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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. III ZR 75/11
  5. Verkündet am:
  6. 4. April 2012
  7. Freitag
  8. Justizamtsinspektor
  9. als Urkundsbeamter
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. nein
  16. BGHR:
  17. ja
  18. ZPO § 522 Abs. 1, § 523 Abs. 1 Satz 1
  19. Wird der Rechtsstreit vom Berufungsgericht auf den Einzelrichter übertragen,
  20. so tritt dieser nach § 526 Abs. 1 ZPO vollständig an die Stelle des Kollegiums.
  21. Er ist nach Übertragung der Sache auf ihn für die Entscheidung des Rechtsstreits insgesamt und damit auch für die Verwerfung der Berufung durch Endurteil zuständig.
  22. BGH, Urteil vom 4. April 2012 - III ZR 75/11 - LG Stuttgart
  23. AG Nürtingen
  24. - 2 -
  25. Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vizepräsidenten
  26. Schlick und die Richter Dörr, Wöstmann, Seiters und Tombrink im schriftlichen
  27. Verfahren aufgrund der bis zum 29. März 2012 eingereichten Schriftsätze
  28. für Recht erkannt:
  29. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 4. Zivilkammer
  30. des Landgerichts Stuttgart vom 9. März 2011 aufgehoben.
  31. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
  32. über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  33. Von Rechts wegen
  34. Tatbestand
  35. 1
  36. Die Parteien streiten um Vergütungsansprüche aus privatärztlicher Behandlung der Beklagten im M.
  37. 2
  38. Hospital in S.
  39. .
  40. Das Amtsgericht hat die Beklagte verurteilt, 1.935,93 € zuzüglich Zinsen
  41. und Mahnkosten zu zahlen.
  42. 3
  43. Das amtsgerichtliche Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 9. Juli 2010 zugestellt worden. Mit handschriftlichem Schriftsatz ihres
  44. Prozessbevollmächtigten vom 9. August 2010 hat die Beklagte Berufung gegen
  45. - 3 -
  46. das amtsgerichtliche Urteil einlegen lassen. Diesen Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten per Telefax an das Landgericht übersandt. Das
  47. erste Fax hat die Berufungsschrift sowie die Seiten 1, 3, 5 und 7 des amtsgerichtlichen Urteils umfasst. Ausweislich des Empfangsprotokolls des Landgerichts vom 10. August 2010 hat der Empfang der gesendeten Signale am
  48. 9. August 2010 um 23.59 Uhr begonnen und insgesamt 36 Sekunden beansprucht. Es ist eine zweite Faxübermittlung der Seiten 2, 4 und 6 des angegriffenen Urteils gefolgt. Laut dazugehörigem Empfangsprotokoll vom 10. August
  49. 2010 hat der an diesem Tag um 00.01 Uhr in Gang gesetzte Empfang 28 Sekunden gedauert.
  50. 4
  51. Nach Eingang der Berufungsbegründung ist das Verfahren auf die Einzelrichterin der Berufungskammer übertragen worden.
  52. 5
  53. Das Landgericht hat die Berufung durch Urteil als unzulässig verworfen
  54. und den Antrag der Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Einhaltung der Berufungsfrist zurückgewiesen.
  55. 6
  56. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vom Senat zugelassenen
  57. Revision.
  58. Entscheidungsgründe
  59. 7
  60. Die Revision hat Erfolg.
  61. - 4 -
  62. I.
  63. 8
  64. Das Berufungsgericht hat zur Begründung angeführt, dass die Einzelrichterin auch zur Verwerfung der Berufung durch Urteil und für die Entscheidung
  65. über die Wiedereinsetzung zuständig sei. Die Berufung sei unzulässig, da ein
  66. fristgerechter Eingang der Berufungsschrift nicht festgestellt werden könne. Die
  67. Frist zur Einlegung der Berufung sei am 9. August 2010 um 24.00 Uhr abgelaufen. Die handschriftliche, per Fax beim Landgericht eingegangene Berufungsschrift stelle nur dann eine formgerechte Berufung dar, wenn wenigstens die
  68. erste Seite des beigefügten Urteils mit herangezogen werde. Die Beklagte sei
  69. für den rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift vollumfänglich darlegungsund beweisbelastet. Aus dem Empfangsprotokoll des Landgerichts vom 10. August 2010 Uhr ergebe sich ein Beginn der Übertragung beziehungsweise des
  70. Empfangs des Faxes um 23.59 Uhr. Wann sekundengenau der Empfang begonnen habe, könne anhand dieses Protokolls nicht festgestellt werden. Die
  71. Übertragungszeit habe nach den Unterlagen 36 Sekunden gedauert. Da sich
  72. der exakte Beginn der Übertragung nicht aus dem Protokoll ergebe, sei es nicht
  73. geeignet, für den erforderlichen fristgerechten Eingang der Berufung Beweis zu
  74. erbringen. Aus den Daten für die Übertragung des zweiten Faxes ergebe sich,
  75. dass es ohne weiteres möglich sei, dass die Speicherung des ersten Faxes um
  76. 23.59 Uhr und 59 Sekunden begonnen und bis zum 10. August 2010 um
  77. 00.00 Uhr und 35 Sekunden gedauert habe. Gründe, eine Wiedereinsetzung in
  78. den vorigen Stand zu gewähren, lägen nicht vor.
  79. - 5 -
  80. II.
  81. 9
  82. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils
  83. und Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an
  84. das Berufungsgericht.
  85. 10
  86. 1.
  87. Ohne Erfolg bleibt die Rüge der Beklagten, nicht die Einzelrichterin, son-
  88. dern nur das Kollegium der landgerichtlichen Zivilkammer hätte die Berufung
  89. durch Endurteil als unzulässig verwerfen dürfen. Bereits der Wortlaut des § 522
  90. Abs. 1 und des § 523 Abs. 1 Satz 1 ZPO belegt, dass die Verwerfung einer Berufung durch Urteil nicht durch die Kammer als Kollegium erfolgen muss. Die
  91. Zuständigkeit des Berufungsgerichts insgesamt ist nach § 522 Abs. 1 Satz 1
  92. ZPO nur für die Verwerfung im Beschlusswege zwingend vorgesehen, die gemäß § 523 Abs. 1 Satz 1 ZPO der Entscheidung, ob eine Übertragung des
  93. Rechtsstreits auf den Einzelrichter erfolgt, vorhergeht. Wird nicht so verfahren
  94. und der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen, so tritt dieser nach § 526
  95. Abs. 1 ZPO vollständig an die Stelle des Kollegiums (Musielak/Ball, ZPO,
  96. 8. Aufl., § 527 Rn. 5). Er ist nach Übertragung der Sache auf ihn für die Entscheidung des Rechtsstreits insgesamt und damit auch für die Verwerfung der
  97. Berufung durch Endurteil zuständig (vgl. Kammergericht BeckRS 2009, 14690,
  98. insoweit in ZMR 2010, 112 nicht abgedruckt; MünchKommZPO/Rimmelspacher, 3. Aufl., § 522 Rn. 14; Hk-ZPO/Wöstmann, 4. Aufl., § 522 Rn. 5;
  99. Wieczorek/Schütze/Gerken, ZPO, 3. Aufl., § 522 Rn. 27; Zimmermann, ZPO,
  100. 9. Aufl., § 522 Rn. 4; a. A. wohl Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 32. Aufl., § 522
  101. Rn. 2).
  102. - 6 -
  103. 11
  104. 2.
  105. Einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand hält jedoch die Auffassung des
  106. Berufungsgerichts, die Berufung sei nicht rechtzeitig bei Gericht eingegangen.
  107. Die entsprechende tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, ein fristgemäßer Eingang der Berufungsschrift könne nicht festgestellt werden, beruht
  108. auf einer Verkennung der Anforderungen an die Beweiswürdigung.
  109. 12
  110. a) Zutreffend ist der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, dass die
  111. rechtzeitige Einlegung der Berufung als eine Zulässigkeitsvoraussetzung vom
  112. Berufungsführer zu beweisen ist. Für die Beweiserhebung gilt der sogenannte
  113. Freibeweis; dieser senkt jedoch nicht die Anforderungen an die richterliche
  114. Überzeugung, sondern stellt das Gericht - im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens - nur freier bei der Gewinnung der Beweise und dem Beweisverfahren. An
  115. die Feststellungen des Berufungsgerichts zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit
  116. einer Berufung ist das Revisionsgericht dabei nicht gebunden, weil es das Vorliegen dieser Prozessvoraussetzung, von der das gesamte weitere Verfahren
  117. abhängt, selbst von Amts wegen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu
  118. prüfen hat (BGH, Beschluss vom 4. Juni 1992 - IX ZB 10/92, NJW-RR 1992,
  119. 1338, 1339 mwN).
  120. 13
  121. b) Bei der tatrichterlichen Würdigung hat das Berufungsgericht einen unzulässig verengten Maßstab angelegt und ist deshalb zu dem Ergebnis gekommen, dass die Berufung nicht rechtzeitig eingelegt worden sei. Dabei hat es
  122. zugrunde gelegt, dass das Empfangsgerät des Landgerichts den Empfang des
  123. Faxes der Beklagten um 23.59 Uhr quittiert hat, ohne dabei Sekunden auszuweisen. Anhand des Übertragungsprotokolls kann deshalb nicht festgestellt
  124. werden, wann sekundengenau der Empfang der Berufungsschrift begonnen hat
  125. und wann er abgeschlossen war. Die Übertragungszeit hat ausweislich des
  126. Empfangsprotokolls 36 Sekunden gedauert und betraf insgesamt sieben Seiten,
  127. - 7 -
  128. von denen auch nach Auffassung des Berufungsgerichts lediglich die ersten
  129. beiden erforderlich waren, um eine zulässige Berufungseinlegung annehmen zu
  130. können. Das Berufungsgericht stellt dabei mangels Feststellbarkeit der genauen Sekundenzeit nach 23.59 Uhr darauf ab, wann das Fax spätestens hätte
  131. gesendet werden können. Daraus schließt es, dass im ungünstigsten Fall die
  132. Berufungseinlegung verspätet, weil nach 00.00 Uhr erfolgt sei.
  133. 14
  134. Dem kann nicht gefolgt werden. Ausgehend von dem aus Art. 2 Abs. 1
  135. GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Anspruch auf ein
  136. faires Verfahren darf dem Bürger das Versagen organisatorischer oder betrieblicher Vorgänge, auf die er keinen Einfluss hat, nicht zur Last gelegt werden.
  137. Der Richter darf sich nicht widersprüchlich verhalten und insbesondere nicht
  138. aus eigenen oder ihm zurechenbaren Fehlern oder Versäumnissen Verfahrensnachteile für die Beteiligten ableiten (vgl. BVerfG NJW 1998, 2044; BVerfGE 75,
  139. 183, 190). Das Gericht hat in Rechnung zu stellen, dass es den Beteiligten aus
  140. Gründen, die in der Sphäre einer Behörde liegen, auf deren Tätigkeit sie keinen
  141. Einfluss haben, unmöglich sein kann, eine Tatsache glaubhaft zu machen, die
  142. bei fehlendem behördlichen Versagen unschwer aufzuklären wäre (vgl. BVerfG
  143. NJW 1998, 2044, 2045). Daraus folgt, dass bei der Beweiswürdigung zur
  144. Rechtzeitigkeit des Eingangs einer Berufungsschrift nicht auf den letztmöglichen Zeitpunkt abzustellen ist, wenn das Gericht durch die Auswahl seines Telefaxempfangsgeräts darauf verzichtet, den Eingangszeitpunkt eines übermittelten Faxes sekundengenau festzuhalten. Das Gericht hat deshalb angesichts
  145. eines Protokolls der Faxübertragung, das lediglich die Uhrzeit 23.59 Uhr ausweist, wegen der nicht erfolgten Erfassung der Sekunden für den Berufungsfüh-
  146. - 8 -
  147. rer den - vorbehaltlich der Würdigung anderer Umstände - günstigsten möglichen Zeitpunkt als für die Prüfung der Zulässigkeit des maßgeblichen Eingangs
  148. der Berufungsschrift zugrunde zu legen. Da hier die Faxübertragung von sieben
  149. Seiten 36 Sekunden gedauert hat und nur die ersten beiden für das Einhalten
  150. der Zulässigkeitsanforderungen der Berufung erforderlich waren, ist davon auszugehen, dass die hier maßgebliche Faxübertragung maximal 15 Sekunden
  151. gedauert hat und deshalb vor 24.00 Uhr beendet war, da es für die Beurteilung
  152. der Rechtzeitigkeit des Eingangs eines per Telefax übersandten Schriftsatzes
  153. allein darauf ankommt, ob die gesendeten Signale noch vor Ablauf des letzten
  154. Tages der Frist vom Telefaxgerät des Gerichts vollständig empfangen und gespeichert wurden und nicht auf den Ausdruck dieser Seiten (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2006 - IV ZB 20/05, BGHZ 167, 214, 219 ff Rn. 14 ff). Da
  155. die Berufung deswegen rechtzeitig eingelegt worden war, kann die Verwerfung
  156. der Berufung als unzulässig keinen Bestand haben.
  157. 15
  158. Auf die weiteren Rügen der Beklagten hinsichtlich der Zurückweisung
  159. ihres Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt es nicht an.
  160. - 9 -
  161. 16
  162. 3.
  163. Das Urteil ist deshalb aufzuheben und die Sache an das Berufungsge-
  164. richt zurückzuverweisen. Eine eigene Entscheidung in der Sache ist dem Senat
  165. nicht möglich, da sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist.
  166. Schlick
  167. Dörr
  168. Seiters
  169. Wöstmann
  170. Tombrink
  171. Vorinstanzen:
  172. AG Nürtingen, Entscheidung vom 07.07.2010 - 42 C 613/10 LG Stuttgart, Entscheidung vom 09.03.2011 - 4 S 186/10 -