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339 lines
23 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 2 StE 1/01
  4. StB 4 und 5/01
  5. vom
  6. 30. März 2001
  7. in dem Strafverfahren
  8. gegen
  9. wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung u.a.
  10. -2-
  11. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts sowie des Angeschuldigten und seiner Verteidiger am 30. März
  12. 2001 beschlossen:
  13. 1. Auf die sofortige Beschwerde des Generalbundesanwalts
  14. wird der Beschluß des Kammergerichts in Berlin vom
  15. 28. Februar 2001 aufgehoben.
  16. 2. Die Anklage des Generalbundesanwalts vom 28. Januar
  17. 2001 wird zur Hauptverhandlung zugelassen und das
  18. Hauptverfahren vor dem Kammergericht in Berlin eröffnet.
  19. 3. Die weitere Vollziehung des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 15. Dezember 1999
  20. - 1 BGs 284/99 - wird angeordnet.
  21. Gründe:
  22. Der Generalbundesanwalt legt dem Angeschuldigten S.
  23. mit der
  24. Anklage vom 28. Januar 2001 zur Last, er sei von 1985 bis 1990 Rädelsführer
  25. der "Berliner Zelle" der "Revolutionären Zellen (RZ)" gewesen und habe an
  26. dem Sprengstoffanschlag in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1987 auf das
  27. Gebäude der Zentralen Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) in Berlin mitgewirkt. Wegen dieses Sachverhalts hatte der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs mit Beschluß vom 15. Dezember 1999 - 1 BGs 284/99 - Haftbefehl
  28. gegen den bereits in anderer Sache in Haft befindlichen Angeschuldigten erlassen und die Notierung von Überhaft angeordnet. Diese wurde seit
  29. 15. Februar 2001 vollzogen.
  30. -3-
  31. Das Kammergericht hat mit Beschluß vom 28. Februar 2001 die Eröffnung
  32. des Hauptverfahrens abgelehnt, weil das Verfahrenshindernis anderweitiger
  33. Rechtshängigkeit entgegenstehe, den Haftbefehl aufgehoben und die Freilassung des Angeschuldigten angeordnet.
  34. Dem liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde:
  35. In einem Verfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main (51 Js
  36. 118/96) war dem Angeschuldigten mit Anklage vom 16. November 1999 zur
  37. Last gelegt worden, er habe als Mitglied der "Revolutionären Zelle" Beihilfe zu
  38. dem Anschlag auf die Teilnehmer an der OPEC-Konferenz in Wien am 21. Dezember 1975 geleistet. In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt
  39. am Main beantragte die Staatsanwaltschaft, das Verfahren gemäß § 270 StPO
  40. an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zu verweisen, weil die Beweisaufnahme den Verdacht ergeben habe, der Angeschuldigte sei jedenfalls seit
  41. Dezember 1975 bis zu seinem Ausstieg im Jahre 1990 ununterbrochen Mitglied
  42. der Revolutionären Zellen gewesen. Diesen Antrag hat die Strafkammer abgelehnt, da ein hinreichend wahrscheinlicher Tatverdacht für eine fortlaufende
  43. Mitgliedschaft nicht bestehe, vielmehr sei 1978 durch das Abtauchen des Angeschuldigten ins Ausland eine Unterbrechung mit der Folge einer neuen selbständigen Tat des § 129 a StGB für die Zeit nach seiner Rückkehr im Jahre
  44. 1985 erfolgt. Mit Urteil vom 15. Februar 2001 hat es ihn sodann wegen des
  45. angeklagten Tatvorwurfs freigesprochen; hiergegen hat die Staatsanwaltschaft
  46. Revision eingelegt.
  47. -4-
  48. Das Kammergericht hält die Auffassung des Landgerichts für unzutreffend, weil eine Mitgliedschaft nach § 129 a Abs. 1 StGB auch bei längerer Untätigkeit fortbestehe und es im übrigen auch für die Zeit von 1978 bis 1985
  49. konkrete Hinweise auf mitgliedschaftliche Betätigungsakte des Angeschuldigten gebe. Er habe damit der "(Gesamt-) Vereinigung Revolutionäre Zellen" von
  50. 1975 bis 1990 ohne Unterbrechung angehört, weshalb nur eine einzige Straftat
  51. nach § 129 a StGB vorliege, die bereits Gegenstand des Verfahrens bei dem
  52. Landgericht Frankfurt am Main sei und sich auch auf den tateinheitlichen Vorwurf des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion erstrecke.
  53. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Generalbundesanwalts ist begründet.
  54. I. Das Verfahrenshindernis anderweitiger Rechtshängigkeit ist nicht gegeben, weil der Angeschuldigte nach dem derzeitigen Kenntnisstand nicht von
  55. 1975 bis 1990 ununterbrochen der gleichen terroristischen Vereinigung angehörte und damit nicht vom Vorliegen einer einzigen Tat nach § 129 a StGB für
  56. den gesamten Zeitraum ausgegangen werden kann.
  57. 1. Der Senat hat im Verfahren auf die Beschwerde gegen die Ablehnung
  58. der Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 210 Abs. 2 StPO in vollem Umfang zu überprüfen, ob die Voraussetzungen der Eröffnung nach § 203 StPO
  59. gegeben sind und insbesondere nicht das Prozeßhindernis anderweitiger
  60. Rechtshängigkeit entgegensteht.
  61. Ein Strafverfahren darf grundsätzlich nur durchgeführt werden, wenn feststeht, daß die erforderlichen Prozeßvoraussetzungen vorliegen und Prozeß-
  62. -5-
  63. hindernisse nicht entgegenstehen, die erforderlichen Feststellungen hierfür
  64. sind im Wege des Freibeweises zu treffen (vgl. Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO
  65. 24. Aufl. § 203 Rdn. 16, § 206 a Rdn. 28 ff., 59). Bleibt nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten zweifelhaft, ob ein Prozeßhindernis vorliegt, ist
  66. nach der h.M. nach der Art des Prozeßhindernisses oder der Prozeßvoraussetzung zu differenzieren (vgl. BGHSt 18, 274, 277 f.; Überblick bei Paeffgen in
  67. SK-StPO 15. Lfg. § 206 a Rdn. 16 f.). In einigen älteren Entscheidungen ist zur
  68. Frage des Strafklageverbrauchs noch die Auffassung vertreten worden, daß
  69. hier der Zweifelssatz nicht anwendbar sei und nur eine nachgewiesene vorhergehende Verurteilung die erneute Aburteilung hindere (OGHSt 1, 207; BGH,
  70. Urt. vom 9. Oktober 1952 - 4 StR 124/52; Urt. vom 19. Februar 1954 - 2 StR
  71. 581/53). Diese Entscheidungen sind jedoch durch BGHSt 18, 274 überholt (vgl.
  72. BayObLG NJW 1968, 2118). Allerdings erfordert die Anwendung des Zweifelssatzes konkrete tatsächliche Umstände; bloß theoretische, nur denkgesetzlich
  73. mögliche Zweifel reichen nicht aus (vgl. Rieß aaO). Dabei ist es in aller Regel
  74. ohne praktische Bedeutung, ob dogmatisch von der Funktion der Prozeßvoraussetzung als Bedingung für die Zulässigkeit eines Sachurteils oder von
  75. der Anwendung des Zweifelssatzes ausgegangen wird (Kleinknecht/MeyerGoßner, StPO 44. Aufl. § 206 a Rdn. 7).
  76. Etwas anderes muß jedoch gelten, wenn das Vorliegen des Verfahrenshindernisses der anderweitigen Rechtshängigkeit nicht nach Aktenlage geklärt
  77. werden kann, sondern von Tatsachen abhängt, die die angeklagte Straftat betreffen. Deren Feststellung muß dem Strengbeweis in der Hauptverhandlung
  78. vorbehalten bleiben (Loos, JuS 1979, 702; vgl. auch Rieß aaO § 203 Rdn. 8;
  79. Paeffgen aaO § 203 Rdn. 13). Würden solche Fragen bereits im Eröffnungsverfahren mit der erforderlichen Vollständigkeit geprüft werden, müßte ein un-
  80. -6-
  81. ter Umständen wesentlicher Teil der Hauptverhandlung vorweggenommen
  82. werden, wobei der Angeklagte im Freibeweisverfahren eine schlechtere verfahrensrechtliche Position besitzt. Die - im Falle einer Verneinung eines Prozeßhindernisses - erforderliche Wiederholung dieser Beweisaufnahme in der
  83. Hauptverhandlung nach den Regeln des Strengbeweises würde nicht nur prozeßunökonomisch und für die Beteiligten zusätzlich belastend sein, sie würde
  84. auch die Gefahr widersprüchlicher Ergebnisse in sich bergen und letztlich dem
  85. Prinzip des Strafverfahrens, wonach der Schwerpunkt in der Hauptverhandlung
  86. liegen soll, zuwiderlaufen (vgl. dazu Loos aaO: keine Hauptverhandlung vor
  87. der Hauptverhandlung, diese solle "Premiere", nicht "Reprise" sein). Daß eine
  88. solche doppelte Beweisaufnahme in hohem Maße unzuträglich sein kann, zeigt
  89. gerade das vorliegende Verfahren. Die abschließende Klärung der Frage, ob
  90. eine anderweitige Rechtshängigkeit gegeben sein könnte, würde auf der
  91. Grundlage der bisherigen Rechtsprechung zum prozessualen Tatbegriff eine
  92. umfassende Beweisaufnahme über die Einbindung des Angeklagten in die verschiedenen Ausformungen der "Revolutionären Zellen" in der Zeit von 1975 bis
  93. 1990 und über seine Tätigkeit im Zeitraum von 1978 bis 1985 voraussetzen.
  94. Dafür müßte neben zahlreichen anderen Beweiserhebungen der Zeuge M.
  95. umfangreich vernommen werden, dessen Glaubwürdigkeit die Verteidiger mit
  96. zahlreichen Einwänden in Frage stellen würden. Damit müßte ein wesentlicher
  97. Teil der Hauptverhandlung vorweggenommen werden, was hier voraussichtlich
  98. mehrere Monate in Anspruch nehmen würde.
  99. Diese Auffassung entspricht auch der Praxis des Bundesgerichtshofs in
  100. Revisionsverfahren, in denen die Frage des Vorliegens eines Strafklageverbrauchs von den bislang ungenügend aufgeklärten tatsächlichen Umständen
  101. der abgeurteilten Tat abhängt, etwa weil in Frage steht, ob ein Handel mit Be-
  102. -7-
  103. täubungsmitteln Teil einer bereits anderweitig abgeurteilten Bewertungseinheit
  104. ist. In solchen Fällen wird diese Frage nicht im Revisionsverfahren im Wege
  105. des Freibeweises geklärt, sondern die Sache zu erneuter tatrichterlicher Feststellung im Wege des Strengbeweises zurückverwiesen (BGH, Beschl. vom
  106. 16. November 2000 - 3 StR 457/00).
  107. Für die Frage der Eröffnung muß demnach eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür genügen, daß die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ein solches Verfahrenshindernis nicht ergeben werde.
  108. 2. Bei der "Revolutionären Zelle", der der Angeschuldigte von 1975 bis
  109. 1978 im Bereich Frankfurt am Main angehört hat, und der "Berliner Zelle der
  110. Revolutionären Zellen" im Tatzeitraum der Anklage zum Kammergericht von
  111. 1985 bis 1990 handelt es sich nach Aktenlage um unterschiedliche terroristische Vereinigungen. Eine den gesamten Zeitraum von 1975 bis 1990 und
  112. gleichzeitig auch die verschiedenen regionalen Gruppierungen umfassende
  113. einheitliche Vereinigung im Sinne des § 129 a StGB ("Gesamtvereinigung") war
  114. entgegen der Auffassung des Kammergerichts nicht gegeben. Zwar erscheint
  115. es grundsätzlich vorstellbar, daß sich eine terroristische Gruppierung in der Art
  116. organisiert und strukturiert, daß neben einzelnen regionalen Vereinigungen
  117. auch eine übergeordnete Dach-Vereinigung besteht, die ihrerseits ebenfalls
  118. die Kriterien einer terroristischen Vereinigung nach § 129 a StGB erfüllt, wobei
  119. einzelne Mitglieder sowohl der regionalen, als auch der Dach-Vereinigung angehören und sich an ihnen aktiv beteiligen können. Hier ergibt sich jedoch aus
  120. den Ermittlungen, daß nach der Umstrukturierung der "Revolutionären Zelle" im
  121. Zeitraum von 1976 bis 1981 keine solche Dach-Vereinigung vorhanden war,
  122. die selbst als terroristische Vereinigung nach § 129 a StGB angesehen werden
  123. -8-
  124. könnte. Dazu wäre Voraussetzung gewesen, daß sich mehrere Personen zu
  125. einer Vereinigung zusammenschließen, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf
  126. gerichtet war, bestimmte Straftaten der in § 129 a Abs. 1 StGB genannten Art
  127. zu begehen, wobei die Unterwerfung der Mitglieder unter eine organisierte
  128. Willensbildung notwendig ist, was innerhalb der Vereinigung bestehende, von
  129. den Mitgliedern anerkannte Entscheidungsstrukturen voraussetzt (BGHSt 10,
  130. 16 f.; 28, 147 f.; 31, 202, 205).
  131. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Beschwerdebegründung vom
  132. 5. März 2001 unter Hinweis auf Fundstellen in dem publizistischen Organ "Revolutionärer Zorn" der "Revolutionären Zelle" im einzelnen belegt, hat sich die
  133. "Revolutionäre Zelle" im September 1976 in "Revolutionäre Zellen" umbenannt
  134. und mehrere einzelne selbständige, regional aufgeteilte Zellen mit eigenen
  135. Entscheidungs- und Handlungsbefugnissen gebildet. Dabei wird zur Eigenständigkeit dieser Zellen betont, daß "jeder selbst entscheiden kann" ... "ohne
  136. auf die Bestätigung oder das Dementi eines nicht vorhandenen ZK's zu warten"
  137. (Revolutionärer Zorn Nr. 5, April 1978). Dies belegt das Fehlen einer übergeordneten Vereinigung mit eigener Entscheidungsstruktur, der sich die einzelnen Mitglieder der Zellen unterworfen hätten. Dem entspricht, daß es nach der
  138. Aussage des Zeugen
  139. M.
  140. , der zu der Zusammensetzung und Struktur
  141. der "Revolutionären Zellen" in dem fraglichen Zeitraum ab Mitte der 80-er Jahre umfangreiche und umfassende Angaben gemacht hatte, an überregionalen
  142. Tätigkeiten lediglich einmalige jährliche Treffen von Abgesandten der einzelnen Zellen gegeben hatte, die "Miez" oder auch "Asamblea" genannt wurden.
  143. Daß dort verbindliche Entscheidungen für die Durchführung von Straftaten im
  144. Sinne des § 129 a Abs. 1 StGB getroffen worden wären, die dann auch unter
  145. der Verantwortung einer solchen überregionalen Vereinigung verübt worden
  146. -9-
  147. wären, hat er nicht berichtet; auch sonst fehlen dafür jegliche Anhaltspunkte.
  148. Daß die einzelnen Zellen gelegentlich zusammenarbeiteten, z.B. durch die
  149. Überlassung von Sprengstoff aus einem Diebstahl, oder daß sie ein einheitliches Symbol verwendeten, vermag daran nichts zu ändern, da dies die fehlenden Merkmale einer Vereinigung im Sinne des § 129 a StGB für die angebliche
  150. "Gesamt-Vereinigung" nicht ersetzen kann.
  151. Dabei kommt hinzu, daß mit der Umstrukturierung der "Revolutionären
  152. Zelle" auch ein inhaltlicher und programmatischer Wandel verbunden war, der
  153. zu Spaltungen und Trennungen führte, wie in der Beschwerdebegründung im
  154. einzelnen dargestellt und belegt wird. Bei dieser Sachlage braucht der Senat
  155. daher nicht zu entscheiden, ob die Frage der Fortdauer einer einheitlichen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gegebenenfalls dann anders zu
  156. beurteilen ist, wenn sich eine Vereinigung aus taktischen Gründen einvernehmlich umstrukturiert und nahtlos ihre bisherigen Zwecke weiterverfolgt, sei
  157. es, daß sich eine bislang einheitliche Organisation in mehrere einzelne Vereinigungen aufspaltet oder umgekehrt bisher selbständige Gruppierungen sich
  158. zu einer einheitlichen Vereinigung mit gleichbleibender Zielrichtung zusammenschließen.
  159. 3. Zudem ist durch das Abtauchen des Angeschuldigten im August 1978
  160. nach dem bisherigen Kenntnisstand seine mitgliedschaftliche Beteiligung an
  161. der "Revolutionären Zelle", der er bis dahin angehört hatte, beendet worden.
  162. Darin liegt eine Zäsur, die der Annahme einer einzigen Tat nach § 129 a StGB
  163. entgegensteht.
  164. - 10 -
  165. Der Angeschuldigte selbst erklärte hierzu in der Hauptverhandlung vor
  166. dem Landgericht Frankfurt am Main im Rahmen der Schilderung seines Lebenslaufes: "In der Zeit von August 1978 bis zur Wiederaufnahme meiner politischen Aktivitäten Mitte der 80er Jahre habe ich keine strafbaren Handlungen
  167. begangen und keiner verbotenen Organisation angehört." Mag diese Erklärung
  168. auch prozeßtaktischen Erwägungen entspringen, so stimmt sie jedenfalls insoweit mit den Ermittlungsergebnissen überein, als für die Zeit nach dem Abtauchen im August 1978 bis jedenfalls 1981 keinerlei Anhaltspunkte für eine Fortsetzung der mitgliedschaftlichen Beteiligung des Angeklagten an der "Revolutionären Zelle" gegeben sind; solche hat auch das Kammergericht nicht festgestellt.
  169. Wenn es gleichwohl diesem Umstand für die Fortdauer der Mitgliedschaft
  170. keine maßgebliche Bedeutung beimißt, weil nach BGHSt 29, 288, 294 die Mitgliedschaft auch in Zeiten fortbestehe, in denen gerade keine Tätigkeit entfaltet
  171. werde, wird es weder dem Sinn dieser Entscheidung, noch dem Begriff der mitgliedschaftlichen Beteiligung nach § 129 a Abs. 1 StGB gerecht. Danach genügt eben nicht eine nur passive, für das Wirken der Vereinigung bedeutungslose Mitgliedschaft, vielmehr ist erforderlich, daß diese auf eine aktive Teilnahme am Verbandsleben gerichtet sein muß (BGHSt 29, 114, 120 f.). Gerade
  172. weil in BGHSt 29, 288, 294 dieser Grundsatz unter Verweis auf die vorgenannte Entscheidung wiederholt wird, kann die nachfolgende Erwägung, die
  173. Mitgliedschaft bestehe auch in Zeiten, in denen keine Tätigkeit für die Vereinigung ausgeübt werde, nur dahin verstanden werden, daß es bei einer solchen
  174. aktiven Beteiligung naturgemäß zwischen den einzelnen Betätigungsakten zu
  175. Pausen kommen kann, die ohne Einfluß auf das Andauern der Mitgliedschaft
  176. bleiben. Daraus hat der Senat gefolgert, daß diese Tatbestandsstruktur dazu
  177. - 11 -
  178. führe, daß sich die Strafbarkeit der mitgliedschaftlichen Beteiligung auf Jahre
  179. erstrecken könne (BGHSt 29, 288, 294). Umgekehrt durfte daraus das Kammergericht jedoch nicht den Schluß ziehen, daß selbst eine jahrelange Unterbrechung der aktiven Betätigung die Fortdauer der Mitgliedschaft im Sinne des
  180. § 129 a Abs. 1 StGB ohne weiteres unberührt lasse. Wenn das Kammergericht
  181. in diesem Zusammenhang darauf abstellt, daß der Wechsel des Angeklagten
  182. nach Berlin (nach mehreren Jahren) als "Wiederaufleben der zuvor ruhenden
  183. Mitgliedschaft" (BA S. 5) anzusehen sei, beschreibt es gerade nicht eine aktive, sondern allenfalls eine zwischenzeitliche passive Mitgliedschaft, die für die
  184. Erfüllung des Tatbestandes des § 129 a Abs. 1 StGB nach dem Wortlaut des
  185. Gesetzes und auch nach der Rechtsprechung nicht ausreicht.
  186. Insofern ist die Tatbestandsstruktur des Organisationsdeliktes der mitgliedschaftlichen Beteiligung nach § 129 a Abs. 1 StGB dem Tatbestand der
  187. geheimdienstlichen Agententätigkeit nach § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB vergleichbar.
  188. Auch dort stellt sich das Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen
  189. Zeiten der Inaktivität eines Agenten noch als tatbestandsimmanentes Verhalten
  190. anzusehen sind oder ob ein späteres erneutes Tätigwerden eine neue Tat im
  191. Sinne des § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB darstellt (vgl. dazu Rissing–van Saan in FS
  192. 50 Jahre BGH, S. 485 f.). So hat der Senat die vorübergehende "Abschaltung"
  193. eines Agenten für die Dauer eines Jahres nach der Enttarnung eines anderen
  194. Agenten zur Vermeidung einer Entdeckung als für eine geheimdienstliche
  195. Agententätigkeit typisch bewertet (BGHR StGB § 99 Ausüben 2). Ähnliches
  196. dürfte für das Mitglied einer terroristischen Vereinigung gelten, das sich etwa
  197. dem verstärkten Fahndungsdruck der Polizei nach einem spektakulären Anschlag durch ein vorübergehendes Untertauchen entzieht, um danach seine
  198. Tätigkeit wieder ungefährdet fortsetzen zu können. Dabei wird man aber eben-
  199. - 12 -
  200. so wie bei der geheimdienstlichen Agententätigkeit für die Frage einer Tatbeendigung nicht allein auf die Dauer der zeitlichen Zäsur abstellen dürfen, sondern eine Gesamtbetrachtung der Umstände, insbesondere der Ausgestaltung
  201. der weiteren Beziehungen zu der Vereinigung anzustellen haben (vgl. Rissing–
  202. van Saan aaO, S. 486). Hier ist zu berücksichtigen, daß der Angeschuldigte im
  203. August 1978 abtauchte, als gegen ihn wegen Mitgliedschaft in der "Revolutionären Zelle" ermittelt worden war, was zum Erlaß eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 15. September 1978 geführt
  204. hatte. Dies und der Umstand, daß bis 1981 keinerlei Anhaltspunkte für eine
  205. weitere Tätigkeit vorliegen, ferner daß der Angeklagte nach der oben dargelegten Umstrukturierung der "Revolutionären Zelle" nicht in seiner alten
  206. Frankfurter Gruppe, sondern in der "Berliner Zelle" aktiv geworden ist, belegt
  207. zur Überzeugung des Senats, daß er seine mitgliedschaftliche Betätigung mit
  208. dem Abtauchen beendet und danach an anderer Stelle und für eine andere
  209. Vereinigung neu aufgenommen hat.
  210. 4. Unabhängig von den vorgenannten Erwägungen neigt der Senat in
  211. Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. BGHSt 29, 288 ff.) dazu,
  212. auch bei einem Organisationsdelikt mehrere prozessuale Taten anzunehmen,
  213. wenn nur einzelne Betätigungen eines Mitglieds einer solchen Organisation
  214. (kriminelle oder terroristische Vereinigung, Verein i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1
  215. VereinsG) Gegenstand der früheren Anklage und gerichtlichen Untersuchung
  216. waren und der Angeklagte nicht darauf vertrauen durfte, daß durch das frühere
  217. Verfahren alle Betätigungsakte für die Vereinigung erfaßt wurden (Urt. des Senats vom heutigen Tage - 3 StR 342/00, vgl. dazu Krauth in FS für Kleinknecht,
  218. 1985, S. 215, 229 ff.). Der 2. Strafsenat hat zu Recht darauf hingewiesen, daß
  219. die uferlose Ausdehnung der Kognitionspflicht des Tatrichters durch den pro-
  220. - 13 -
  221. zessualen Tatbegriff bei derartigen langgestreckten Delikten (Organisationsdelikte, Dauerdelikte, Bewertungseinheiten) dessen Leistungsfähigkeit übersteige
  222. und eine den Grundsätzen des Strafverfahrens widersprechende Verlagerung
  223. von Ermittlungstätigkeit in das gerichtliche Hauptverfahren zur Folge habe.
  224. Gleichzeitig würden die auch dem Schutz des Angeklagten dienenden Verfahrensinstitute wie Anklage und Eröffnungsverfahren ausgehöhlt (BGHSt 43, 252,
  225. 257).
  226. II. Da der Angeschuldigte im übrigen der angeklagten Tat hinreichend
  227. verdächtig ist, war die Anklage des Generalbundesanwalts zur Hauptverhandlung zuzulassen und das Hauptverfahren vor dem Kammergericht zu eröffnen.
  228. Im einzelnen wird hierzu auf die Anklage und das wesentliche Ergebnis der
  229. Ermittlungen Bezug genommen. Der Senat hat von der Möglichkeit des § 210
  230. Abs. 3 Satz 2 StPO, die Hauptverhandlung vor einem anderen Senat dieses
  231. Gerichts zu eröffnen, keinen Gebrauch gemacht.
  232. III. Der Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 Abs. 1 StPO wird durch die
  233. vorliegende Beschwerdeentscheidung die Grundlage entzogen. Gemäß § 207
  234. Abs. 4 StPO ordnet der Senat die weitere Vollziehung des Haftbefehls des Ermittlungsrichters vom 15. Dezember 1999 an. Der dringende Tatverdacht beruht auf der umfangreichen Aussage des Zeugen
  235. M.
  236. . Es besteht
  237. weiterhin neben dem Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO der Haftgrund der
  238. Fluchtgefahr, nachdem der Angeschuldigte bereits im August 1978 zur Vermeidung seiner Festnahme untergetaucht, einige Jahre später zwar wieder nach
  239. Deutschland zurückgekehrt war, aber hier illegal bis zum vermeintlichen Verjährungseintritt gelebt hatte. Dies belegt die Gefahr, daß er sich auch jetzt dem
  240. nunmehr drohenden Strafverfahren durch Flucht entziehen werde. Diese Ge-
  241. - 14 -
  242. fahr wird nicht dadurch ausgeräumt, daß er nach dem Nichteröffnungsbeschluß
  243. und der Aufhebung des Haftbefehls sich verfügbar gehalten hat, da er bislang
  244. darauf hoffen konnte, von einem weiteren Strafverfahren verschont zu bleiben.
  245. Unter den gegebenen Umständen kann gegenwärtig der Fluchtgefahr auch
  246. nicht durch Maßnahmen nach § 116 StPO begegnet werden. Da der Angeschuldigte innerhalb der "Berliner Zelle" eine führende Rolle eingenommen hat
  247. und auch in maßgeblicher Weise an den begangenen Taten beteiligt war, hat
  248. er trotz der zwischenzeitlichen Beendigung der Tätigkeit dieser Vereinigung
  249. und des Zeitabstandes zwischen den Taten und ihrer Verfolgung eine nicht
  250. unerhebliche Freiheitsstrafe zu erwarten.
  251. Kutzer
  252. Miebach
  253. Pfister
  254. Winkler
  255. von Lienen
  256. Nachschlagewerk: ja
  257. BGHSt:
  258. ja
  259. Veröffentlichung: ja
  260. __________________
  261. StPO § 203;
  262. StGB § 129 Abs. 1, § 129 a Abs. 1
  263. 1.
  264. Kommt es im Eröffnungsverfahren bei der Prüfung des Verfahrenshindernisses der anderweitigen Rechtshängigkeit auf die Klärung
  265. von Tatsachen an, die die angeklagte Straftat betreffen, so erfolgt
  266. diese nicht im Freibeweisverfahren, sondern ist dem Strengbeweisverfahren der Hauptverhandlung vorbehalten. Für die Eröffnung des
  267. Hauptverfahrens genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, daß
  268. die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ein solches Verfahrenshindernis nicht ergeben werde.
  269. - 15 -
  270. 2.
  271. Die vom Senat für die Unterbrechung von geheimdienstlicher Agententätigkeit entwickelten Grundsätze gelten auch für die mitgliedschaftliche Betätigung in einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung.
  272. BGH, Beschl. vom 30. März 2001 - StB 4 und 5/01 - Kammergericht Berlin