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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VI ZB 23/11
vom
20. September 2011
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 233 (Fd)
Für den Ausschluss des einer Partei zuzurechnenden Verschuldens ihres Anwalts (§ 85 Abs. 2, § 233 ZPO) an der Fristversäumung kommt es auf allgemeine organisatorische Vorkehrungen bzw. Anweisungen für die Fristwahrung in
einer Anwaltskanzlei dann nicht mehr an, wenn der Rechtsanwalt einer Kanzleiangestellten, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung erteilt, die bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte.
BGH, Beschluss vom 20. September 2011 - VI ZB 23/11 - OLG Stuttgart
LG Ulm
-2-
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. September 2011 durch
den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Wellner, Pauge, Stöhr und die
Richterin von Pentz
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des
1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 2. März 2011
aufgehoben.
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen
die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die
Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 19.683,02 €
Gründe:
I.
1
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Zahlung von Honorar für eine kieferorthopädische Behandlung in Anspruch. Die Beklagte hält die Abrechnung für
fehlerhaft und begehrt Ersatz materiellen und immateriellen Schadens. Das
Landgericht hat der Klage mit Urteil vom 24. März 2010 teilweise stattgegeben
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und die Widerklage abgewiesen. Dieses Urteil ist dem erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 30. März 2010 zugestellt worden. Am
27. April 2010 hat die Beklagte Rechtsanwalt B. das Mandat erteilt. Dieser hat
mit am selben Tag beim Oberlandesgericht eingegangen Schriftsatz Berufung
eingelegt. Mit gerichtlicher Verfügung vom 7. Juli 2010, zugestellt am 12. Juli
2010, ist Rechtsanwalt B. darauf hingewiesen worden, dass innerhalb der Berufungsbegründungsfrist keine Berufungsbegründung eingegangen sei. Mit
Schriftsatz vom 9. Juli 2010, eingegangen am 12. Juli 2010, hat die Beklagte
die Berufung begründet und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die
Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung dieses
Antrags hat sie ausgeführt, im Büro ihres erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten seien die Daten des Ablaufs der Berufungsfrist und der Berufungsbegründungsfrist auf der zugestellten Urteilsausfertigung vermerkt worden. Eine
Kopie dieser Ausfertigung habe sie mit der Mandatierung per Fax ihrem zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten übermittelt. Da diesem das Empfangsbekenntnis nicht vorgelegen habe, habe er den Ablauf der Fristen nicht überprüfen können. Deshalb seien diese entgegen der in der Kanzlei üblichen Organisation nicht sofort in den Fristenkalender eingetragen worden. Auf Anweisung von Rechtsanwalt B. habe dessen Büroleiterin sofort Berufung eingelegt
und beim Landgericht Akteneinsicht beantragt. Die Gerichtsakten seien am
6. Mai 2010 eingegangen und ihm am selben Tag vorgelegt worden. Rechtsanwalt B. habe die Berechnung der Fristen überprüft und verfügt, eine Vorfrist
für die Berufungsbegründung auf den 21. Mai 2010 und den Fristablauf für die
Berufungsbegründung auf den 28. Mai 2010 einzutragen. Diese Verfügung habe er in die Rubrik "Fristen" des Pultordners des Sekretariats gelegt und der
Büroleiterin, die ausschließlich für die Führung des Fristenkalenders zuständig
sei, auf diese Weise zur sofortigen Bearbeitung überlassen. Die Büroleiterin,
Frau N., sei seit 2000 in der Kanzlei beschäftigt und sehr zuverlässig. Rechts-
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anwalt B. habe die Führung des Fristenkalenders bis zum Jahr 2004 ständig
und seitdem stichprobenartig überwacht. Während dieser Zeit habe es keine
Beanstandung gegeben. Im vorliegenden Fall habe Frau N. jedoch weder die
Fristen notiert noch einen Erledigungsvermerk auf der Verfügung angebracht.
Diese Versehen habe er aufgrund einer am 27. Juni 2010 eingegangenen Stellungnahme der Beklagten in einem anderen Verfahren bemerkt. Die Richtigkeit
dieses Vorbringens ist von Rechtsanwalt B. anwaltlich versichert und durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung von Frau N. glaubhaft gemacht worden.
2
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Oberlandesgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte müsse sich
die von ihrem Prozessbevollmächtigten verschuldete Fristversäumung zurechnen lassen. Der Ablauf der Berufungs- und der Berufungsbegründungsfrist eines mit der Vertretung im Berufungsverfahren neu beauftragten Prozessbevollmächtigten sei bei Auftragserteilung durch den Mandanten, spätestens bei
Fertigung der Berufungsschrift zu notieren. Könne sich der Prozessbevollmächtigte wegen eines Anwaltswechsels zu diesem Zeitpunkt nicht selbst anhand
des Empfangsbekenntnisses oder der Gerichtsakten vom Zustellungsdatum
überzeugen, sei der mutmaßliche Fristablauf zunächst vorläufig einzutragen.
Dem Vorbringen der Beklagten sei nicht zu entnehmen, dass dies in der Kanzlei
ihres zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten gewährleistet sei. Die eingetretene Fristversäumung beruhe auf diesem Organisationsverschulden, denn
wenn die Fristen am 27. April 2010 (als vorläufige Fristen) eingetragen worden
wären, wäre die Handakte Rechtsanwalt B. rechtzeitig vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist vorgelegt worden. Die unzureichende allgemeine Organisation werde im vorliegenden Fall auch nicht durch die am 6. Mai 2010 erteilte
Einzelanweisung ausgeglichen, denn die nachträgliche Erteilung einer Einzel-
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anweisung berühre nicht den in einer fehlerhaften Handhabung der Fristenüberwachung liegenden Pflichtenverstoß. Bei dieser Sachlage könne offen bleiben, ob ein weiterer Pflichtenverstoß deshalb gegeben sei, weil Rechtsanwalt
B. den Ablauf der Fristen am 21. Mai 2010 nicht überprüft habe, als ihm die Akten mit einer Verfügung des Landgerichts, die sich allerdings nicht an ihn, sondern an den Klägervertreter gerichtet habe, vorgelegt worden seien.
3
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.
II.
4
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 238
Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, denn eine Entscheidung des Senats ist jedenfalls zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO).
5
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Zwar hat die Beklagte die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Auf ihren rechtzeitigen Antrag ist ihr jedoch
gemäß §§ 233, 234 ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen.
6
a) Der angefochtene Beschluss verletzt die Beklagte in ihrem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen
Rechtsschutzes (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Dieser verbietet es, einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht
verlangt werden und mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (vgl. BVerfGE 79,
-6-
372, 376 f.; BVerfG, NJW-RR 2002, 1004).
7
b) Die Rechtsbeschwerde wendet sich nicht gegen die Auffassung des
Berufungsgerichts, dass den zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der
Beklagten ein Organisationsverschulden treffe, weil nach ihrem Vorbringen in
seiner Kanzlei nicht gewährleistet sei, dass der Ablauf der Berufungs- und der
Berufungsbegründungsfrist schon bei Auftragserteilung durch den Mandanten,
spätestens aber bei Fertigung der Berufungsschrift - gegebenenfalls unter dem
Vorbehalt der Vorläufigkeit - notiert werde.
8
c) Sie beanstandet jedoch mit Recht, dass das Berufungsgericht die Bedeutung der Einzelanweisung verkannt hat. Das Berufungsgericht übersieht
nämlich, dass es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
für den Ausschluss des einer Partei zuzurechnenden Verschuldens ihres Anwalts (§ 85 Abs. 2, § 233 ZPO) an der Fristversäumung auf allgemeine organisatorische Vorkehrungen bzw. Anweisungen für die Fristwahrung in einer Anwaltskanzlei dann nicht mehr ankommt, wenn der Rechtsanwalt einer Kanzleiangestellten, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung erteilt, die bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte (vgl.
Senatsbeschlüsse vom 15. April 2008 - VI ZB 29/07, juris, Rn. 7 und vom
13. April 2010 - VI ZB 65/08, NJW 2010, 2287, Rn. 5; BGH, Beschlüsse vom
26. September 1995 - XI ZB 13/95, VersR 1996, 348; vom 18. März 1998
- XII ZB 180/96, NJW-RR 1998, 1360 f.; vom 6. Juli 2000 - VII ZB 4/00, NJW
2000, 2823; vom 2. Juli 2001 - II ZB 28/00, NJW-RR 2002, 60 und vom 1. Juli
2002 - II ZB 11/01, NJW-RR 2002, 1289 f.). Ein Rechtsanwalt darf grundsätzlich
darauf vertrauen, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt (BGH, Beschluss vom
13. April 1997 - XII ZB 56/97, NJW 1997, 1930). Er ist deshalb im Allgemeinen
auch nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung seiner Weisung
-7-
zu vergewissern (st. Rspr., vgl. Senatsurteil vom 6. Oktober 1987 - VI ZR 43/87,
VersR 1988, 185, 186; Senatsbeschlüsse vom 11. Februar 2003 - VI ZB 38/02,
VersR 2003, 1462 und vom 9. Dezember 2003 - VI ZB 26/03, VersR 2005, 138;
BGH, Beschluss vom 13. April 1997 - XII ZB 56/97, aaO).
9
d) So liegt der Fall hier, denn nach dem anwaltlich versicherten und
durch eidesstattliche Versicherung der Büroangestellten N. glaubhaft gemachten Vortrag der Beklagten hat ihr Prozessbevollmächtigter seiner Büroleiterin
Frau N. konkret mittels einer in die Rubrik "Fristen" des Pultordners des Sekretariats gelegten schriftlichen Verfügung aufgetragen, die Frist zur Begründung
der Berufung mit der dazugehörenden Vorfrist im Fristenkalender zu notieren.
Hätte Frau N. diese Einzelanweisung befolgt, wäre ihm die Akte rechtzeitig vorgelegt und die Berufungsbegründungsfrist gewahrt worden. Bei dieser Sachlage
ist nicht ersichtlich, dass sich Mängel bei der allgemeinen Organisation des
Anwaltsbüros in einer die Wiedereinsetzung ausschließenden Weise ausgewirkt
haben könnten (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 5. November 2002 - VI ZR
399/01, VersR 2003, 1459 und BGH, Beschluss vom 9. Januar 2001 - VIII ZB
26/00, NJW-RR 2001, 782, 783). Zwar gilt der Grundsatz, dass ein Rechtsanwalt nicht verpflichtet ist, die Ausführung einer Einzelanweisung zu kontrollieren, nicht ausnahmslos. Betrifft die Anweisung z. B. einen so wichtigen Vorgang
wie die Eintragung einer Rechtsmittelfrist und wird sie nur mündlich erteilt, müssen in der Kanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass die Anweisung in Vergessenheit gerät und die Fristeintragung
unterbleibt (Senatsbeschlüsse vom 5. November 2002 - VI ZR 399/01, aaO;
vom 4. November 2003 - VI ZB 50/03, NJW 2004, 688, 689; vom 22. Juni 2004
- VI ZB 10/04, VersR 2005, 383 f.; vom 12. Juni 2007 - VI ZB 76/06, juris, Rn. 8
und vom 28. Oktober 2008 - VI ZB 43/08, juris, Rn. 6 und 12; v. Pentz, NJW
2003, 858, 863 f.). Vorliegend hat Rechtsanwalt B. die Anweisung jedoch nicht
mündlich, sondern in schriftlicher Form erteilt. Da in einem solchen Fall die Ge-
-8-
fahr, dass die Anweisung in Vergessenheit gerät und die Eintragung der Frist
deshalb unterbleibt, wesentlich niedriger ist als bei einer nur mündlich erteilten
Anweisung, ist eine Kontrolle hinsichtlich der Ausführung einer auf diese Weise
erteilten Einzelanweisung im Regelfall nicht erforderlich (vgl. Senatsbeschluss
vom 15. April 2008 - VI ZB 29/07, aaO, Rn. 8). Das die Büroleiterin N. treffende
Verschulden an der Nichtausführung der Anweisung von Rechtsanwalt B. ist
der Beklagten nicht zuzurechnen.
Galke
Wellner
Stöhr
Pauge
von Pentz
Vorinstanzen:
LG Ulm, Entscheidung vom 24.03.2010 - 6 O 203/07 OLG Stuttgart, Entscheidung vom 02.03.2011 - 1 U 63/10 -