Search on legal documents using Tensorflow and a web_actix web interface
You can not select more than 25 topics Topics must start with a letter or number, can include dashes ('-') and can be up to 35 characters long.

206 lines
11 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. Urteil
  4. 4 StR 349/04
  5. vom
  6. 11. November 2004
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen versuchten Totschlags u.a.
  10. -2-
  11. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. November 2004, an der teilgenommen haben:
  12. Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
  13. Dr. Tepperwien,
  14. Richter am Bundesgerichtshof
  15. Maatz,
  16. Athing,
  17. Dr. Ernemann,
  18. Richterin am Bundesgerichtshof
  19. Sost-Scheible
  20. als beisitzende Richter,
  21. Bundesanwalt
  22. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  23. Rechtsanwalt
  24. als Verteidiger,
  25. Justizangestellte
  26. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  27. für Recht erkannt:
  28. -3-
  29. 1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten
  30. gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 29. März 2004
  31. werden verworfen.
  32. 2. Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft und die dem
  33. Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen
  34. trägt die Staatskasse. Der Angeklagte hat die Kosten seiner
  35. Revision zu tragen.
  36. Von Rechts wegen
  37. Gründe:
  38. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in
  39. Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf
  40. Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil wenden sich die Staatsanwaltschaft und
  41. der Angeklagte mit ihren auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen. Die Staatsanwaltschaft macht mit ihrem zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten und vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel geltend, der Angeklagte hätte wegen versuchten Mordes verurteilt werden müssen, da er heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen gehandelt habe. Der
  42. Angeklagte beanstandet die Ablehnung eines strafbefreienden Rücktritts.
  43. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
  44. I.
  45. Die Strafkammer hat folgende Feststellungen getroffen:
  46. -4-
  47. Der jugendlich wirkende, zur Tatzeit 22 Jahre alte Angeklagte hielt sich
  48. in der Tatnacht in einer Diskothek in Essen auf. Er trank Alkohol (zur Tatzeit
  49. betrug seine Blutalkoholkonzentration 1,51 %o), rauchte Haschisch und konsumierte möglicherweise eine bis zwei Ecstasy-Tabletten. Die überwiegende
  50. Zeit verbrachte er mit Tanzen bei lauter Musik. Gegen 6.00 Uhr war er in "gesteigerter Stimmung, aufgereizt und suchte Kontakt zu weiblichen Diskothekenbesuchern". Auf der stark abgedunkelten Empore der Diskothek versuchte
  51. er, sich Daniela N.
  52. anzunähern, die dies ignorierte. Ihr Begleiter, der später
  53. geschädigte, 33 Jahre alte, groß und kräftig gebaute Frank B.
  54. hatte dies
  55. bemerkt und sprach den Angeklagten "deutlich, laut und mit durchaus grober
  56. Stimme" mit den Worten an: "Lass die Frau in Ruhe; wenn du reden willst,
  57. dann rede mit mir!". Für Frank B.
  58. war die Angelegenheit damit erledigt. Er
  59. achtete deswegen in der Folgezeit nicht mehr auf den Angeklagten. Dieser
  60. fühlte sich jedoch durch Frank B.
  61. provoziert und herausgefordert; überdies
  62. ärgerte er sich sehr über die aus seiner Sicht unangemessene und unberechtigte Zurechtweisung in Anwesenheit Daniela N. s. Er stellte sich deshalb in
  63. die Nähe Frank B. s und richtete die Frage "Hast Du ein Problem?" an ihn.
  64. Obwohl nun ein Begleiter des Angeklagten einschritt und ihn von Frank B.
  65. wegzog, begab sich der Angeklagte erneut an dessen Tisch. Möglicherweise
  66. infolge seiner Erregung und des Alkohol- und Drogeneinflusses ging der Angeklagte auch davon aus, Frank B.
  67. wolle sich mit ihm körperlich messen und
  68. sei auf ihn fixiert, was tatsächlich nicht zutraf. Der Angeklagte befürchtete in
  69. einem Schlagabtausch dem körperlich überlegenen Frank B. zu unterliegen
  70. und entschloß sich deshalb, diesem einen "einzigen, blitzschnellen und kräftigen" Messerstich in den Brustbereich zu versetzen. Von B.
  71. unbemerkt öff-
  72. nete er ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von etwa 10 cm und stach in
  73. einer plötzlichen Drehbewegung in die Mitte der Brust des Geschädigten, des-
  74. -5-
  75. sen Tod er billigend in Kauf nahm. Nach dem Stich wich der Angeklagte von
  76. Frank B. zurück. Dieser merkte zwar, daß er blutete, war aber noch in der Lage, die Treppe von der Empore zum Eingangsbereich der Diskothek hinunterzulaufen und umstehende Personen auf den Angeklagten aufmerksam zu machen.
  77. Durch den Messerstich wurde eine Arterie im Brustkorb Frank B. s
  78. durchtrennt, was zu einem akut lebensgefährlichen Zustand führte.
  79. II.
  80. 1. Die Revision der Staatsanwaltschaft
  81. Ohne Erfolg wendet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, daß der Angeklagte nicht wegen versuchten Mordes, sondern nur wegen versuchten Totschlags verurteilt worden ist.
  82. a) Das Landgericht ist zwar davon ausgegangen, daß sich Frank B.
  83. im Zeitpunkt des mit Tötungsvorsatz geführten Messerstichs keines Angriffs
  84. durch den Angeklagten auf seine körperliche Unversehrtheit versah und hat
  85. deshalb das Mordmerkmal der Heimtücke in objektiver Hinsicht als erfüllt angesehen. Vom Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals
  86. hat sich die Strafkammer hingegen nicht zu überzeugen vermocht.
  87. Das Landgericht ist mit tragfähiger Begründung zu dem Ergebnis gelangt, daß der Angeklagte die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers nicht erkannt hat. Er war zur Tatzeit stark angetrunken, stand zudem unter Drogeneinfluß und befand sich nach durchtanzter Nacht in "gesteigerter Stimmung". Er
  88. verhielt sich gegenüber dem Tatopfer, auch für Dritte erkennbar, offen aggressiv. Der Angeklagte sprach Frank B.
  89. nicht nur mit einer provozierenden
  90. -6-
  91. Frage an, sondern sein aggressives Verhalten veranlaßte seinen Begleiter, ihn
  92. von Frank B.
  93. wegzuziehen und beschwichtigend auf ihn einzureden. Wenn
  94. das Landgericht hieraus folgert, der erheblich berauschte und erregte Angeklagte sei nicht ausschließbar davon ausgegangen, auch das Tatopfer habe
  95. sein aggressives Verhalten wahrgenommen und deswegen mit einem erheblichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit gerechnet, ist dies ein jedenfalls möglicher und deshalb vom Revisionsgericht hinzunehmender tatrichterlicher Schluß. Dem steht auch nicht entgegen, daß der Angeklagte Frank B.
  96. durch einen einzigen, in einem günstigen Augenblick geführten, "blitzschnellen" Messerstich ausschalten wollte. Dieser Entschluß setzte, anders als der
  97. Generalbundesanwalt meint, nicht denknotwendig den Plan des Angeklagten
  98. voraus, sich die Ahnungs- und Schutzlosigkeit des Tatopfers für den Angriff
  99. zunutze zu machen. Vielmehr ist die Vorstellung, einen plötzlichen und deshalb
  100. möglichst wirkungsvollen ersten Angriff führen zu müssen, um jede Gegenwehr
  101. des Angegriffenen von vorneherein zu unterbinden, ohne weiteres auch mit der
  102. Annahme des Angeklagten, sich in eine Auseinandersetzung mit einem abwehrbereiten, körperlich überlegenen Gegner zu begeben, in Einklang zu bringen.
  103. b) Auch die Begründung, mit der das Landgericht das Mordmerkmal der
  104. niedrigen Beweggründe verneint hat, hält rechtlicher Überprüfung stand.
  105. Ob ein Beweggrund niedrig ist, also nach allgemeiner Wertung auf
  106. tiefster Stufe steht, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung zu beurteilen, welche
  107. die Umstände der Tat und ihre Vorgeschichte, sowie die Persönlichkeit des
  108. Täters und seine seelische Situation einbezieht (BGH NStZ-RR 2000, 333).
  109. Zwar kommt dem krassen Mißverhältnis zwischen Tatentschluß und Tötung,
  110. wie es hier vorliegt, maßgebliche Bedeutung zu. Die Feststellung eines sol-
  111. -7-
  112. chen Mißverhältnisses genügt aber allein nicht für die Annahme eines niedrigen Beweggrundes. Faßte der Täter, wie hier, den Tatentschluß vielmehr ohne
  113. Plan und Vorbereitung "spontan" aus der Situation heraus, ist besonders sorgfältig zu prüfen, ob sich der Täter der Umstände bewußt war, die seine Beweggründe als niedrig erscheinen lassen (BGH NStZ 1983, 19; BGH NStZ-RR
  114. aaO). Diese Grundsätze hat das Landgericht beachtet.
  115. Es hat sich mit den für die Tatbegehung in Frage kommenden Motiven
  116. des Angeklagten auseinandergesetzt und in Betracht gezogen, daß der Angeklagte möglicherweise aus einem "übersteigerten Ehrgefühl" handelte, weil er
  117. es nicht ertragen konnte, im Beisein Daniela N. s zurechtgewiesen worden zu
  118. sein. Es hat aber auch nicht auszuschließen vermochte, daß Wut und Ärger
  119. des Angeklagten über die Art und Weise, wie ihn Frank B.
  120. ansprach, Anlaß
  121. für die Tat waren. Im Rahmen der Gesamtwürdigung stellt die Strafkammer
  122. darauf ab, daß diese Motive vor dem Hintergrund des jugendlichen Alters, der
  123. impulsiven Natur und der toxischen Beeinflussung des Angeklagten, der sich
  124. vom späteren Tatopfer durch die grobe Ansprache provoziert und zu einer körperlichen Auseinandersetzung herausgefordert fühlte, zu sehen sind. Das
  125. Landgericht hat deshalb nicht feststellen können, daß sich der Angeklagte in
  126. dem Augenblick, als er den Messerstich gegen Frank B. führte, der Niedrigkeit seiner Motivation - diese unterstellt - überhaupt bewußt war. Dies ist aus
  127. Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
  128. 2. Revision des Angeklagten
  129. Der Revision des Angeklagten bleibt ebenfalls der Erfolg versagt. Das
  130. Urteil weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Der Erörterung bedarf nur die Frage eines strafbefreienden Rücktritts vom Versuch des
  131. Totschlags (§ 24 Abs. 1 StGB).
  132. -8-
  133. Das Landgericht hat zwar im Ergebnis zu Recht einen strafbefreienden
  134. Rücktritt des Angeklagten vom Versuch des Totschlags abgelehnt. Nicht frei
  135. von rechtlichen Bedenken ist jedoch die Annahme, es liege ein beendeter Versuch vor.
  136. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es
  137. für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für
  138. die Voraussetzung eines strafbefreienden Rücktritts darauf an, ob der Täter
  139. nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den
  140. Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont, vgl. nur BGHSt 39, 221, 227).
  141. Zwar liegt es bei gefährlichen Gewalthandlungen nahe, daß der Täter
  142. die lebensgefährliche Wirkung und Möglichkeit des Erfolgseintritts kennt
  143. (BGHSt 39, 221, 231 m.w.N.). Diese Kenntnis versteht sich jedoch nicht von
  144. selbst, wenn das Opfer nach der letzten Ausführungshandlung noch in der Lage ist, sich ohne erkennbare Beeinträchtigung vom Tatort wegzubewegen. Angesichts dessen, daß Frank B. nach dem Messerstich - gefolgt vom Angeklagten - noch die Treppen hinunterlief, im Eingangsbereich stehenblieb und umstehende Personen auf den flüchtenden Angeklagten aufmerksam machte,
  145. liegt hier (aus der allein maßgeblichen Sicht des Angeklagten) jedenfalls nach
  146. den Grundsätzen der Rechtsprechung über den korrigierten Rücktrittshorizont
  147. (BGHSt 36, 224) die Annahme eines beendeten Versuchs eher fern. Aufgrund
  148. welcher Umstände der Angeklagte nach dem Stich trotz des Verhaltens Frank
  149. B. s davon ausging, das Tatopfer bereits lebensgefährlich verletzt zu haben,
  150. der Versuch also aus Sicht des Angeklagten beendet gewesen wäre, ergeben
  151. die Urteilsgründe nicht.
  152. -9-
  153. Diesen ist jedoch zu entnehmen, daß ein strafbefreiender Rücktritt auch
  154. im Falle des Vorliegens eines unbeendeten Versuchs nicht in Betracht käme,
  155. da der Angeklagte jedenfalls nicht freiwillig von einer weiteren Tatausführung
  156. Abstand nahm (vgl. BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Freiwilligkeit 7). Das Landgericht ist mit nachvollziehbarer Begründung zu dem Ergebnis gelangt, daß der
  157. Angeklagte nach seiner Vorstellung ein weiteres Eindringen auf das Tatopfer
  158. für aussichtslos hielt, weil er bei einer erneuten Annäherung mit der Gegenwehr des Geschädigten und mit dem sofortigen Einschreiten umstehender Diskothekenbesucher rechnete.
  159. Tepperwien
  160. Maatz
  161. Ernemann
  162. Athing
  163. Sost-Scheible