichkeit mehr besteht, das bereits beendete Hauptsacheverfahren noch zu beschleunigen (vgl. Ott aaO § 198 GVG Rn. 173 f, 191; Schenke, NVwZ 2012, 257, 261).
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b) Nach § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG kann der Entschädigungsanspruch
frühestens sechs Monate nach wirksamer Erhebung der Verzögerungsrüge gerichtlich geltend gemacht werden. Der Sinn dieser Wartefrist besteht darin, dem
Gericht die Möglichkeit einzuräumen, auf eine Beschleunigung des Verfahrens
hinzuwirken
und
dadurch
(weiteren)
Schaden
zu
vermeiden
(BT-
Drucks. 17/3802 S. 22; Ott aaO § 198 GVG Rn. 245; Schenke aaO S. 263). Aus
diesem Schutzzweck des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG folgt, dass eine Klage ausnahmsweise vor Fristablauf erhoben werden kann, wenn das betroffene Verfahren - was bei Anhörungsrügen regelmäßig der Fall sein wird - schon vor Fristablauf beendet wurde (s. auch Vielmeier aaO S. 348 mit Angaben zur durchschnittlichen Bearbeitungsdauer von Anhörungsrügen). Ein Abwarten der Frist
würde insofern keinen Sinn mehr machen. In diesen Fällen ist die Fristenregelung des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG teleologisch dahin einzuschränken, dass
dann, wenn das als verspätet gerügte Verfahren schon vor Ablauf der SechsMonats-Frist abgeschlossen wurde, bereits vom Moment des Verfahrensabschlusses an eine Entschädigungsklage zulässig ist (Ott aaO § 198 GVG
Rn. 246; Schenke aaO).
18
c) § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG normiert eine Klagefrist von sechs Monaten
für die Geltendmachung des Anspruchs auf Entschädigung. Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts hängt der Fristbeginn nicht davon ab, dass das
Ausgangsverfahren rechtskräftig beziehungsweise mit einer der Rechtskraft
fähigen Entscheidung beendet wird. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut
beginnt die Frist entweder mit der Rechtskraft der Entscheidung im Ausgangsverfahren oder "mit einer anderen Erledigung dieses Verfahrens". Dies bedeutet, dass im vorliegenden Fall die sechsmonatige Klagefrist mit der Bekanntgabe des Zurückweisungsbeschlusses vom 23. Juli 2012 in Gang gesetzt wurde.
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III.
19
Nach alledem ist das angefochtene Urteil aufzuheben (§ 562 Abs. 1
ZPO) und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist
(§ 563 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ZPO). Das Oberlandesgericht wird nunmehr
erstmals zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1, 2 GVG vorliegen.
Schlick
Wöstmann
Remmert
Tombrink
Reiter
Vorinstanz:
OLG Dresden, Entscheidung vom 24.07.2013 - 19 SchH 16/12 EntV -