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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 1 StR 476/05
  5. vom
  6. 23. März 2006
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
  10. -2-
  11. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
  12. 21. März 2006 in der Sitzung am 23. März 2006, an denen teilgenommen haben:
  13. Richter am Bundesgerichtshof
  14. Dr. Wahl
  15. als Vorsitzender
  16. und die Richter am Bundesgerichtshof
  17. Dr. Boetticher,
  18. Schluckebier,
  19. Dr. Kolz,
  20. Hebenstreit,
  21. Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
  22. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  23. Rechtsanwalt
  24. als Verteidiger,
  25. Justizangestellte
  26. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  27. für Recht erkannt:
  28. -3-
  29. Auf die Revision des Betroffenen wird das Urteil des Landgerichts
  30. Passau vom 10. Juni 2005 mit den zugehörigen Feststellungen
  31. aufgehoben.
  32. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
  33. über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
  34. des Landgerichts zurückverwiesen.
  35. Von Rechts wegen
  36. Gründe:
  37. 1
  38. Das Landgericht hat gegen den Betroffenen die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet und ihn sogleich in die Unterbringung in einem
  39. psychiatrischen Krankenhaus überwiesen. Hiergegen richtet sich die Revision
  40. des Betroffenen, die die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel
  41. hat Erfolg.
  42. I.
  43. 2
  44. 1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
  45. 3
  46. Der im Jahr 1934 geborene Betroffene erlitt 1955 bei einem Motorradunfall eine Schädelbasisfraktur, in deren Folge es bei ihm zu einer organischen
  47. Persönlichkeitsstörung kam. Ein schon damals festgestellter frontaler Hirnsubstanzdefekt führte zu einem fortschreitenden Persönlichkeitsabbau. 1994 wurde
  48. -4-
  49. er wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe verurteilt, im
  50. selben Jahr auch wegen dreier Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er hatte ein Kind jeweils auf den Arm genommen, ihm
  51. unter dem T-Shirt an die Brust und über der Kleidung an die Scheide gefasst
  52. und ihm schließlich Zungenküsse gegeben. Eine erhebliche Verminderung der
  53. Schuldfähigkeit zur Tatzeit konnte nicht ausgeschlossen werden. Nach Verlängerung der Bewährungszeit wurde die Freiheitsstrafe Ende 1997 erlassen.
  54. 4
  55. Das Landgericht Passau verurteilte den Betroffenen schließlich am
  56. 16. März 1999 wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten (Einzelstrafen jeweils zwei Jahre und
  57. neun Monate Freiheitsstrafe; sog. Anlassverurteilung in dieser Sache). Er hatte
  58. im Sommer 1986 von der damals 12-jährigen Tochter einer Frau, deren Liebhaber er war, den Geschlechtsverkehr erzwungen, indem er dem Kind drohte,
  59. sonst seine Schwester "zu gebrauchen". Da sich das Mädchen nicht einschüchtern ließ und sich wehrte, packte er es, riss ihm die Hose herunter und warf es
  60. auf eine Couch. Er drückte es an den Schultern nieder und führte den ungeschützten Verkehr bis zum Samenerguss durch. Zwei Wochen nach diesem
  61. Vorkommnis wiederholte sich der Vorgang. Wegen zweier ähnlich liegender
  62. Taten zum Nachteil der Schwester des Opfers stellte das Landgericht das Verfahren wegen Verjährung ein.
  63. 5
  64. Der Betroffene verbüßte die verhängte Freiheitsstrafe vollständig. Für die
  65. Zeit nach der Vollstreckung der Strafe ordnete das Landgericht Bayreuth mit
  66. Beschluss vom 6. Februar 2002 für die Dauer von fünf Jahren Führungsaufsicht
  67. an und brachte den Betroffenen darüber hinaus mit Beschluss vom 10. April
  68. 2002 nach dem Bayerischen Gesetz zur Unterbringung besonders rückfallgefährdeter hochgefährlicher Straftäter (BayStrUBG) unbefristet in einer Justiz-
  69. -5-
  70. vollzugsanstalt unter. Mit Beschluss vom 16. Dezember 2003 wurde der Vollzug
  71. dieser Anordnung für die Dauer eines Jahres ausgesetzt und dem Betroffenen
  72. auferlegt, in einem Seniorenhaus Aufenthalt zu nehmen. Da es dort im Januar
  73. und Februar 2004 zu sexuellen Übergriffen auf demente Mitbewohnerinnen
  74. kam, widerrief die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 26. März
  75. 2004 die Aussetzung. Der Betroffene wurde wieder in den Unterbringungsvollzug genommen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht den Bundesländern
  76. mit Urteil vom 10. Februar 2004 die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass
  77. landesrechtlicher sicherungsverwahrender Vorschriften aus verfassungsrechtlichen Gründen abgesprochen und die Geltung solcher Bestimmungen bis zum
  78. 30. September 2004 befristet hatte (BVerfGE 109, 190), überwies die Strafvollstreckungskammer den Betroffenen nach § 67a Abs. 2 StGB in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Dort befindet er sich seither, mittlerweile aufgrund Unterbringungsbeschlusses nach § 275a Abs. 5 StPO.
  79. 6
  80. 2. Unter der Zwischenüberschrift "Neuere Entwicklung des Betroffenen"
  81. hat die Strafkammer sodann weiter festgestellt:
  82. 7
  83. Der Betroffene unterzog sich während des Strafvollzugs nach seiner
  84. Verurteilung im Jahr 1999 wegen der beiden 1986 begangenen Vergewaltigungstaten keinerlei psychotherapeutischen Maßnahmen. Eine Sexualtherapie
  85. lehnte er stets ab. Ebenso stritt er auch in der Haft die Taten ab und entzog
  86. somit möglichen therapeutischen Maßnahmen jegliche Grundlage. Aufgrund
  87. bestehender Störungen im kognitiven Bereich und im Hinblick auf die während
  88. der Haftzeit fortgeschrittene hirnorganische Persönlichkeitsstörung vermag er
  89. die Grenzen zu sexuell deviantem Verhalten nicht zu erkennen und nicht zu
  90. reflektieren.
  91. -6-
  92. 8
  93. Dies führte dazu, dass er sich während seines Aufenthalts in dem Seniorenhaus wiederholt an Mitbewohnerinnen heranmachte, diese an Orte verbrachte, welche vom Pflegepersonal nicht beobachtet wurden, dort deren Unterkörper entkleidete und ihnen die Windelhose öffnete oder die Unterhose auszog, um sich daran sexuell zu ergötzen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Vorfälle:
  94. 9
  95. - Am 14. Januar 2004 fand eine Pflegekraft die an ausgeprägter Demenzerkrankung leidende Heimbewohnerin
  96. B.
  97. im Zimmer des Be-
  98. troffenen mit völlig entkleidetem Unterkörper vor, während sich der Betroffene
  99. im Badezimmer aufhielt und gerade dabei war seine Hose hochzuziehen.
  100. 10
  101. - Am 2. Februar 2004 öffnete der Betroffene im Zimmer der ausgeprägt
  102. demenzkranken
  103. Bä. deren Windelhose und fasste sie am Intimbe-
  104. reich an. Dabei wurde er von einer Pflegerin angetroffen, die "ihn schimpfte"
  105. und fortschickte.
  106. 11
  107. - Am 14. Februar 2004 kam eine Pflegekraft hinzu, als er Frau Bä. eine
  108. "doppelte Windelhose" machte, indem er ihr die Unterhose auszog und über der
  109. Windel eine grüne Windel anzog.
  110. 12
  111. - An einem weiteren nicht näher bestimmbaren Tag im Januar oder Februar 2004 traf eine Pflegekraft den Betroffenen dabei an, wie er Frau Bä. auf
  112. dem Gang vor den Zimmern von oben in das T-Shirt langte und an ihrer Brust
  113. manipulierte.
  114. 13
  115. 3. Bei seiner Gesamtwürdigung hat das Landgericht angenommen, dass
  116. vom Betroffenen eine erhebliche Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung Anderer ausgehe. Krankheitsbedingt sei bei ihm keine Reflektionsfähigkeit mehr
  117. vorhanden. Aufgrund seiner organischen Persönlichkeitsstörung sei er nicht
  118. -7-
  119. mehr in der Lage, im Sexualbereich Grenzen zu erkennen. Wegen seiner erstmals in der Haft aufgetretenen Erektionsstörungen sei auch nach Auffassung
  120. der beiden gehörten Sachverständigen erfahrungsgemäß mit der Zuwendung
  121. zu immer jüngeren Kindern als Ersatzobjekten zu rechnen, von denen kein unüberwindbarer Widerstand zu erwarten sei, ebenso aber auch mit Ersatzhandlungen und impulsiven Übersprungshandlungen. Diese Entwicklung des Betroffenen spiegele sich in seinen Taten im Seniorenheim wider, wo er sich zwar
  122. nicht mehr an Kindern, aber doch an widerstandsunfähigen Personen vergangen habe. Bei ihm liege eine sexuelle Störung mit Steigerung der sexuellen Appetenz vor. Auch wenn man Handlungen wie beispielsweise das "Begrabschen"
  123. nicht als erheblich einstufen wolle, so gehe vom Betroffenen gleichwohl eine
  124. erhebliche Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung Anderer aus. Angesichts
  125. der kognitiven Defizite und der mangelnden Reflektionsfähigkeit des Betroffenen bestehe situationsbedingt immer die konkrete Gefahr, dass sich
  126. - ausgehend von den Reaktionen des Opfers - auch gravierende Straftaten entwickeln könnten.
  127. 14
  128. 4. Das Landgericht geht bei seiner rechtlichen Würdigung vom Vorliegen
  129. der Voraussetzungen für die nachträgliche Sicherungsverwahrung aus und
  130. knüpft an die Verurteilung durch das Landgericht Passau vom 16. März 1999
  131. wegen Vergewaltigung in zwei Fällen an (§ 66b Abs. 1 StGB). Der Hang des
  132. Betroffenen, erhebliche Straftaten zu begehen, werde durch die Vorstrafen wegen der Vergewaltigung junger Mädchen belegt. Dieser Hang habe weder während der Haft noch wegen des fortgeschrittenen Alters des Betroffenen ein Ende gefunden. Aufgrund der organischen Persönlichkeitsstörung wirke sich das
  133. zunehmende Alter vielmehr sogar gefahrerhöhend aus.
  134. 15
  135. Vor Ende der Haftzeit seien Tatsachen erkennbar geworden, die auf eine
  136. erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit hinwiesen. Er
  137. -8-
  138. habe während der Haftzeit jegliche Sexualtherapie verweigert und sei nicht therapiefähig, weil er die begangenen Taten immer geleugnet habe. Krankheitsbedingt fehle ihm die Reflektionsfähigkeit über ein mögliches sexualdeviantes
  139. Verhalten. Das beruhe auf der organischen Persönlichkeitsstörung als Nachwirkung eines unfallbedingten Hirnsubstanzdefekts, der zu einem fortschreitenden
  140. Persönlichkeitsabbau führe. Bei den genannten Gesichtspunkten handele es
  141. sich "allesamt um Umstände, die erst in der Haft aufgetreten bzw. - wie der
  142. hirnorganische Abbau - fortgeschritten" seien. Die Vorfälle im Seniorenheim
  143. belegten die geschilderten Tatsachen bezüglich der Entwicklung des Betroffenen, deren Ursachen und Fortschritt erst in der Haft erkennbar geworden seien.
  144. 16
  145. 5. Die mit dem Urteil ausgesprochene Überweisung des Betroffenen in
  146. die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus begründet die Strafkammer damit, dass diese von beiden Sachverständigen ausdrücklich empfohlen worden sei. Die organische Persönlichkeitsstörung des Betroffenen und die
  147. Auffälligkeiten unterstrichen das Erfordernis einer hochqualifizierten therapeutischen und pflegerischen Betreuung. Dort könne auch erprobt werden, ob durch
  148. eine etwaige medikamentöse Intervention die Verhaltensauffälligkeiten gebessert werden könnten. Deshalb halte auch die Kammer die Unterbringung des
  149. Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus für sachgemäß. Dafür biete
  150. das Gesetz aber gegenwärtig keine ausdrückliche Möglichkeit. Zwar sei parallel
  151. zum gegenständlichen Verfahren betreffend die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung ein objektives Sicherungsverfahren nach den §§ 413 ff.
  152. StPO beim Landgericht Hof anhängig. Dessen Gegenstand sei der sexuelle
  153. Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person, nämlich der demenzkranken
  154. Frau Bä. (Manipulation an der Brust; vgl. oben, vierter Vorfall). Der Ausgang
  155. jenes Verfahrens sei für die Kammer jedoch nicht absehbar und nicht beeinflussbar. Die unmittelbare Anwendung des § 67a Abs. 2 StGB sei nicht möglich.
  156. Der Fall zeige jedoch, dass hier ein Bedürfnis für eine gleichzeitige resozialisie-
  157. -9-
  158. rungsfördernde Überweisung in die Unterbringung in einem psychiatrischen
  159. Krankenhaus bestehe, obgleich die Anordnungsvoraussetzungen für diese
  160. Maßnahme (§ 63 StGB) nicht vorlägen.
  161. II.
  162. 17
  163. Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Es läßt besorgen, das Landgericht könne Umstände als "neue Tatsachen" im Sinne der
  164. gesetzlichen Voraussetzungen für die nachträgliche Sicherungsverwahrung
  165. (§ 66b Abs. 1 StGB) behandelt haben, die von Rechts wegen nicht berücksichtigungsfähig sind oder bei denen dies nach den Urteilsgründen zumindest zweifelhaft ist und unklar bleibt. Das erweist sich als Darlegungs- und Erörterungsmangel, der zur Aufhebung des Urteils führt.
  166. 18
  167. 1. Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt voraus, dass vor Ende des Vollzuges der Freiheitsstrafe aus
  168. der Anlassverurteilung Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche
  169. Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit hinweisen (§ 66b Abs. 1
  170. StGB). "Neue Tatsachen" im Sinne des § 66b StGB sind nur solche, die nach
  171. der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz (Anlassverurteilung) und vor
  172. Ende des Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar
  173. geworden sind (vgl. BGH NJW 2005, 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562; NJW
  174. 2006, 531, 535). Aber auch Umstände, die für einen sorgfältigen Tatrichter bei
  175. der Anlassverurteilung erkennbar oder aufklärungsbedürftig waren, sind nicht
  176. neu im Sinne des § 66b StGB (BGH NStZ 2006, 155, 156). Darüber hinaus
  177. müssen die neuen Tatsachen eine "gewisse Erheblichkeitsschwelle" überschreiten (vgl. Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 12). Sie müssen
  178. schon für sich Gewicht haben und ungeachtet der notwendigen Gesamtwürdi-
  179. - 10 -
  180. gung aller Umstände auf eine erhebliche Gefahr der Beeinträchtigung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Anderer durch den Betroffenen hindeuten (BGH NJW 2006, 531,
  181. 535).
  182. 19
  183. 2. Die vom Landgericht angeführte "neuere Entwicklung" des Betroffenen
  184. weist Tatsachen aus, die die Unterbringung in der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht oder jedenfalls nicht ohne Weiteres zu rechtfertigen vermögen.
  185. 20
  186. Die Strafkammer hat in einem eigenständigen Abschnitt der Urteilsgründe die "neuere Entwicklung" des Betroffenen dargestellt. Dabei hat sie seine
  187. fehlende Therapiebereitschaft und sein Bestreiten der Anlasstaten auch in der
  188. Strafhaft, den fortschreitenden hirnorganischen Abbau sowie die sexualbezogenen Verhaltensweisen im Umgang mit demenzkranken pflegebedürftigen
  189. Frauen während seines Aufenthaltes in einem Seniorenheim angeführt. Diese
  190. Gesichtspunkte hat sie auch in der abschließenden rechtlichen Bewertung aufgegriffen, aber nicht verdeutlicht, ob sie in bestimmten Umständen etwa keine
  191. neuen Tatsachen gesehen und diese lediglich bei der Gesamtwürdigung und
  192. Prognose herangezogen hat. Der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe
  193. spricht eher dafür, dass sie in allen Umständen, die sie unter der "neueren Entwicklung" des Betroffenen aufgeführt hat, neue Tatsachen im Sinne des § 66b
  194. StGB gesehen hat. Insoweit gilt:
  195. 21
  196. a) Die sexualbezogenen Vorfälle im Seniorenheim haben hier als "neue
  197. Tatsachen" von vornherein außer Betracht zu bleiben, weil sie sich nicht während des Vollzuges der Freiheitsstrafe ereignet haben. Vielmehr befand sich der
  198. Betroffene in dem in Rede stehenden Zeitraum in einer nachträglichen landes-
  199. - 11 -
  200. rechtlichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die ausgesetzt war.
  201. Für diese sog. Übergangsfälle hat der Gesetzgeber nochmals ausdrücklich das
  202. bestätigt, was sich bereits aus dem Wortlaut des § 66b Abs. 1 StGB ergibt: Umstände aus der landesrechtlichen Unterbringung (nach BayStrUBG) sind keine
  203. neuen Tatsachen im Sinne des § 66b StGB (Art. 1a Satz 2 EGStGB; so auch
  204. die Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 20). Sie können allenfalls bei
  205. der anzustellenden Gefährlichkeitsprognose mit berücksichtigt werden (vgl. Gesetzesbegründung aaO).
  206. b) Hinsichtlich der danach verbleibenden Umstände, die als "neue Tat-
  207. 22
  208. sachen" im Sinne des Gesetzes nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich berücksichtigungsfähig sind, lässt sich den Urteilsgründen nicht eindeutig entnehmen, ob sie bereits für den früheren Tatrichter erkennbar oder ihm sogar bekannt waren. Die Strafkammer hat sich damit nicht in
  209. nachprüfbarer Weise auseinandergesetzt. In den Urteilsgründen klingt jedoch
  210. an, dass der Betroffene die Anlasstaten auch schon im Erkenntnisverfahren
  211. bestritten hat. Dies ist dem Senat auch aufgrund seiner Befassung mit der seinerzeitigen Revision des Betroffenen gegen das Urteil des Landgerichts Passau
  212. vom 16. März 1999 bekannt (1 StR 547/99). Damit liegt nahe, dass auch in der
  213. Therapieverweigerung des Betroffenen keine neue Tatsache gesehen werden
  214. kann; das wäre nur dann der Fall, wenn das Ursprungsgericht zum Zeitpunkt
  215. der Verurteilung davon hätte ausgehen können, der Betroffene werde sich im
  216. Strafvollzug einer Erfolg versprechenden Therapie unterziehen (BGH, Beschluss vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 = NStZ 2006, 155; Beschluss
  217. vom 19. Januar 2006 - 4 StR 393/05 - Umdruck S. 12; vgl. zur eingeschränkten
  218. Bedeutung fehlender Therapiebereitschaft weiter BVerfGE 109, 190, 241; BGH
  219. NJW 2005, 2022, 2024; Bericht des Rechtsausschusses BTDrucks. 15/3346,
  220. S. 17).
  221. - 12 -
  222. 23
  223. c) Ähnlich liegt es für den vom Landgericht festgestellten frontalen
  224. Hirnsubstanzdefekt, der sich in der Folge eines schweren Motorradunfalls
  225. entwickelt hat, den der Betroffene bereits im Jahr 1955 erlitt. Schon in früherer
  226. Zeit war bei ihm ersichtlich in dessen Folge bei strafbaren Handlungen eine
  227. erheblich verminderte Schuldfähigkeit nicht auszuschließen. Das Landgericht
  228. hätte sich deshalb damit auseinandersetzen müssen, ob und inwieweit es sich
  229. bei dieser Entwicklung um eine schon für den Tatrichter der Anlasstat
  230. erkennbare neue Tatsache gehandelt hat und, wenn ja, ob gegebenenfalls
  231. allein das Fortschreiten des Hirnsubstanzdefekts als einzig verbleibende neue
  232. Tatsache die Unterbringung in der nachträglichen Sicherungsverwahrung
  233. rechtfertigen könnte (vgl. für
  234. einen erstmals festgestellten frontal betonten
  235. Hirnsubstanzdefekt als "neue Tatsache" BGH, Beschluss vom 9. November
  236. 2005 - 4 StR 483/05 - Umdruck S. 6 = NStZ 2006, 155, 156). Das
  237. Revisionsgericht vermag diese Bewertung, die tatrichterliche Aufgabe ist,
  238. grundsätzlich nicht zu ersetzen.
  239. 24
  240. 3. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung kann mithin
  241. keinen Bestand haben. Schon deshalb entfällt auch die zugleich ausgesprochene Überweisung des Betroffenen in den Vollzug der Maßregel nach § 63
  242. StGB. Diese rechtliche Bewertung entspricht insoweit auch dem vom Generalbundesanwalt in der Revisionshauptverhandlung gestellten Antrag, der von seiner Antragsschrift abweicht.
  243. III.
  244. 25
  245. Der Senat sieht im Blick auf die erforderliche Neuverhandlung der Sache
  246. Anlass zu den nachfolgenden Hinweisen:
  247. - 13 -
  248. 26
  249. 1. Das Landgericht, dem die durch den Bundesgerichtshof herausgebildeten Maßstäbe zur Auslegung des § 66b StGB zum Zeitpunkt seiner Entscheidung noch nicht bekannt sein konnten, wird nunmehr zu prüfen haben, ob
  250. neue, erstmals in der Strafhaft des Betroffenen hervorgetretene erhebliche Tatsachen feststellbar sind, die bei Aburteilung der Anlasstaten nicht erkennbar
  251. waren. Auf dieser Grundlage wird die Frage eines Hanges des Betroffenen zur
  252. Begehung von Sexualstraftaten und seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit
  253. im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB erneut zu beurteilen sein. Bei der Gefährlichkeitsprognose allerdings kann seine gesamte Entwicklung in den Blick genommen werden (vgl. Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 20). Im Einzelnen wird das Landgericht auch Folgendes zu bedenken haben:
  254. 27
  255. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist die schwerste Unrechtsfolge, die zum Strafrecht im weiteren Sinne gehört (BVerfGE 109, 190, 211 ff.;
  256. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2006 - 5 StR 585/05 - Umdruck S. 7). Sie ist
  257. als letztes Mittel in seltenen Fällen für extrem gefährliche Täterpersönlichkeiten
  258. gerechtfertigt (BVerfGE 109, 190, 242). Ihre Anwendung ist nach dem Willen
  259. des Gesetzgebers restriktiv zu handhaben (Gesetzesbegründung, aaO, S. 10,
  260. 12 f.; BVerfGE aaO, S. 236; BGH aaO, S. 8 m.w.N.). Daran hat sich die Auslegung der Vorschrift zu orientieren.
  261. 28
  262. Die neue Strafkammer wird weiter im Auge zu behalten haben, dass
  263. "neue Tatsachen" im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB schon für sich Gewicht haben und ungeachtet der notwendigen Gesamtwürdigung aller Umstände auf
  264. eine erhebliche Gefahr der Beeinträchtigung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Anderer durch
  265. den Betroffenen hindeuten müssen (BGH NJW 2006, 531, 535). Soweit hier
  266. letztlich allein das Fortschreiten des Hirnabbaus des Betroffenen infrage stehen
  267. - 14 -
  268. sollte, wird zudem zu verlangen sein, dass dieser sich nach außen während der
  269. Strafhaft in irgendeiner Form manifestiert und ausgedrückt hat. Der Senat weist
  270. in diesem Zusammenhang auch auf die Möglichkeit einer Rücknahme des Antrags der Staatsanwaltschaft hin (vgl. dazu BGH NJW 2006, 852, 853 Rdn. 10
  271. f.).
  272. 29
  273. 2. Zudem wird es nahe liegen, dem objektiven Sicherungsverfahren
  274. (§§ 413 ff. StPO, § 63 StGB) beim Landgericht Hof Fortgang zu geben und gegebenenfalls dort einstweilige Maßnahmen zu treffen, mag in jenem Verfahren
  275. auch die Erheblichkeit der rechtswidrigen Tat besonders prüfungsbedürftig erscheinen (§ 184f Nr. 1 StGB; vgl. zur daneben bestehenden Möglichkeit der
  276. landesrechtlichen Unterbringung auch § 1 Abs. 1 BayUntbrG). Dem anhängigen
  277. Sicherungsverfahren kommt allerdings hier kein Vorrang zu, weil die dort gegenständlichen Vorfälle sich nach der Entlassung des Betroffenen aus der
  278. Strafhaft ereignet haben. Wäre dies anders und erwiesen sie sich zugleich als
  279. "neue Tatsachen" im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB, so wäre das Sicherungsverfahren, das ebenfalls den Schutz der Allgemeinheit bezweckt, vorrangig zu
  280. betreiben (vgl. zum Vorrang des Erkenntnisverfahrens, wenn dort die Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung besteht: BGH, Beschluss vom
  281. 22. Februar 2006 - 5 StR 585/05 - Umdruck S. 10 f.).
  282. 30
  283. 3. Darüber hinaus weist der Senat darauf hin, dass die vom Landgericht
  284. sogleich ("uno actu") mit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung erfolgte Überweisung des Betroffenen in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (nach § 67a Abs. 2 StGB i. V. m. § 63 StGB) dem
  285. Zustand des Betroffenen zwar in praktischer Hinsicht Rechnung trägt, aber
  286. rechtlichen Bedenken begegnet. Diese hat das Landgericht gesehen, indes an-
  287. - 15 -
  288. genommen, sie aus Gründen praktischer Bedürfnisse vernachlässigen zu dürfen.
  289. 31
  290. Die Überweisung in die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus
  291. darf nicht zugleich mit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ausgesprochen werden. Der Gesetzgeber hat wohl im Grundsatz für die
  292. nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung die Überweisung in den
  293. Vollzug einer anderen Maßregel offen halten wollen. Darauf deuten die Materialien hin, denen zufolge die Überweisungsvorschrift des § 67a Abs. 2 StGB auch
  294. bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung anwendbar sein soll (Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 14; in diese Richtung auch BVerfGE 109,
  295. 190, 242 f.). Für die Überweisung ist jedoch die Strafvollstreckungskammer zuständig. Bei einer Entscheidung durch die Strafkammer würde nicht der gesetzliche Richter tätig (so schon BGH, Beschluss vom 15. Februar 2006 - 2 StR
  296. 4/06 - Umdruck S. 10). Angesichts des Gewichts des Eingriffs einer nachträglichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in das Freiheitsgrundrecht
  297. hält es der Senat zudem ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung für nicht
  298. statthaft, durch eine "uno actu" ausgesprochene Überweisung in die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus gewissermaßen auf diesem Umwege die
  299. nachträgliche Unterbringung in der Maßregel des § 63 StGB einzuführen. Hätte
  300. der Gesetzgeber diese Möglichkeit schaffen wollen, so hätte das ausdrücklicher
  301. gesetzlicher Bestimmung bedurft.
  302. 32
  303. Hält man die Überweisungsvorschrift für anwendbar, so ist sie demzufolge ihrem Wortlaut gemäß auszulegen: Die Überweisung ist "nachträglich" möglich, wenn dadurch die Resozialisierung des Betroffenen besser gefördert werden kann (§ 67a Abs. 2 StGB), insbesondere die dort mögliche Behandlung
  304. - 16 -
  305. oder auch nur Betreuung seinem Zustand am ehesten gerecht zu werden vermag.
  306. 33
  307. Das Landgericht hat all dies im rechtlichen Ansatz selbst so gesehen,
  308. sich jedoch zur Schließung der von ihm angenommenen Gesetzeslücke berechtigt erachtet. Der Senat vermag dem nicht beizupflichten.
  309. Wahl
  310. Boetticher
  311. Kolz
  312. Schluckebier
  313. Hebenstreit