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2501 lines
117 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 1 StR 205/09
  5. vom
  6. 28. Oktober 2009
  7. BGHSt:
  8. nein
  9. BGHR:
  10. ja
  11. Nachschlagewerk:
  12. ja
  13. Veröffentlichung:
  14. ja
  15. _______________________
  16. StPO § 200 Abs. 1 Satz 1
  17. Zur Frage, inwieweit zur Beurteilung der Umgrenzungsfunktion der Anklage auf das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen zur Prüfung der Frage zurückgegriffen werden kann, gegen welchen von mehreren Angeklagten sich ein bestimmter
  18. Vorwurf richtet.
  19. BGH, Urt. vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09 - LG Münster
  20. in der Strafsache
  21. gegen
  22. -2-
  23. 1.
  24. 2.
  25. 3.
  26. wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
  27. -3-
  28. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
  29. 28. Oktober 2009, an der teilgenommen haben:
  30. Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
  31. Nack
  32. und der Richter am Bundesgerichtshof
  33. Dr. Wahl,
  34. die Richterin am Bundesgerichtshof
  35. Elf,
  36. die Richter am Bundesgerichtshof
  37. Dr. Graf,
  38. Prof. Dr. Sander,
  39. Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
  40. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  41. Rechtsanwalt
  42. als Verteidiger des Angeklagten S.
  43. Rechtsanwalt
  44. und Rechtsanwalt
  45. als Verteidiger des Angeklagten K.
  46. ,
  47. ,
  48. Rechtsanwältin
  49. als Verteidigerin des Angeklagten J.
  50. Justizangestellte
  51. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  52. für Recht erkannt:
  53. ,
  54. -4-
  55. 1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil
  56. des Landgerichts Münster vom 12. März 2008 wird
  57. a) das vorbezeichnete Urteil, soweit es den Angeklagten J.
  58. betrifft, im Fall B.II.3 der Urteilsgründe aufgehoben und
  59. das Verfahren insofern eingestellt; im Umfang der Einstellung hat die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und
  60. die notwendigen Auslagen des Angeklagten J.
  61. zu tra-
  62. gen,
  63. b) das genannte Urteil im Übrigen, soweit die Angeklagten
  64. S.
  65. , K.
  66. und J.
  67. freigesprochen wurden, mit
  68. den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.
  69. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die verbleibenden Kosten
  70. dieser Rechtsmittel - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  71. 3. Die den Angeklagten J.
  72. betreffende weitergehende Revi-
  73. sion der Staatsanwaltschaft wird verworfen.
  74. Von Rechts wegen
  75. -5-
  76. Gründe:
  77. 1
  78. Das Landgericht hat die Angeklagten (betreffend den Angeklagten S.
  79. in den Fällen B.I., B.II.2 und 3 der Urteilsgründe, bei dem Angeklagten
  80. K.
  81. in den Fällen B.II.1 bis 3 der Urteilsgründe und bezüglich des Angeklag-
  82. ten J.
  83. in den Fällen B.II.1 und 3 der Urteilsgründe) von den Vorwürfen der
  84. gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit Misshandlung und entwürdigender Behandlung freigesprochen. Die hiergegen gerichteten Revisionen der
  85. Staatsanwaltschaft, mit denen sie die Verletzung materiellen Rechts rügt und
  86. die vom Generalbundesanwalt vertreten werden, führen betreffend den Angeklagten J.
  87. zur Einstellung des Verfahrens im Fall B.II.3 der Urteilsgründe,
  88. weil es insofern an den Verfahrensvoraussetzungen der Erhebung einer ordnungsgemäßen Anklage und damit auch an der ordnungsgemäßen Zulassung
  89. der Anklage fehlt. Im Übrigen war das Urteil in dem aus dem Urteilstenor ersichtlichen Umfang aufzuheben. Soweit die Beschwerdeführerin betreffend den
  90. Angeklagten J.
  91. zudem im Fall B.II.2 der Urteilsgründe einen Verstoß ge-
  92. gen die gerichtliche Kognitionspflicht beanstandet, bleibt das Rechtsmittel hingegen ohne Erfolg.
  93. I.
  94. 2
  95. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
  96. 3
  97. 1. Die Angeklagten - bis auf den Mitangeklagten Sc.
  98. allesamt Unter-
  99. offiziere verschiedenen Ranges - waren im Jahr 2004 in Coesfeld in der
  100. 7. Kompanie des 7. Instandsetzungsbataillons der Bundeswehr tätig und bildeten dort Rekruten in der Grundausbildung aus. Bei dieser Kompanie, die in der
  101. Freiherr-vom-Stein-Kaserne stationiert war und die vom Mitangeklagten Haupt-
  102. -6-
  103. mann Sc.
  104. geführt wurde, handelt es sich um eine reine Ausbildungskom-
  105. panie, der jeweils zu Quartalsbeginn neue Rekruten zur dreimonatigen Allgemeinen Grundausbildung zugewiesen wurden.
  106. 4
  107. Zur Tatzeit - im zweiten und dritten Quartal 2004 - war der Angeklagte
  108. S.
  109. im Rang eines Oberfeldwebels als Gruppenführer eingesetzt. Der An-
  110. geklagte K.
  111. war im zweiten Quartal 2004 zum Hauptfeldwebel befördert
  112. und als Gruppenführer im zweiten Zug sowie im dritten Quartal 2004 als stellvertretender Zugführer im ersten Zug eingesetzt worden. Der Angeklagte J.
  113. war im Juni/Juli 2004 zur 7. Kompanie nach Coesfeld versetzt worden und
  114. seitdem im Rang eines Stabsunteroffiziers als Gruppenführer tätig.
  115. 5
  116. 2. Im zweiten und dritten Quartal 2004 galt für die Ausbildung der Rekruten die „Anweisung für die Truppenausbildung Nummer 1“ (AnTrA1), Stand Juni
  117. 2001. Sie regelte Ziele und Inhalte der Allgemeinen Grundausbildung und sah
  118. für die dreimonatige Allgemeine Grundausbildung der Rekruten eine Ausbildung
  119. „Geiselnahme/Verhalten in Geiselhaft“ nicht vor. Am 8. Juli 2004 wurde nach
  120. längeren Überlegungen im Bundesministerium der Verteidigung eine geänderte
  121. AnTrA1 herausgegeben, die zum 1. Oktober 2004 in Kraft trat. Diese enthielt
  122. einen neuen Teil „Basisausbildung EAKK“ (Einsatzvorbereitende Ausbildung für
  123. Krisenbewältigung und Konfliktverhütung) mit dem Ziel, bereits in der Grundausbildung die für einen Auslandseinsatz im Rahmen der Konfliktverhütung und
  124. Krisenbewältigung erforderlichen Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten zu erlernen. Dieser neue Ausbildungsteil sah eine zweistündige, vom Kompaniechef
  125. selbst durchzuführende, ausschließlich theoretische Unterrichtseinheit über
  126. Geiselhaft, Entführung und Gefangenschaft bei Einsätzen sowie über die Konfrontation mit Verwundung und Tod und deren Bewältigung vor. Eine praktische
  127. Übung in einem solchen Zusammenhang und zu diesem Thema ist nicht vorge-
  128. -7-
  129. sehen. Diese geänderte AnTrA1 war bereits seit dem 19. Juli 2004 im Intranet
  130. der Bundeswehr abrufbar.
  131. 6
  132. Schon zuvor fanden im Vereinte-Nationen-Ausbildungszentrum in Hammelburg Lehrgänge statt, in denen Zugführer von Ausbildungskompanien für die
  133. Ausbildung nach der neuen AnTrA1 geschult wurden, um als Multiplikatoren für
  134. die übrigen Ausbilder zu fungieren. Den Ausbildern wurden hier die neuen Inhalte der geänderten AnTrA1 auszugsweise vermittelt. Es wurde ihnen aufgezeigt, wie die neuen Ausbildungsinhalte in den Einheiten praktisch umgesetzt
  135. werden konnten. Eine Ausbildung zum Thema „Geiselnahme/Verhalten in Geiselhaft“ erfolgte nicht. Die Mitangeklagten D.
  136. und H.
  137. hatten an ei-
  138. nem solchen Lehrgang bereits teilgenommen.
  139. 7
  140. Die Übung „Geiselnahme/Verhalten in Gefangenschaft“ ist ein Abschnitt
  141. der „Einsatzbezogenen Zusatzausbildung“, die von der Bundeswehr nur für diejenigen Soldaten auf Zeit, freiwillig länger Dienende oder Berufssoldaten vorgesehen ist, die ihre Ausbildung bereits abgeschlossen und den Befehl bekommen haben, an einem Auslandseinsatz teilzunehmen. Diese Übung wurde von
  142. der Bundeswehr nur an drei Standorten im Bundesgebiet durchgeführt, wozu
  143. die Freiherr-vom-Stein-Kaserne aber nicht gehörte. Sie wurde zudem zuvor im
  144. Unterricht mit allen Teilnehmern besprochen und von Psychologen begleitet.
  145. Die Übung selbst lief dergestalt ab, dass die auszubildenden Soldaten eine
  146. Busfahrt unternahmen, während derer sie überfallen wurden. Ihnen wurden die
  147. Augen verbunden und sie wurden aufgefordert, ihre Hände in den Nacken, auf
  148. die Knie oder die Sitzbank vor ihnen zu legen. Anschließend wurden sie an einen Ort verbracht, an dem eine „Befragung“ stattfand. Hierbei wurden die Soldaten, deren Augen nach wie vor verbunden waren, physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt, um bei ihnen Stress zu erzeugen. Sie wurden
  149. -8-
  150. lautstark befragt und mussten körperliche Übungen wie Liegestütze oder Kniebeugen machen. Zudem wurde ihnen gedroht, Kameraden zu schlagen oder zu
  151. erschießen, wenn sie nicht die gewünschten Antworten gaben. Zur möglichst
  152. realistischen Untermalung wurden die entsprechenden Geräusche (Schläge
  153. und Schüsse) simuliert. Während der Übung hatten die Soldaten - wie ihnen
  154. beim vorhergehenden Unterricht gesagt worden war - jederzeit die Möglichkeit,
  155. durch ein Handzeichen aus der Übung auszusteigen. Die Mitangeklagten D.
  156. und H.
  157. hatten eine solche „Einsatzbezogene Zusatzausbildung“ be-
  158. reits absolviert.
  159. 8
  160. 3. Nachdem in der Vergangenheit auch außerhalb der drei festgelegten
  161. Standorte eine Ausbildung „Geiselnahme/Geiselhaft“ durchgeführt worden war,
  162. die nicht derjenigen in den drei Ausbildungszentren entsprach und die bei einigen Teilnehmern zu Anzeichen einer Traumatisierung geführt hatte, wies das
  163. Heeresführerkommando der Bundeswehr in einem als „VS - nur für den Dienstgebrauch“ gekennzeichneten Schreiben vom 26. Februar 2004 darauf hin, dass
  164. diese Ausbildung ausschließlich im Rahmen der „Einsatzbezogenen Zusatzausbildung“ in den drei Ausbildungs- beziehungsweise Gefechtsübungszentren
  165. durchgeführt werden dürfe, da sie dort unter Anleitung des dafür speziell geschulten Personals erfolgen könne. Empfänger dieses Schreibens war auch die
  166. 7. Ausbildungskompanie in Coesfeld. Außerdem war in dem „Befehl 38/10“ vom
  167. 12. April 2004 die Ausbildung über das Thema „Verhalten in Geiselhaft“ ausschließlich dem Vereinte-Nationen-Ausbildungszentrum zugewiesen worden.
  168. Dass die Angeklagten dieses Schreiben oder den Befehl kannten, vermochte
  169. die Kammer nicht festzustellen.
  170. 9
  171. 4. Anfang April 2004 (Fall B.I. der Urteilsgründe) begannen in der Freiherr-vom-Stein-Kaserne etwa 80 Rekruten, von denen zirka die Hälfte Wehr-
  172. -9-
  173. dienstleistende waren, ihre dreimonatige Grundausbildung. Es wurden zwei
  174. Ausbildungszüge gebildet, deren Zugführer die Mitangeklagten Hauptfeldwebel
  175. D.
  176. 10
  177. und H.
  178. waren.
  179. a) Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Verlauf des
  180. zweiten Quartals 2004 kamen die beiden Zugführer auf die Idee, in der Allgemeinen Grundausbildung in Coesfeld eine Geiselnahmeübung durchzuführen.
  181. Ihnen war - ebenso wie dem Mitangeklagten Hauptmann Sc.
  182. - bekannt,
  183. dass eine Änderung der AnTrA1 bevorstand und auch eine Übung „Geiselhaft“
  184. in die Allgemeine Grundausbildung eingeführt werden sollte. Nach Ansicht der
  185. Kammer ließ sich jedoch nicht feststellen, ob sie auch wussten, dass diese
  186. Übung lediglich theoretisch und nur durch den Kompaniechef ausgebildet werden sollte.
  187. Vor dem 8. Juni 2004 fand auf Anordnung der beiden Zugführer eine
  188. 11
  189. Ausbilderbesprechung statt, an der auch der Angeklagte S.
  190. teilnahm. Da-
  191. bei wurde der grobe Ablauf der Geiselnahmeübung erörtert. Die beiden Zugführer D.
  192. und H.
  193. beabsichtigten, die Rekruten nach der dienstplanmä-
  194. ßigen Nachtschießübung am 8. Juni 2004 gruppenweise auf einen nächtlichen
  195. Orientierungsmarsch zu schicken, bei dem zum Schluss die „Geiselnahme“ mit
  196. anschließendem „Verhör“ erfolgen sollte. Weder der Orientierungsmarsch noch
  197. die Geiselnahmeübung standen auf dem für die Rekruten einsehbaren Dienstplan und waren diesen somit nicht bekannt. Auch auf den Dienstplänen, die von
  198. den Zugführern erstellt und dem Mitangeklagten Sc.
  199. zur Unterzeichnung
  200. und anschließenden Weiterleitung an das Bataillon vorgelegt worden waren,
  201. war eine Geiselnahme nicht erwähnt.
  202. - 10 -
  203. Die beiden Zugführer D.
  204. 12
  205. Ausbildern den Angeklagten S.
  206. und H.
  207. teilten neben fünf weiteren
  208. für das „Überfallkommando“ ein. Dieses
  209. sollte die Rekruten nach Bewältigung des Nachtmarsches in den frühen Morgenstunden des 9. Juni 2004 überfallen, entwaffnen, fesseln und ihnen die Augen verbinden. Für die Fesselung waren dabei Kabelbinder vorgesehen, weil
  210. den bei der Besprechung Anwesenden bei dem Gebrauch von „Panzerklebeband“ die Verletzungsgefahr zu hoch erschien. Anschließend sollten die Rekruten mit einem Pritschenwagen zum Standortübungsplatz gefahren werden, um
  211. in einer dortigen Sandgrube „verhört“ zu werden. Für dieses „Verhör“ teilten die
  212. beiden Zugführer den früheren Mitangeklagten He.
  213. Mitangeklagte D.
  214. ein. Diesem sagte der
  215. , das „Verhör“ solle „etwa so wie in Hammelburg“, im
  216. Vereinte-Nationen-Ausbildungszentrum, ablaufen, wo der frühere Mitangeklagte
  217. He.
  218. eine Geiselnahmeübung absolviert hatte. Außerdem wurde vereinbart,
  219. den Rekruten vor dem Überfall das Codewort „Tiffy“ mitzuteilen, mit dem die
  220. Rekruten jederzeit aus der Übung aussteigen könnten. Dieser Begriff wurde in
  221. der Grundausbildung als Synonym für „Schwächling“ oder „Weichei“ verwendet,
  222. um Kameraden zu verhöhnen.
  223. 13
  224. Das Landgericht sah sich nicht in der Lage aufzuklären, ob bei dieser
  225. Ausbilderbesprechung noch weitere Einzelheiten der Geiselnahmeübung erörtert wurden. Die beiden Mitangeklagten D.
  226. und H.
  227. teilten den Anwe-
  228. senden mit, die geplante Geiselnahmeübung sei vom Kompaniechef „abgesegnet worden“. Tatsächlich hatte der Mitangeklagte Hauptmann Sc.
  229. eine sol-
  230. che Übung auch genehmigt, obwohl er Bedenken hatte, weil er wusste, dass
  231. diese in der geltenden AnTrA1 nicht vorgesehen war.
  232. 14
  233. b) Gegen Ende der Nachtschießübung am 8. Juni 2004 erklärten die beiden Zugführer D.
  234. und H.
  235. den angetretenen Rekruten, im Raum
  236. - 11 -
  237. Coesfeld seien Terroristen gesichtet worden, das Gebiet müsse bestreift und
  238. sämtliche Auffälligkeiten müssten dokumentiert werden. Die Rekruten, die ihr
  239. gesamtes Marschgepäck und ihr Gewehr bei sich hatten, machten sich gruppenweise auf den Weg. Dabei marschierten die einzelnen Gruppen zeitlich versetzt ohne ihren planmäßigen Gruppenführer los. Die Rolle des Gruppenführers
  240. musste jeweils ein Rekrut übernehmen. Es gab keinen ausdrücklichen Hinweis
  241. darauf, dass etwas Besonderes passieren könnte. Entgegen der ursprünglichen
  242. Planung in der Ausbilderbesprechung wurde den Rekruten ein Kennwort, mit
  243. dem die Übung hätte beendet werden können, nicht mitgeteilt. Lediglich manchen Rekruten war während ihres späteren „Verhörs“ gesagt worden, sie müssten nur das Wort „Tiffy“ sagen, um aus der Übung auszusteigen.
  244. c) Die sechs Beteiligten des „Überfallkommandos“ hatten einen Hinter-
  245. 15
  246. halt im Gelände eingerichtet. Sie trugen Bundeswehrkleidung, hatten aber teilweise ihre Dienstgradabzeichen und Namensschilder entfernt. Ihre Gesichter
  247. waren vermummt, um nicht auf den ersten Blick erkannt zu werden. Sie hatten
  248. Gewehre mit geladenen Manöverpatronengeräten dabei, teilweise auch ungeladene Pistolen und mehrere Übungsgranaten. Es waren auch Kabelbinder zum
  249. vorgesehenen Überfallort gebracht worden. Diese sollten laut Anweisung der
  250. Zugführer D.
  251. und H.
  252. den Rekruten möglichst über der Kleidung an-
  253. gelegt und nicht ganz eng zugezogen werden, damit sie nicht in die Haut schnitten.
  254. Die erste Gruppe traf verspätet erst in den Morgenstunden des 9. Juni
  255. 16
  256. 2004 ein. Das „Überfallkommando“, das zeitweise von den Mitangeklagten
  257. D.
  258. und H.
  259. verstärkt wurde, die dann zum Teil beim Überfallen und
  260. Überwältigen der Rekruten mithalfen, lenkte die Rekruten zuerst ab und griff sie
  261. dann schreiend und schießend an. Die Rekruten waren im Allgemeinen zu
  262. - 12 -
  263. überrascht und - nach rund 24 Stunden Dienst und dem mehrstündigen Orientierungsmarsch - zumeist auch zu erschöpft, um noch größere Gegenwehr zu
  264. leisten. Sie gingen durchweg davon aus, dass es sich bei den maskierten Angreifern um Bundeswehrangehörige handelte. In aller Regel kamen die Rekruten der Aufforderung, sich zu ergeben und sich auf den Boden zu legen, letztlich freiwillig nach. Bei manchen Rekruten halfen die Angreifer mit körperlichem
  265. Druck nach. Allerdings leisteten andere Rekruten auch Widerstand. So wurde
  266. der Zeuge L.
  267. von einem der Angreifer zu Boden gerissen, wo er auf
  268. dem Bauch zum Liegen kam. Damit er nicht wieder aufstehen konnte, drückte
  269. einer der Ausbilder ein Knie auf seinen Hals. Anschließend wurden L.
  270. s
  271. Hände mit den Kabelbindern auf den Rücken gefesselt und zusätzlich mit der
  272. Splitterschutzweste oder dem Koppeltragegestell verbunden, wodurch seine
  273. Arme nach oben gezogen wurden und er schmerzhaften Druck auf seinen
  274. Schultern verspürte. Als er sich gegen die Fesselung wehrte, nahm einer der
  275. Angreifer das Knie des Zeugen L.
  276. in einen Haltegriff, so dass dessen
  277. Bein verdreht wurde und er Schmerzen erlitt. Auch mit dem Zeugen R.
  278. gab es bei der Entwaffnung eine „kleine Rangelei“, bei der er aber nicht verletzt
  279. wurde. Der Zeuge Kl.
  280. wurde bei dem Überfall von hinten in einen Würgegriff
  281. genommen und zu Boden gebracht.
  282. 17
  283. Alle Rekruten mussten sich nach ihrer Entwaffnung hinknien oder auf
  284. den Bauch legen. Ihnen wurden die Hände mit Kabelbindern auf den Rücken
  285. gefesselt, wobei größtenteils darauf geachtet wurde, dass sie nicht zu stramm
  286. anlagen. Bei den meisten Soldaten hinterließen die Kabelbinder keine Spuren.
  287. Sechs Rekruten trugen jedoch Druckstellen an den Handgelenken davon; zwei
  288. - darunter der Zeuge F.
  289. , der vom Angeklagten S.
  290. gefesselt worden
  291. war - erlitten Kratzer beziehungsweise kleine Schnittwunden an den Armen. Bei
  292. einem Rekruten saßen die Kabelbinder so stramm, dass sie Schmerzen verur-
  293. - 13 -
  294. sachten und es später Schwierigkeiten bereitete, ihn davon zu befreien. Bei
  295. dem Versuch eines Ausbilders, sie mit einem Taschenmesser zu durchtrennen,
  296. trug der Rekrut eine leichte Schnittverletzung davon.
  297. 18
  298. Die Augen der Rekruten wurden mit einem Dreiecktuch verbunden; möglicherweise wurde einzelnen auch ein Wäschesack über den Kopf gezogen.
  299. Teilweise wurden sie bereits jetzt befragt. Als der Zeuge B.
  300. , der mit ge-
  301. fesselten Händen und verbundenen Augen auf dem Boden lag, hierbei „patzige“
  302. Antworten gab, stellte einer der Ausbilder seinen Stiefel unter dessen Hoden
  303. und hob den Stiefel etwa zwei Sekunden an. Dies war für den Zeugen B.
  304. schmerzhaft.
  305. 19
  306. d) Nachdem sämtliche Rekruten einer Gruppe wie geschildert außer Gefecht gesetzt worden waren, was zwischen fünf und zehn Minuten dauerte,
  307. wurden sie von den Ausbildern auf die Ladefläche eines Pritschenwagens „verladen“. Dabei wurde ein Rekrut „in den Lkw hineingezogen oder unsanft hineingeschoben“. Ein anderer kam nach dem Einladen auf einem Kameraden zu liegen und wieder ein anderer wurde auf den Lkw geschubst, wobei er sich das
  308. Knie schmerzhaft anstieß. Während der langsamen Fahrt zur etwa zwei Kilometer entfernten Sandgrube war einer der Angreifer - bei einer Fahrt auch der Angeklagte S.
  309. - auf dem Lkw dabei, um für Ruhe zu sorgen und zu verhin-
  310. dern, dass die Rekruten miteinander redeten. Kam ein Rekrut einer Anweisung
  311. nicht nach, so erhielt er einen leichten Schlag - zumeist auf den Helm. Dies war
  312. - mit Ausnahme der Schläge, die der Zeuge L.
  313. bezog - nicht
  314. schmerzhaft. Jedoch bekam ein Rekrut während der Fahrt aufgrund der beengten Platzverhältnisse einen schmerzhaften Krampf in den Beinen.
  315. - 14 -
  316. e) Nach etwa fünf bis zehn Minuten Fahrt an der Sandgrube angekom-
  317. 20
  318. men, wurden die Rekruten einzeln von der Ladefläche geholt, wobei darauf geachtet wurde, dass sie sich nicht verletzten. Fünf Rekruten fielen beim „Abladen“ allerdings auf den Sandboden. Der Ausbilder fuhr mit dem Pritschenwagen
  319. zurück zum Überfallort, um auf die nächste Gruppe zu warten.
  320. Die Rekruten mussten sich in einem von dem früheren Mitangeklagten
  321. 21
  322. He.
  323. und den ihm zur Unterstützung zugeteilten drei Hilfsausbildern mit Sta-
  324. cheldraht abgetrennten Bereich zunächst hinknien. Einige wurden angewiesen,
  325. sich mit ihrem Kopf an eine steile Sandwand anzulehnen. Es begann dann das
  326. vom früheren Mitangeklagten He.
  327. geleitete „Verhör“. Dabei befragte er die
  328. Rekruten zuerst ganz allgemein in gebrochenem Englisch. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Die Rekruten waren auf eine solche Übung nicht vorbereitet
  329. worden, so dass sie nicht wussten, wie sie sich richtig zu verhalten hatten. Die
  330. schweigenden Rekruten und diejenigen, die unpassende Antworten gaben, unterzog der frühere Mitangeklagte He.
  331. unterschiedlichen „Behandlungen“, die
  332. er sich ausgedacht hatte.
  333. 22
  334. So mussten sich einige Rekruten - mit nach wie vor auf dem Rücken gefesselten Händen - in einer Entfernung von etwa einem Meter einem Kameraden gegenüber hinknien. Beiden wurde dann der Oberkörper so weit nach vorne gezogen, bis sie sich mit ihren Helmen gegenseitig stützten. Dies führte dazu, dass beide in den Sand fielen, sobald einer von ihnen die Position nicht
  335. mehr halten konnte. Teilweise mussten sich die gefesselten Rekruten an einen
  336. Baum stellen und sich mit dem behelmten Kopf daran anlehnen. Ihnen wurden
  337. die Füße ebenfalls so weit zurückgezogen, bis sie ihre Stellung nur mit Mühe
  338. halten konnten. Wäre ein Rekrut abgerutscht, wäre er ohne die Möglichkeit des
  339. Abfangens umgefallen. Andere Rekruten wurden von den Kabelbindern befreit
  340. - 15 -
  341. und mussten mit verbundenen Augen Liegestütze oder Kniebeugen machen.
  342. Den Zeugen B.
  343. fasste der frühere Mitangeklagte He.
  344. dabei am Kragen
  345. und drückte ihn nach unten, wodurch die Ausführung der Liegestütze erheblich
  346. erschwert wurde und der Zeuge mit dem Kopf auf den Sandboden aufschlug.
  347. Wieder andere mussten allein oder zu zweit mit verbundenen Augen einen
  348. Baumstamm vor dem Körper oder über dem Kopf halten.
  349. Für den Fall, dass Rekruten Aufgaben nicht erfüllten oder Fragen des
  350. 23
  351. früheren Mitangeklagten He.
  352. nicht beantworteten, gab es simulierte Erschie-
  353. ßungen dergestalt, dass zunächst die Erschießung des Rekruten oder eines
  354. Kameraden angedroht und schließlich ein Feuerstoß aus dem Maschinengewehr abgegeben wurde.
  355. Aus einer mitgebrachten Kübelspritze wurden zahlreiche Rekruten mit
  356. 24
  357. Wasser bespritzt. Dem Zeugen L.
  358. wurde, während er von oben herab
  359. nass gespritzt wurde, gesagt, es werde auf ihn und seine Gruppe uriniert. Einigen Rekruten wurde Sand unter die Kleidung geworfen und wieder andere wurden mit beidem - Sand und Wasser - „traktiert“. Da der nasse Sand an der Kleidung haftete und auf der Haut rieb, führte dies bei zwei Rekruten dazu, dass sie
  360. sich beim anschließenden Marsch in die Kaserne die Oberschenkel wund liefen
  361. beziehungsweise sich ihre bereits vorhandenen wunden Stellen verschlimmerten.
  362. Einem anderen Teil der Rekruten pumpten der frühere Mitangeklagte
  363. 25
  364. He.
  365. und ein Hilfsausbilder mit der Kübelspritze Wasser auch in den Mund,
  366. wobei ein anderer den Rekruten festhielt. Der Zeuge L.
  367. wurde im
  368. Laufe seiner Befragung auf den Rücken gelegt, was die Schmerzen in seinen
  369. Schultern verschlimmerte; dabei wurde er festgehalten. Zusätzlich wurde sein
  370. - 16 -
  371. Mund gewaltsam geöffnet, indem der frühere Mitangeklagte He.
  372. oder in des-
  373. sen Beisein ein Hilfsausbilder mit der Hand Druck auf den Unterkiefer ausübte.
  374. In den geöffneten Mund wurde sodann mehrmals Wasser hineingepumpt, so
  375. dass der Zeuge L.
  376. keine Luft mehr bekam. Schließlich wurde ihm der
  377. Reißverschluss seiner Hose geöffnet, der Schlauch hineingesteckt und Wasser
  378. in die Hose gepumpt. Der frühere Mitangeklagte He.
  379. ßend als „Bettnässer“. Als der Zeuge L.
  380. verhöhnte ihn anschlie-
  381. daraufhin seinerseits He.
  382. beleidigte, bekam er, nachdem er gefragt worden war, ob er sterben wolle, einen metallischen Gegenstand an den Kopf gehalten und hörte einen Maschinengewehrverschluss einrasten. Dadurch geriet er in Panik, weil er dachte, ein
  383. echtes Maschinengewehr werde ihm an den Kopf gehalten, und er wusste, welche Verletzungen auch Platzpatronen in solchen Waffen verursachen können,
  384. wenn sie in unmittelbarer Nähe eines Menschen abgefeuert werden. Es fielen
  385. sodann tatsächlich auch mehrere Schüsse, wobei sich das Maschinengewehr
  386. aber in einiger Entfernung befand.
  387. 26
  388. Der Zeuge Fä.
  389. musste sich während seines Verhörs mit auf dem Rü-
  390. cken gefesselten Händen und verbundenen Augen mit dem Kopf an einen
  391. Baum anlehnen. Die Ausbilder zogen ihm die Beine so weit zurück, bis es für
  392. ihn anstrengend wurde, die Position zu halten. Dann wurde auch ihm mit der
  393. Kübelspritze Wasser in die Hose gepumpt, während er weiter befragt wurde.
  394. Als der Zeuge Fä.
  395. eine „patzige“ Antwort gab, wurde er auf den Rücken ge-
  396. legt und es wurde ihm Wasser in die Nase gepumpt. Anschließend hielt ihm der
  397. frühere Mitangeklagte He.
  398. die Nase zu und drückte ihm den Mund auf, wäh-
  399. rend ihm ein Hilfsausbilder Wasser hinein pumpte. Dabei verschluckte sich Fä.
  400. . Diese Vernehmung des Zeugen Fä.
  401. wurde vom Mitangeklagten D.
  402. der sich zu diesem Zeitpunkt - ebenso wie der Mitangeklagte H.
  403. Sandgrube aufhielt, fotografiert.
  404. ,
  405. - in der
  406. - 17 -
  407. 27
  408. Auch weiteren Rekruten wurde, während sie mit auf dem Rücken gefesselten Händen und verbundenen Augen auf dem Boden knieten oder lagen,
  409. Wasser in den Mund gepumpt. Teilweise wurde ihnen dabei der Mund gewaltsam geöffnet oder die Nase zugehalten, damit sie den Mund öffneten. Einige
  410. Rekruten konnten dadurch nicht mehr richtig atmen. Einem dieser Rekruten
  411. wurde zudem ebenfalls Wasser in die Hose gepumpt.
  412. f) Das „Verhör“ einer Gruppe dauerte zwischen 20 und 30 Minuten. Da-
  413. 28
  414. nach wurden die Rekruten, soweit noch nicht geschehen, von Kabelbindern und
  415. Augenbinden befreit. Der Zeuge L.
  416. konnte, weil seine Schultern auf-
  417. grund der Fesselung derart stark schmerzten, nicht allein aufstehen, sondern
  418. musste von zwei Hilfsausbildern unterstützt werden. Im Anschluss an die
  419. Übung fand eine Nachbesprechung statt.
  420. Die Kammer sah sich nicht in der Lage festzustellen, ob der Angeklagte
  421. 29
  422. S.
  423. wusste, was der frühere Mitangeklagte He.
  424. und die diesem zuge-
  425. wiesenen Hilfsausbilder in der Sandgrube im Einzelnen taten.
  426. 30
  427. 5. Anfang des dritten Quartals 2004 begannen etwa 150 Rekruten ihre
  428. Allgemeine Grundausbildung in der Freiherr-vom-Stein-Kaserne in Coesfeld,
  429. die auf drei Ausbildungszüge verteilt wurden. Zugführer waren unter anderem
  430. die beiden Mitangeklagten D.
  431. und H.
  432. . Nach deren Planung sollten
  433. auch in diesem Quartal wieder Geiselnahmeübungen stattfinden - dieses Mal
  434. jedoch für jeden Zug gesondert.
  435. 31
  436. a) Zunächst sollte der dritte, vom Mitangeklagten H.
  437. die Übung absolvieren (Fall B.II.1 der Urteilsgründe).
  438. geführte Zug
  439. - 18 -
  440. 32
  441. aa) An einem nicht mehr genau feststellbaren Tag vor dem 24. August
  442. 2004 fand deshalb wiederum eine von den Mitangeklagten D.
  443. und H.
  444. anberaumte Ausbilderbesprechung statt, an der auch die Angeklagten
  445. K.
  446. und J.
  447. teilnahmen. Dabei wurde der grobe Ablauf der Geiselnah-
  448. meübung für den dritten Zug erörtert. Die beiden Zugführer D.
  449. und H.
  450. beabsichtigten, die Rekruten nach der dienstplanmäßigen Schießübung
  451. des dritten Zuges am 24. August 2004, die sich bis in den späten Abend hinziehen sollte, wieder auf einen zuvor nicht angekündigten nächtlichen Orientierungsmarsch zu schicken. Gegen dessen Ende sollten sie überfallen, entwaffnet und gefesselt und anschließend mit einem Pritschenwagen zum „Verhör“
  452. gebracht werden, das dieses Mal im Keller des Kasernenblocks 6, in dem der
  453. dritte Zug untergebracht war, stattfinden sollte. Vorgesehen war weiterhin, einen Raum mit Sportmatten auszulegen, in den zunächst alle Rekruten verbracht werden sollten. Von dort sollten die Rekruten dann einzeln in einen anderen Raum zum „Verhör“ gebracht und wieder mit einer Kübelspritze nass
  454. gemacht werden. Anschließend sollten alle Soldaten in einem weiteren Raum
  455. gesammelt werden. Damit sie währenddessen nicht frören, sollten sie mit bereitgelegten Decken zugedeckt werden, bevor sie schließlich freigelassen würden.
  456. 33
  457. Trotz dieser Feststellungen vermochte das Landgericht aber nicht festzustellen, ob der Angeklagte K.
  458. war, und der Angeklagte J.
  459. , der für das „Verhör“ im Keller eingeteilt
  460. , der neben weiteren Ausbildern für den Zugriff
  461. vorgesehen war, jeweils damit rechneten, dass die Rekruten während des „Verhörs“ längere Zeit mit gefesselten Händen und mit verbundenen Augen auf dem
  462. Boden würden knien müssen. Dies gilt ebenso für den Umstand, dass die vorbereitete Kübelspritze dazu Verwendung finden könnte, die Rekruten mit Was-
  463. - 19 -
  464. ser zu durchnässen und ihnen damit gewaltsam Wasser in den Mund zu pumpen. Außerdem sah sich die Kammer auch nicht in der Lage aufzuklären, ob bei
  465. dieser Ausbilderbesprechung noch weitere Einzelheiten der Geiselnahmeübung
  466. erörtert wurden. Allerdings wurde nach den Feststellungen zu der Station „Verhör“ zumindest gesagt, die dafür eingeteilten Ausbilder sollten sich „an den Sachen aus der Sandgrube orientieren“.
  467. 34
  468. Auch hier enthielten weder der für die Rekruten einsehbare, noch der
  469. vom Kompaniechef, dem Mitangeklagten Sc.
  470. , unterzeichnete und an das
  471. Bataillon gesandte Dienstplan Informationen über die geplante Geiselnahme mit
  472. Verhör.
  473. 35
  474. Nach dieser Ausbilderbesprechung sprachen sich die für das „Verhör“
  475. eingeteilten Ausbilder - darunter auch der Angeklagte K.
  476. - ab, wie der Kel-
  477. lerraum für die geplante Befragung der Rekruten herzurichten sei.
  478. 36
  479. bb) Nachdem die Rekruten des dritten Zuges am 24. August 2004 die
  480. dienstplanmäßige Schießübung absolviert hatten, kehrten sie gegen Mitternacht
  481. in die Kaserne zurück. Von dem Mitangeklagten H.
  482. wurde ihnen mitge-
  483. teilt, im Raum Coesfeld habe es terroristische Anschläge gegeben und die
  484. Bahnstrecke müsse gesichert werden. Die geplante Geiselnahme erwähnte er
  485. nicht. Allerdings erklärte er den Rekruten, dass sie die Übung jederzeit durch
  486. Nennung des Wortes „Tiffy“ beenden könnten. Auch einige Rekruten des dritten
  487. Quartals verstanden dieses Wort als Synonym für „Weichei“; für die meisten
  488. hatte es hingegen keine spezielle Bedeutung. Die Rekruten wurden auf vier
  489. Gruppen aufgeteilt und marschierten zeitlich versetzt, begleitet von ihrem jeweiligen Gruppenführer, los.
  490. - 20 -
  491. 37
  492. cc) Währenddessen bereitete sich das „Überfallkommando“, das dieses
  493. Mal aus zehn und zwölf Ausbildern bestand, wie bereits bei der Übung im Juni
  494. 2004 auf den Zugriff vor. Vor Ort wurden die daran Beteiligten - unter anderem
  495. der Angeklagte J.
  496. Station oblag, und H.
  497. - von den Zugführern D.
  498. , dem die Leitung dieser
  499. eingewiesen. Die Rekruten sollten nach dem Über-
  500. fall, der so verlaufen sollte wie bereits im Juni 2004, wiederum entwaffnet und
  501. gefesselt werden. Außerdem sollte ihnen jeweils ein Wäschebeutel oder Stiefelsack über den Kopf gezogen werden. Beim Anlegen der Kabelbinder sollte
  502. darauf geachtet werden, dass sie nicht in die Haut schnitten.
  503. 38
  504. In den frühen Morgenstunden des 25. August 2004 waren die Rekruten,
  505. nach einem etwa 20 Kilometer langen Marsch auf dem Rückweg zur Kaserne.
  506. Als sie an den Überfallort gelangten, verwirrten die Ausbilder die Rekruten
  507. durch den lauten Knall eines gezündeten Bodensprengsimulators und kamen
  508. laut schreiend aus ihrer Deckung. Auch hier waren die Rekruten aufgrund des
  509. langen Marsches und nach fast 24 Stunden Dienst zu erschöpft und auch zu
  510. überrascht, um noch größeren Widerstand zu leisten. Nach einem Schusswechsel leisteten die Rekruten der Aufforderung, die Waffe abzulegen und sich
  511. hinzulegen, Folge. Einige Rekruten wurden von den Ausbildern zu Boden gedrückt oder gerissen. Als sich der Zeuge P.
  512. verteidigen wollte, rammte ihm
  513. einer der Ausbilder die Schulterstütze eines Gewehres in den Rücken.
  514. 39
  515. Nachdem die Rekruten entwaffnet worden waren, wurden ihnen die
  516. Hände mit Kabelbindern auf den Rücken gefesselt. Bei acht Rekruten saßen sie
  517. jedoch so eng, dass diese Druckspuren auf der Haut davontrugen. Drei Soldaten erlitten durch die Fesselung Schürfwunden und bei dem Zeugen P.
  518. zusätzlich - ebenso wie dem Zeugen M.
  519. , dem
  520. - auch die Füße gefesselt worden
  521. waren, schnitten die Kabelbinder in die Haut ein, so dass anschließend Abdrü-
  522. - 21 -
  523. cke auf der Haut zu sehen waren. Allen Rekruten wurde zudem ein Wäschebeutel beziehungsweise Stiefelsack über den Kopf gezogen, oder ihnen wurden
  524. die Augen mit einem Dreiecktuch verbunden. Zugleich wurden die Rekruten befragt. Dabei erhielt einer, weil er eine Frage nicht beantwortete, von einem der
  525. Ausbilder einen Schlag gegen seinen Helm, einem anderen wurden leichte Tritte versetzt, und neben dem Kopf des Zeugen La.
  526. wurde eine Pistole
  527. durchgeladen und ihm an die Schläfe gehalten.
  528. dd) Anschließend wurden die Rekruten auf die Ladefläche eines heran-
  529. 40
  530. gefahrenen Pritschenwagens gesetzt und hinein geschoben. Die Zeugen P.
  531. und M.
  532. , die an Händen und Füßen gefesselt waren, wurden zum Fahrzeug
  533. getragen und auf die Ladefläche gelegt. Auf der folgenden Fahrt zur Kaserne
  534. fuhr zumindest einer der Ausbilder auf der Ladefläche mit, um die Rekruten zu
  535. befragen und um für Ruhe zu sorgen. Als der Zeuge P.
  536. , der mit seinem
  537. Bauch auf dem Knie eines Kameraden lag und deshalb schlecht Luft bekam,
  538. versuchte, sich aufzurichten, wurde er von einem der Ausbilder niedergedrückt
  539. und geschlagen, wodurch er Schmerzen erlitt. Ein anderer Rekrut wurde mit der
  540. Schulterstütze eines Gewehrs angestoßen, was „nicht übertrieben weh tat, aber
  541. auch nicht angenehm“ war. Wieder einem anderen wurde, als er eine Frage
  542. falsch beantwortet hatte, der Mündungsfeuerdämpfer eines Gewehres in seine
  543. Oberschenkelregion gedrückt, was Schmerzen verursachte.
  544. ee) Im Keller des Kasernenblocks 6 hatten sich zwischenzeitlich die für
  545. 41
  546. das Verhör eingeteilten Ausbilder - darunter auch der Angeklagte K.
  547. - ein-
  548. gefunden und warteten auf die Ankunft der ersten Gruppe. Als diese um
  549. 6.30 Uhr immer noch nicht in der Kaserne war, meldete sich der Angeklagte
  550. K.
  551. , der ab 7.00 Uhr den zweiten Zug unterrichten sollte, ab und ging auf
  552. seine Stube.
  553. - 22 -
  554. 42
  555. ff) Nach kurzer Fahrt in der Kaserne angekommen, fuhr der Pritschenwagen mit den Rekruten rückwärts an eine auf dem Boden ausgelegte, etwa 30
  556. bis 40 cm dicke Hochsprungmatte heran. Zum „Abladen“ wurden die Rekruten
  557. bis an die Ladekante des Fahrzeugs gezogen und wurden dann entweder zum
  558. Springen aufgefordert oder hinunter gestoßen. Dadurch sollte bei den Rekruten,
  559. die nichts sehen konnten, Angst erzeugt werden.
  560. 43
  561. Sodann wurden die Rekruten in den Keller des Kasernenblocks 6 gebracht. Dabei wurden sie wegen ihrer verbundenen Augen in der Regel von einem Ausbilder begleitet. Der Zeuge Lan.
  562. , dessen Schnürsenkel möglicher-
  563. weise zusammengebunden waren, fiel dabei auf der Kellertreppe hin und stieß
  564. sich das Knie, was ihm wehtat. Zudem ließ ihn der Ausbilder, der ihn in den Keller führte, gegen eine Wand laufen.
  565. 44
  566. gg) Die Rekruten sollten sich zunächst in einem Waschraum hinknien
  567. und wurden weiterhin auf Englisch befragt. Wenn sie keine Antworten gaben,
  568. wurden sie verschiedenen Behandlungen unterzogen. Teilweise wurde ihnen
  569. Wasser mit der Kübelspritze oder mit einem Eimer auf die Kleidung gespritzt, so
  570. dass diese durchnässt war.
  571. 45
  572. Dann wurden die Rekruten nacheinander in den als „Verhörraum“ vorgesehenen Partyraum gebracht und weiter „verhört“. Als der Zeuge P.
  573. als ein-
  574. ziger noch im Waschraum war und versuchte die Tür zuzuschlagen, um sich zu
  575. befreien, stieß ihn ein Ausbilder in eine Ecke, wo er mit dem Kopf gegen die
  576. Wand prallte. Anschließend wurde der Zeuge P.
  577. in dem „Verhörraum“ auf ei-
  578. nen Stuhl gesetzt und weiter befragt. Als er nach wie vor nicht antwortete, wurde er mit einem harten, länglichen Gegenstand fest auf Arme, Beine und Rü-
  579. - 23 -
  580. cken geschlagen. Dies bereitete ihm Schmerzen. Nachfolgend wurde er in einem anderen Raum weiterhin befragt, während seine Kleidung mit Wasser
  581. durchnässt wurde. Schließlich wurde er in den Kellerflur hinausgebracht, wo er
  582. sich hinknien musste. Dort blies ihm einer der Ausbilder Rauch unter das Dreiecktuch und es wurde ihm ein heißer Gegenstand an seinen Nacken gedrückt.
  583. Auch einem weiteren Rekruten wurde, als er im Kellerflur knien musste und befragt wurde, Rauch ins Gesicht geblasen.
  584. Dem Zeugen La.
  585. 46
  586. wurde während der Befragung mit einer Lampe
  587. ins Gesicht gestrahlt. Danach musste er sich in einem anderen Raum hinknien
  588. und mit dem Kopf auf einem Waschbecken abstützen. Nachdem er in dieser
  589. Stellung einige Zeit ausgeharrt hatte, wurde seine Feldbluse aufgeknöpft und er
  590. wurde mit Wasser übergossen, während er weiter befragt wurde. Der Zeuge
  591. Bä. musste sich hinknien und seinen Kopf an eine Wand anlehnen. In dieser
  592. Haltung wurde er dann befragt. Gab er keine Antworten, bekam er einen Schlag
  593. auf den Helm. Zwei andere Rekruten wurden herum und gegen die gepolsterten
  594. Wände geschubst, wodurch einer stolperte und sich schmerzhaft das Knie
  595. stieß.
  596. 47
  597. Sechs Rekruten - darunter auch der Zeuge Lan.
  598. - wurde wiederum mit
  599. der Kübelspritze Wasser in den Mund gepumpt. Teilweise wurde ihnen dabei
  600. die Nase zugehalten, so dass sie zeitweise keine Luft mehr bekamen. Der Zeuge Lan. , dem bei diesem Geschehen Wasser auch in die Nase gelaufen war
  601. und dem daher das Atmen schwer fiel, musste anschließend aufstehen und allein die deutsche Nationalhymne singen. Danach wurde er auf dem Kellerflur
  602. weiter befragt. Da er nach wie vor keine Antworten gab, wurde sein Oberkörper
  603. nach vorne gebeugt. In dieser Haltung wurde er mehrmals - jedes Mal, wenn er
  604. nicht antwortete - mit seinem behelmten Kopf gegen die Kellerwand gestoßen.
  605. - 24 -
  606. Er erlitt dadurch zwar keine Schmerzen, empfand es jedoch als „unangenehm“.
  607. Weil der Zeuge Lan.
  608. die ihm gestellten Fragen immer noch nicht beantworte-
  609. te, sagte einer der Ausbilder, dass man jetzt „Ernst“ mache. Dem Zeugen Lan.
  610. wurde daraufhin der Helm abgenommen und er wurde nochmals mit dem
  611. Kopf gegen die Wand geschubst. Entgegen seinen Befürchtungen prallte der
  612. Zeuge jedoch lediglich gegen ein Stück Schaumstoff, das einer der Ausbilder
  613. zum Abfangen des Stoßes an die Wand gehalten hatte.
  614. 48
  615. Einem anderen Rekruten wurde während seiner Befragung eine „wirklich
  616. nicht gut“ riechende Creme unter die Nase gerieben, während wieder anderen
  617. der Mund gewaltsam geöffnet wurde und ihnen sodann Ketchup und/oder Senf
  618. beziehungsweise Soßenreste eingeflößt wurden.
  619. 49
  620. hh) Nach etwa 30 bis 45 Minuten war die Übung für eine Gruppe beendet. Die Rekruten wurden in der Regel von den Kabelbindern befreit und konnten auf ihre Stube gehen. Bei dem Zeugen P.
  621. saßen die Kabelbinder aller-
  622. dings so eng, dass sie zunächst nicht gelöst werden konnten und erst von einem Kameraden mit einem Messer durchtrennt werden mussten.
  623. 50
  624. Auch die übrigen Gruppen des dritten Zuges wurden im Laufe der Nacht
  625. überfallen, gefangen genommen und in dem Keller „verhört“. Zu einem späteren
  626. Zeitpunkt erklärte der Mitangeklagte H.
  627. den Rekruten des dritten Zuges,
  628. wie sie sich bei einer Geiselnahme richtig zu verhalten hätten.
  629. 51
  630. b) Für den zweiten Zug fand in diesem Quartal die Geiselnahmeübung in
  631. der Nacht vom 31. August auf den 1. September 2004 statt (Fall B.II.2 der Urteilsgründe).
  632. - 25 -
  633. aa) Auf einer zuvor stattfindenden Ausbilderbesprechung, deren Leitung
  634. 52
  635. dem früheren Mitangeklagten Z.
  636. oblag, der stellvertretender Zugführer die-
  637. ses Zuges war, wurde das Vorgehen zumindest wieder in groben Zügen erörtert. Die Rekruten sollten im Anschluss an die für den 31. August 2004 vorgesehene Schießübung, die sich bis in den späten Abend ziehen sollte, erneut auf
  638. einen zuvor nicht angekündigten nächtlichen Orientierungsmarsch geschickt
  639. werden, bei dem sie kurz vor Ende überfallen, gefangen genommen und mit einem Fahrzeug zum „Verhör“ gebracht werden sollten, das auch dieses Mal im
  640. Keller des Kasernenblocks 6 stattfinden sollte. Der frühere Mitangeklagte Z.
  641. teilte bei dieser Besprechung für den „Zugriff“ neben anderen die Angeklagten
  642. S.
  643. und K.
  644. den Angeklagten J.
  645. ein. Für das „Verhör“ sah er neben einigen Hilfsausbildern
  646. vor (ihn betreffend ist das Geschehen nach Ansicht
  647. des Landgerichts nicht Gegenstand der gegen ihn erhobenen Anklage).
  648. Das Landgericht sah sich erneut nicht in der Lage aufzuklären, ob bei
  649. 53
  650. dieser Ausbilderbesprechung noch weitere Einzelheiten der Geiselnahmeübung
  651. erörtert wurden.
  652. Auch hier enthielten weder der für die Rekruten einsehbare, noch der
  653. 54
  654. vom Kompaniechef, dem Mitangeklagten Sc.
  655. , unterzeichnete und an das
  656. Bataillon gesandte Dienstplan Informationen über die geplante Geiselnahme mit
  657. Verhör.
  658. bb) Die Rekruten des zweiten Zuges wurden am 31. August 2004 - wie
  659. 55
  660. auch in den vorangegangenen Fällen - im Anschluss an ihre Schießübung auf
  661. den nächtlichen Orientierungsmarsch geschickt. Der frühere Mitangeklagte
  662. Z.
  663. wies sie in die Lage ein. Auch er erklärte den Rekruten, sie könnten die
  664. Übung durch Nennung des Wortes „Tiffy“ jederzeit beenden. „Möglicherweise“
  665. - 26 -
  666. äußerte er dabei ironisch, dieses Wort sei als Codewort international anerkannt
  667. und stehe auch in der Genfer Konvention. Jedenfalls einer der Rekruten ging
  668. deshalb davon aus, dass das Wort zwar benutzt werden könne, dies aber nur
  669. auf Kosten des Stolzes oder der Ehre der Rekruten. Die bevorstehende Geiselnahme erwähnte der frühere Mitangeklagte Z.
  670. nicht. Einige Rekruten hatten
  671. zwischenzeitlich aber von der vorangegangenen Geiselnahmeübung des dritten
  672. Zuges erfahren und ahnten, dass ihnen Gleiches widerfahren könnte.
  673. 56
  674. cc) Die Rekruten des zweiten Zuges wurden auf „vermutlich“ drei Gruppen aufgeteilt und marschierten zeitlich versetzt begleitet von ihrem jeweiligen
  675. Gruppenführer los. Wie bei den Übungen vorher kamen die Rekruten nach einem etwa 20 Kilometer langen, mehrstündigen Marsch, dieses Mal allerdings
  676. noch im Dunkeln, am Überfallort an. Die Ausbilder verwirrten die Rekruten
  677. durch das Zünden eines Bodensprengsimulators und von Gefechtsfeldbeleuchtung, die zudem auch blendete. Sie kamen aus ihrer Deckung und forderten die
  678. Rekruten auf, ihre Waffen ab und sich auf den Boden zu legen. Nach einem
  679. Schusswechsel wurden diejenigen Rekruten, die dieser Aufforderung nicht freiwillig Folge leisteten, mit körperlicher Gewalt zu Boden gedrückt oder geworfen.
  680. Einem Rekruten wurde zudem mehrfach mit einem Pistolengriff auf den Hinterkopf geschlagen, weil er sich der Festnahme widersetzte und fliehen wollte.
  681. 57
  682. Den Rekruten wurden wiederum die Hände mit Kabelbindern auf den
  683. Rücken gefesselt. Bei drei Soldaten saßen sie so eng, dass sie Schmerzen bereiteten. Drei andere Rekruten trugen durch diese Fesselung Druckspuren auf
  684. der Haut und ein weiterer darüber hinaus Hautabschürfungen davon. Allen Rekruten wurde zudem ein Wäschebeutel oder Stiefelsack über den Kopf gezogen, und sie mussten sich hinknien. In dieser Situation wurden die Rekruten befragt, wobei einem von ihnen eine Pistole an den Kopf gehalten wurde. Ein an-
  685. - 27 -
  686. derer wurde zu der Äußerung „I am a donkeyfucker“ aufgefordert. Auch dem
  687. Zeugen Be.
  688. wurde, während er bei seiner Befragung mit auf dem Rücken ge-
  689. fesselten Händen und einem über den Kopf gezogenen Wäschebeutel auf dem
  690. Boden kniete, eine - wie ihm bewusst war - ungeladene Pistole an den Kopf gehalten. Als er sich wegen eines schmerzhaften Krampfes in seinen Beinen hinlegte, bekam er von einem der Ausbilder einen Tritt in den Rücken und musste
  691. sich wieder hinknien.
  692. 58
  693. Dem Zeugen De.
  694. war es gelungen, sich aus den Kabelbindern zu
  695. befreien und den Wäschesack vom Kopf abzustreifen. Als er jedoch in den
  696. Wald hineinlief, wurde er sogleich von mehreren Ausbildern verfolgt, die ihn
  697. einholten und zu Boden warfen. Dadurch war der Zeuge De.
  698. „nervlich of-
  699. fenbar überfordert“. Er bekam plötzlich Angst und begann am ganzen Körper zu
  700. zittern. Daraufhin brach der Mitangeklagte D.
  701. für diesen Zeugen die Übung
  702. ab, beruhigte ihn und ließ ihn zurück zur Kaserne bringen.
  703. 59
  704. Der Zeuge Hi.
  705. hatte, nachdem seine Hände gefesselt worden
  706. waren und ihm ein Stiefelbeutel über den Kopf gezogen worden war, mit einem
  707. metallischen Gegenstand einen Schlag auf seinen Kopf und zudem einen Tritt
  708. in den Rücken bekommen, wodurch er kurz Zeit schlecht Luft bekam. Deshalb
  709. sagte er das Wort „Tiffy“, woraufhin er freigelassen wurde. Auch fünf weitere
  710. Rekruten hatten das Codewort genannt, so dass die Übung für sie ebenfalls
  711. beendet war und sie zurück zur Kaserne gebracht wurden. Darunter befanden
  712. sich auch der Zeuge Kü. , der bei dem Überfall auf sein Knie gestürzt war und
  713. Schmerzen hatte, sowie der Zeuge Dz.
  714. . Dieser hatte, als er mit gefesselten
  715. Händen und einem Stiefelbeutel über dem Kopf auf dem Waldboden lag, vom
  716. Angeklagte K.
  717. einen leichten Tritt mit dem Stiefel gegen den Kopf bekom-
  718. - 28 -
  719. men. Dies war aber nicht absichtlich geschehen; vielmehr war der Angeklagte
  720. K.
  721. 60
  722. , als er einen Schritt rückwärts machte, versehentlich dagegen gestoßen.
  723. dd) Die übrigen Rekruten wurden anschließend auf die Ladefläche eines
  724. Pritschenwagens gelegt und zur Kaserne gebracht. Beim „Abladen“ der Rekruten war dieses Mal keine Matte ausgelegt. Die Rekruten wurden bis zur Ladekante des Fahrzeugs gezogen und sodann von einem Ausbilder auf die Füße
  725. gestellt. Anschließend wurden sie in den Keller des Kasernenblocks 6 und zwar
  726. zunächst wieder in den Waschraum gebracht, wo sie sich hinknien oder setzen
  727. sollten. Teilweise wurden die Rekruten weiter befragt. Manchen wurde die Kleidung mit Wasser aus der Kübelspritze oder aus einem Eimer durchnässt - so
  728. auch dem Zeugen Bl.
  729. . Zudem wurde über diesem ein gefüllter Wassereimer
  730. ausgeleert und ihm anschließend der Eimer über den Kopf gestülpt, während er
  731. weiter befragt wurde. Dadurch fühlte sich der Zeuge Bl.
  732. gedemütigt. Außer-
  733. dem füllte sich durch das Wasser auch der über den Kopf gezogene und zugebundene Wäschebeutel immer weiter mit Wasser, so dass der Zeuge Bl.
  734. zeitweise Probleme mit dem Atmen hatte. Anderen Rekruten wurden die Feldbluse aufgeknöpft und hochgeschoben sowie die Feldhose bis zu den Knöcheln
  735. hinuntergezogen, bevor ihnen Wasser auf die entblößten Körperteile gegossen
  736. wurde. Ein Rekrut wurde unter eine Dusche gelegt und nass gemacht. Durch
  737. den nassen Wäschesack bekam er zunehmend schlechter Luft, so dass er das
  738. Codewort nannte und die Übung für ihn abgebrochen wurde.
  739. 61
  740. ee) Die Rekruten wurden dann entweder in den „Verhörraum“ gebracht
  741. und dort weiter verhört oder in einen Duschraum, wo der Angeklagte J.
  742. - was nach Ansicht des Landgerichts allerdings ihn betreffend nicht Gegenstand
  743. der Anklage ist - eine Personenüberprüfung durchführte. Dazu öffnete dieser
  744. Feldbluse und -hose sowie Stiefel der Rekruten und überprüfte sie auf Waffen.
  745. - 29 -
  746. Ihm war zuvor von einem nicht näher bekannten Ausbilder gesagt worden, er
  747. solle die Rekruten „ruhig etwas ruppiger anfassen“, um ihnen zu zeigen, dass
  748. das kein Spaß sei.
  749. 62
  750. Teilweise wurde den Rekruten während der Befragung ein Gegenstand
  751. oder eine Pistole an den Kopf gehalten. Vier Rekruten wurden der Bauch oder
  752. die Beine entblößt und mit einer Bürste darüber gestrichen. Dies empfand der
  753. Zeuge Po.
  754. als „kratzig“. Dem Zeugen Bl.
  755. , dessen Haut anschließend gerö-
  756. tet war, tat es weh.
  757. 63
  758. Der Zeuge Po.
  759. wurde schließlich in den Verhörraum gebracht, wo sich
  760. zu diesem Zeitpunkt ein Prüfgerät für Feldfernsprecher befand. Dieses Gerät
  761. besitzt eine Kurbel, durch deren Drehung Induktionsstrom erzeugt werden
  762. kann. Damit wurden dem Zeugen Po.
  763. mehrere Stromstöße an Bauch und
  764. Beinen versetzt, indem zwei angeschlossene Drähte an den entsprechenden
  765. Körperstellen angelegt wurden. Die Stromstöße dauerten jeweils einige Sekunden und verursachten ein Kribbeln, das deutlich unter der Schmerzgrenze blieb,
  766. da die Ausbilder, als sie merkten, dass es wehzutun begann, mit dem Kurbeln
  767. aufhörten. Auch ein weiterer Rekrut erhielt, nachdem er mit Wasser aus Eimern
  768. durchnässt worden war, während seines „Verhörs“ mit dem FeldfernsprecherPrüfgerät mindestens vier Stromschläge am Bauch und über seine Erkennungsmarke. Dies empfand er als unangenehm, aber nicht als schmerzhaft.
  769. 64
  770. Der Zeuge Be.
  771. wurde während seiner Befragung zunächst auf den
  772. Boden gelegt und mit Wasser aus einer Kübelspritze durchnässt. Da er nicht
  773. die verlangten Antworten gab, wurde er sodann in einem anderen Raum auf einen Stuhl gesetzt, dann die beiden Kabelenden des FeldfernsprecherPrüfgerätes an einen seiner Handballen gehalten und die Kurbel des Gerätes
  774. - 30 -
  775. betätigt. Währenddessen wurden ihm immer die gleichen Fragen gestellt, die er
  776. aber weiterhin nicht beantwortete. Daraufhin wurde die Kurbel schneller gedreht, so dass stärkerer Strom floss. Der Zeuge ballte seine Hand zur Faust,
  777. um die Stromschläge besser aushalten zu können. Auch einem weiteren Rekruten wurden, während er „verhört“ wurde, Stromstöße versetzt, indem die Kabelenden des Prüfgeräts an seine nassen und unbekleideten Oberschenkel angelegt wurden. Die Stromstöße waren anfangs relativ milde, wurden aber immer
  778. stärker, bis sie die Schmerzgrenze des Soldaten erreicht hatten und dieser zu
  779. zittern begann.
  780. 65
  781. ff) Die Kammer vermochte nicht festzustellen, ob die Angeklagten S.
  782. und K.
  783. , die in dieser Nacht an der Station „Zugriff“ im Gelände tätig wa-
  784. ren, mitbekommen oder im nachhinein davon erfahren haben, auf welche Art
  785. und Weise die Rekruten bei dieser Übung im Keller „verhört“ wurden.
  786. 66
  787. c) In der Nacht vom 1. auf den 2. September 2004 fand schließlich für
  788. den ersten Zug in diesem Quartal die Geiselnahmeübung statt (Fall B.II.3 der
  789. Urteilsgründe).
  790. 67
  791. aa) Zuvor fand erneut eine Ausbilderbesprechung statt, die der Mitangeklagte D.
  792. als Zugführer leitete. Dieser teilte bei dieser Besprechung unter
  793. anderem für den „Überfall“ neben anderen die Angeklagten S.
  794. und J.
  795. ein. Die Vorgehensweise bei der Geiselnahmeübung sollte unverändert
  796. bleiben. Lediglich das Verhör sollte dieses Mal im Keller des Kasernengebäudes 14 stattfinden, in dem der erste Zug untergebracht war.
  797. 68
  798. Wiederum sah sich das Landgericht nicht in der Lage aufzuklären, ob bei
  799. dieser Ausbilderbesprechung noch weitere Einzelheiten der Geiselnahmeübung
  800. - 31 -
  801. erörtert wurden. Jedenfalls sollte im Keller aber wieder eine Kübelspritze bereitstehen, um damit die Rekruten nass zu machen.
  802. 69
  803. Auch dieses Mal enthielten weder der für die Rekruten einsehbare, noch
  804. der vom Kompaniechef, dem Mitangeklagten Sc.
  805. , unterzeichnete und an
  806. das Bataillon gesandte Dienstplan Informationen über die geplante Geiselnahme mit Verhör.
  807. 70
  808. bb) Der Angeklagte J.
  809. bereitete den Keller für das Verhör vor. Er
  810. stellte einen Tisch und Stühle auf, legte Matratzen auf dem Boden aus, auf die
  811. die Soldaten gelegt werden konnten, und ließ zumindest eine Kübelspritze mit
  812. Wasser füllen und bereitstellen.
  813. 71
  814. cc) Die Rekruten des ersten Zuges absolvierten am 1. September 2004
  815. - wie auch in den vorangegangenen Fällen - zunächst ihre Schießübung. Nachdem diese gegen Mitternacht beendet war, teilte ihnen der Mitangeklagte D.
  816. mit, dass sie nun auf einen Nachtorientierungsmarsch gehen müssten, wobei das Gebiet zur Verhinderung terroristischer Angriffe bestreift werden müsse.
  817. Zudem erklärte er ihnen, sie könnten die Übung durch Nennung des Wortes
  818. „Tiffy“ jederzeit beenden. Auch einige Rekruten dieses Zuges verstanden dieses Wort als Synonym für „Weichei“ oder „Schwächling“; für die meisten hatte
  819. es hingegen keine besondere Bedeutung.
  820. 72
  821. Im Unterschied zu den vorhergehenden Übungen vermuteten dieses Mal
  822. zahlreiche Rekruten, dass sie überfallen werden würden, da sie teilweise Gerüchte oder Andeutungen aus den anderen Zügen über eine bevorstehende
  823. Geiselnahme gehört hatten. Der genaue Ablauf war jedoch keinem der Rekruten bekannt.
  824. - 32 -
  825. 73
  826. dd) Auch die Rekruten des ersten Zuges machten sich in Gruppen ohne
  827. ihren planmäßigen Gruppenführer im Abstand von etwa 20 Minuten auf den
  828. Weg. Die Rolle des Gruppenführers musste jeweils ein Rekrut übernehmen.
  829. Der Angeklagte K.
  830. H.
  831. fuhr gemeinsam mit den Mitangeklagten D.
  832. und
  833. los, um den Marsch zu überwachen. Gegen 23.30 Uhr informierten
  834. sie den Mitangeklagten Ja.
  835. telefonisch darüber, dass sich die erste Gruppe
  836. nun auf dem Weg zum Überfallort befinde und sich die Ausbilder bereit machen
  837. sollten. Der Angeklagte K.
  838. D.
  839. und H.
  840. erwartete gemeinsam mit den Mitangeklagten
  841. die für den „Überfall“ eingeteilten Ausbilder bereits am Ort
  842. des geplanten Zugriffs.
  843. 74
  844. Die erste Gruppe kam nach einem etwa 20 Kilometer langen Marsch gegen 3.00 Uhr am Überfallort an. Anders als in den vorangegangenen Fällen
  845. gingen die Rekruten dieses Mal äußerst behutsam vor, weil sie den Überfall erahnten. Dennoch entdeckten sie die Angreifer nicht. Trotz ihrer Vorahnung waren die Rekruten infolge des Zündens eines Bodensprengsimulators und von
  846. Gefechtsfeldbeleuchtung durch die Ausbilder im ersten Moment überrascht. Sie
  847. gingen aber in Deckung und versuchten, sich zu verteidigen. Nach einem kurzen Schusswechsel hatten ihnen die Ausbilder aber die Gewehre abgenommen. Die Rekruten sollten sich sodann hinknien oder auf den Boden legen. Einige von ihnen leisteten aber auch nach der Entwaffnung Widerstand und ließen sich nicht mehr so bereitwillig fesseln wie in den vorangegangenen Fällen.
  848. 75
  849. Einem der Rekruten, der bereits auf dem Boden lag, wurde von einem
  850. Ausbilder, „vermutlich“ von dem Angeklagten S.
  851. , ein Stiefelbeutel über
  852. den Kopf gezogen. Ihm wurden die Arme mit leichter körperlicher Gewalt nach
  853. hinten gedreht und mit den dafür vorgesehenen Kabelbindern auf dem Rücken
  854. - 33 -
  855. gefesselt. Ein anderer war bei dem Überfall von einem der Ausbilder umgerissen worden und wurde ebenfalls mit Kabelbindern gefesselt. Nachdem er die zu
  856. feste Fesselung reklamiert hatte, bekam er lockerer sitzende Kabelbinder angelegt. Zwischen einem Rekruten und einem Ausbilder gab es ein „kleines Handgemenge“, während dessen der Rekrut schließlich zu Boden gebracht, entwaffnet und gefesselt wurde. Während seiner anschließenden Befragung wurde
  857. sein Gesicht teilweise in seinen am Boden liegenden Helm gedrückt. Außerdem
  858. verspürte er Druck an seinem Hinterkopf, der vermutlich von einem auf seinen
  859. Hinterkopf gestellten Stiefel herrührte. Der Zeuge Bla. wurde bei dem Überfall
  860. zu Boden gerissen, mit Kabelbindern gefesselt, und ihm wurde ein Stiefelbeutel
  861. über den Kopf gezogen. Damit er sich nicht weiter rührte, stellte einer der Ausbilder einen Stiefel in seinen Nacken; einen anderen Schuh spürte der Zeuge
  862. Bla. an seinen Genitalien. Bewegte sich der Zeuge, wurde dort gedrückt, um
  863. ihn ruhig zu stellen.
  864. Nachdem es einem weiteren Rekruten zweimal gelungen war, die ange-
  865. 76
  866. legten Kabelbinder zu zerreißen, setzte sich der Mitangeklagte Bu.
  867. auf den
  868. am Boden liegenden Soldaten, damit dieser sich nicht mehr so stark wehrte.
  869. Dennoch versuchte dieser weiterhin, sich zu befreien und streifte sich mehrfach
  870. den übergezogenen Stiefelbeutel ab. Daraufhin beendete der Mitangeklagte
  871. D.
  872. die Übung für ihn. Auch der Zeuge O.
  873. wehrte sich, so dass auch er
  874. eine Rangelei mit einem Ausbilder hatte. Er wurde schließlich von zwei Angreifern überwältigt und mit Kabelbindern gefesselt; anschließend wurde ihm eine
  875. Kapuze über den Kopf gezogen und zugebunden. Auch er zerriss mehrere Kabelbinder, bekam aber jeweils neue angelegt, bis er sich letztlich nicht mehr
  876. wehrte.
  877. - 34 -
  878. 77
  879. Wieder ein anderer Soldat wurde bei dem Überfall von einem Ausbilder
  880. zu Boden gedrückt. Die Kabelbinder, mit denen ihm die Hände auf dem Rücken
  881. gefesselt worden waren, saßen sehr stramm, so dass er Rötungen und Hautabschürfungen davontrug. Einer der Ausbilder forderte ihn auf, das Codewort
  882. „Tiffy“ zu sagen. Dem kam der Zeuge schließlich nach, woraufhin die Übung für
  883. ihn beendet wurde. Auch ein weiterer Rekrut wurde gepackt, zu Boden gedrückt
  884. und mit zu stramm sitzenden Kabelbindern gefesselt. Als er dies monierte, wurde ebenfalls verlangt, er solle zunächst das Codewort nennen. Als er dieses
  885. sagte, wurde er sofort befreit. Allerdings konnten die sehr eng sitzenden Kabelbinder nicht ohne weiteres durchtrennt werden. Bei dem Versuch sie mit einem
  886. Messer zu durchschneiden, erlitt dieser Rekrut leichte Schnittverletzungen an
  887. den Handgelenken. Schließlich beendete auch noch ein weiterer Rekrut durch
  888. Nennung des Codeworts die Übung, nachdem er Platzangst bekommen hatte,
  889. als ihm der Stiefelbeutel über den Kopf gezogen worden war.
  890. 78
  891. Dem Zeugen Ly. wurde während seiner Befragung eine Pistole an den
  892. Kopf gehalten. Weil er nicht antwortete, wurde er zudem mit Tritten in den Rücken „malträtiert“, wodurch er zwei bis drei Tage anhaltende Rückenschmerzen
  893. erlitt. Dem Zeugen Deu.
  894. wurde bei seiner Entwaffnung ebenfalls eine Pistole
  895. vor den Kopf gehalten. Er wurde zu Boden gestoßen und, als er gefesselt auf
  896. dem Boden lag, trat jemand auf seinen Rücken. Zudem stellte ein Ausbilder für
  897. kurze Zeit einen Fuß auf seinen Helm, so dass er sich nicht mehr bewegen
  898. konnte. Der Zeuge Ku.
  899. wurde während der Befragung dadurch am Boden
  900. fixiert, dass sich einer der Ausbilder auf seinen Rücken stellte, was schmerzhaft
  901. war. Außerdem erhielt er von Zeit zu Zeit einen leichten Tritt gegen seine Stiefel. Auch zwei weitere Rekruten bekamen jeweils einen - in einem Fall kräftigen,
  902. schmerzhaften - Tritt in den Rücken, dies sogar, obwohl einer der beiden der
  903. - 35 -
  904. Aufforderung, sich auf den Boden zu legen und die Waffe abzugeben, sofort
  905. nachgekommen war.
  906. 79
  907. ee) Nachdem alle Rekruten der ersten - und später auch der zweiten Gruppe überwältigt, entwaffnet und gefesselt worden waren, wurden sie - zum
  908. Teil „recht unsanft“ - auf die Ladefläche eines Pritschenwagens „verladen“ und
  909. zur Kaserne gebracht. Während der Fahrt befand sich zumindest ein Ausbilder
  910. auf der Ladefläche, um für Ruhe zu sorgen. Dennoch verhielten sich die Rekruten nicht ruhig, sondern versuchten teilweise, die Stiefelbeutel von ihren Köpfen
  911. abzustreifen. Deshalb gab einer der Ausbilder einen Schuss ab.
  912. Der Mitangeklagte D.
  913. 80
  914. Ja.
  915. hatte zwischenzeitlich den Mitangeklagten
  916. darüber unterrichtet, dass die erste Gruppe bald in der Kaserne eintref-
  917. fen werde. Der Mitangeklagte Ja.
  918. traf sich daraufhin mit den weiteren drei
  919. für das „Verhör“ eingeteilten Ausbildern im Keller und besprach mit ihnen das
  920. weitere Vorgehen. Die Rekruten sollten nach dem „Abladen“ zunächst in den
  921. Waschraum des Kellers gebracht und dort auf den ausgelegten Matten abgelegt werden. Dann sollten sie einzeln zum „Verhör“ gebracht werden, dessen
  922. Leitung dem Mitangeklagten Ja.
  923. und dem früheren Mitangeklagten Z.
  924. oblag. Zuletzt sollten die Rekruten in einem Materialraum auf Matten abgelegt
  925. werden, um dort zu warten, bis das „Verhör“ für sämtliche aus der Gruppe beendet ist.
  926. 81
  927. Die vier Ausbilder sahen, dass in dem Verhörraum ein FeldfernsprecherPrüfgerät war. Spätestens jetzt vereinbarten sie, dieses bei dem „Verhör“ einzusetzen und den Rekruten damit Stromschläge zu verabreichen.
  928. - 36 -
  929. 82
  930. ff) Während der Fahrt zur Kaserne gelang es drei Rekruten, sich von den
  931. Kabelbindern zu befreien. Als das Fahrzeug an der Kaserne angekommen war,
  932. wurden zwei von ihnen von den dort bereitstehenden Ausbildern erneut gefesselt - dieses Mal jedoch mit einer deutlich stabileren und reißfesten Kunststoffschnur beziehungsweise mit Klebeband. Der Zeuge O.
  933. , der ebenfalls er-
  934. neut gefesselt werden sollte, setzte sich derart heftig zur Wehr, dass er schließlich aus der Übung genommen wurde.
  935. 83
  936. Die übrigen Rekruten wurden von der Ladekante des Fahrzeugs gezogen, wobei sie auf den Füßen aufkamen. Anschließend wurden sie in den
  937. Waschraum des Kellers des Kasernenblocks geführt oder an beiden Armen hinunter getragen. Dort mussten sie sich hinknien oder auf die ausgelegten
  938. Schaumstoffmatten legen und wurden weiter befragt.
  939. 84
  940. gg) Der Zeuge W.
  941. hatte wegen der zu fest sitzenden Kabelbinder das
  942. Gefühl in seinen Händen verloren und beschwerte sich darüber, so dass er davon befreit und nunmehr mit Klebeband gefesselt wurde. Danach wurde er in
  943. einen anderen Raum gebracht, wo ihm mit einer Kübelspritze Wasser in den
  944. Kragen gepumpt wurde, wodurch seine Kleidung vollständig durchnässt wurde.
  945. Sodann wurden seine Feldbluse geöffnet und seine Feldhose bis zu den Knöcheln hinuntergezogen, bevor ihm mit dem Feldfernsprecher-Prüfgerät zwei bis
  946. drei Stromstöße am Bauch versetzt wurden. Anschließend wurde er in einen
  947. weiteren Raum gebracht, wo er auf den Boden gelegt wurde und warten sollte.
  948. Nach einiger Zeit nannte der Zeuge W.
  949. , der die ihm zuteil gewordene Be-
  950. handlung als entwürdigend empfand, der fror und keine Lust mehr hatte, auf
  951. dem Boden zu liegen, das Codewort.
  952. - 37 -
  953. 85
  954. Der Zeuge Ly.
  955. wurde zunächst mit Wasser aus einer Kübelspritze
  956. durchnässt, so dass er auskühlte und fror. Anschließend wurde er auf den Rücken gelegt, und es wurde ihm mit dem Schlauch der Kübelspritze Wasser in
  957. den Mund gepumpt, bis er zu husten begann. In dem „Verhörraum“ wurde er
  958. weiter befragt und erhielt Stromschläge in seinen Nacken, die ihm wehtaten, so
  959. dass auch er schließlich das Codewort zur Beendigung der Übung nannte.
  960. Auch die Kleidung eines weiteren Rekruten wurde durchnässt und ihm wurde
  961. Wasser in den Mund gepumpt. Zudem erhielt dieser Schläge mit der Faust und
  962. der flachen Hand sowie Tritte auf seinen Nacken und den Hinterkopf, so dass
  963. auch er letztlich die Übung beendete.
  964. 86
  965. Der Zeuge Ku.
  966. wurde ebenfalls mit Wasser aus der Kübelspritze
  967. durchnässt und auch ihm wurde Wasser in den Mund gepumpt. Außerdem stellte sich einer der Ausbilder, nachdem der Zeuge auf den Bauch gelegt worden
  968. war und während er befragt wurde, auf seinen Rücken, was Schmerzen verursachte. Desgleichen wurde der Zeuge Deu.
  969. durchnässt und ihm Wasser in
  970. den gewaltsam aufgedrückten Mund gepumpt, so dass er sich verschluckte.
  971. Zusätzlich wurde ihm ein Gegenstand, der sich wie eine Pistole anfühlte, in den
  972. Mund gesteckt, ihm wurde seine Hose heruntergezogen und er wurde anschließend mit kaltem Wasser übergossen. Weil er die Fragen nach wie vor
  973. nicht beantwortete, wurden ihm zudem zwei bis drei Stromstöße am Arm versetzt, die zunehmend stärker wurden und unangenehm waren. Schließlich wurde er nochmals mit einem Schwall kalten Wassers übergossen. Im Anschluss
  974. musste er sich auf den Kellerflur neben zwei Kameraden knien und mit seinem
  975. Kopf an die Wand anlehnen. Der Mitangeklagte Ja.
  976. versetzte ihnen - und
  977. auch weiteren - Rekruten nun mehrfach der Reihe nach Schläge auf den Kopf,
  978. woraufhin die Rekruten nacheinander jeweils eine Silbe des Wortes „Budweiser“ nennen mussten.
  979. - 38 -
  980. 87
  981. Letzteres musste auch der Zeuge Wa.
  982. über sich ergehen lassen,
  983. nachdem er zuvor während der Befragung ebenfalls mit Wasser bespritzt worden war. Außerdem war ihm befohlen worden, ein Lied mit dem Titel „Crazy
  984. monkey“ zu singen, während ihm mit der Kübelspritze Wasser in den Mund gepumpt worden war, so dass er sich verschlucke. Anschließend wurden auch
  985. ihm mehrere Stromstöße versetzt - vier bis fünf am Oberschenkel und weitere
  986. vier bis fünf an seinem entblößten Bauch, wodurch sich sein Bein und seine
  987. Bauchmuskulatur verkrampften. Als der Zeuge die Fragen weiterhin nicht beantwortete, sondern die Ausbilder als „asozial“ bezeichnete und nach ihnen trat,
  988. wurde ihm seine Feldhose bis zu den Knöcheln hinuntergezogen, um seine
  989. Bewegungsfreiheit einzuschränken. Weil seine Boxershorts verrutscht waren,
  990. war sein Glied zu sehen. In dieser Situation wurde der Zeuge Wa.
  991. fotogra-
  992. fiert.
  993. Der Zeuge Bla. erlitt Tritte auf seine Beine, so dass er mehrere Tage auf
  994. 88
  995. der Krankenstation verbringen musste. Zudem schmerzten und bluteten seine
  996. Handgelenke aufgrund der zu streng sitzenden Kabelbinder. Diese wurden ihm
  997. zwar schließlich von einem Ausbilder abgenommen, als er sich jedoch gegen
  998. eine erneute Fesselung wehrte und erklärte, dass es ja wohl bald reiche, wurde
  999. er gepackt, in das Treppenhaus hinaus geschubst und als „Heulsuse“ bezeichnet.
  1000. 89
  1001. hh) Die Kammer vermochte nicht festzustellen, ob die Angeklagten S.
  1002. und K.
  1003. wussten, wie das „Verhör“ der Rekruten im Einzelnen ablaufen
  1004. sollte. Der Angeklagte J.
  1005. , der am Überfall beteiligt war, rechnete damit,
  1006. dass die Kleidung der Rekruten während des „Verhörs“ durchnässt wird.
  1007. - 39 -
  1008. ii) Die Übung wurde schließlich von dem Mitangeklagten D.
  1009. 90
  1010. ab-
  1011. gebrochen. Bereits nach dem Überfall auf die erste Gruppe des ersten Zuges
  1012. hatten der Angeklagte K.
  1013. und die Mitangeklagten D.
  1014. und H.
  1015. be-
  1016. ratschlagt, ob die Übung wegen des großen Widerstandes der Rekruten nicht
  1017. abgebrochen werden sollte. Sie entschieden, erst noch abzuwarten und zunächst das „Überfallkommando“ mit zwei Mann zu verstärken. Nachdem aber
  1018. auch die zweite Gruppe heftigen Widerstand geleistet hatte und nur mit Mühe
  1019. hatte überwältigt werden können, kamen sie schließlich überein, die folgenden
  1020. Gruppen nicht mehr zu überfallen und die Übung insgesamt vorzeitig zu beenden.
  1021. II.
  1022. 91
  1023. Das Urteil des Landgerichts ist, soweit es den Angeklagten J.
  1024. be-
  1025. trifft, im Fall B.II.3 der Urteilsgründe aufzuheben und das Verfahren insoweit
  1026. einzustellen (vgl. dazu BGHSt 46, 130, 135 f.), da diese abgeurteilte Tat in Bezug auf diesen Angeklagten nicht Gegenstand der zugelassenen Anklage ist.
  1027. Eine diese Tat wirksam einbeziehende Nachtragsanklage (§ 266 StPO) ist nicht
  1028. erhoben worden. Demnach mangelt es insofern - was von Amts wegen zu prüfen ist - an den Verfahrensvoraussetzungen der Erhebung einer ordnungsgemäßen Anklage und demnach an der ordnungsgemäßen Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung.
  1029. 92
  1030. 1. Die Anklageschrift hat die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie
  1031. Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat
  1032. gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen
  1033. desselben Täters unterscheiden lassen (Umgrenzungsfunktion - st. Rspr., vgl.
  1034. - 40 -
  1035. nur BGHSt 40, 44, 45; BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 24 jew. m.w.N.). Es
  1036. darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Die begangene, konkrete Tat muss
  1037. vielmehr durch bestimmte Tatumstände so genau gekennzeichnet werden,
  1038. dass keine Unklarheit darüber möglich ist, welche Handlungen dem Angeklagten zur Last gelegt werden. Fehlt es hieran, so ist die Anklage unwirksam (vgl.
  1039. BGHSt 40, 44, 45; BGH NStZ 1995, 245 jew. m.w.N.). Darüber hinaus hat die
  1040. Anklage auch die Aufgabe, den Angeklagten und die übrigen Verfahrensbeteiligten über weitere Einzelheiten des Vorwurfs zu unterrichten, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihr Prozessverhalten auf den mit der Anklage erhobenen
  1041. Vorwurf einzustellen. Mängel der Anklage in dieser Hinsicht führen nicht zu ihrer Unwirksamkeit. Insoweit können Fehler auch noch in der Hauptverhandlung
  1042. durch Hinweise entsprechend § 265 StPO geheilt werden (Informationsfunktion
  1043. - vgl. BGHSt 40, 44, 45; BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 24 jew. m.w.N.).
  1044. 93
  1045. 2. Diesen Anforderungen wird die mit Beschluss des OLG Hamm vom
  1046. 25. Juli 2006 unter anderem gegen den Angeklagten J.
  1047. unverändert zur
  1048. Hauptverhandlung zugelassene Anklage (nachdem das Landgericht mit Beschluss vom 22. Dezember 2005 insoweit die Eröffnung des Hauptverfahrens
  1049. insgesamt abgelehnt und auch Bedenken im Hinblick auf die Umgrenzungsfunktion der Anklage geäußert hatte) nicht gerecht. Die von der Kammer im Urteil abgeurteilte rechtlich selbständige Tat im Fall B.II.3 der Urteilsgründe ist betreffend den Angeklagten J.
  1050. weder im Anklagesatz noch im wesentlichen
  1051. Ergebnis der Ermittlungen hinreichend konkret beschrieben.
  1052. 94
  1053. a) Die Anklageschrift vom 1. Juni 2005 richtete sich insgesamt gegen 18
  1054. Angeklagte und legte diesen unterschiedliche Beteiligungen an insgesamt vier
  1055. rechtlich selbständigen Taten zur Last. Der im Anklagesatz gegen den Ange-
  1056. - 41 -
  1057. klagten J.
  1058. erhobene Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung in Tatein-
  1059. heit mit Misshandlung und mit entwürdigender Behandlung begangen durch
  1060. „zwei selbständige Handlungen“ erschöpft sich, bezogen auf diesen Angeklagten, allein in der Darstellung des konkreten Lebenssachverhalts im Fall B.II.1
  1061. der Urteilsgründe („zweiter Vorfall“ der Anklage - EA Bd. IX Bl. 1282 f.). Im Fall
  1062. B.II.3 der Urteilsgründe („vierter Vorfall“ der Anklage - EA Bd. IX Bl. 1283 f.)
  1063. richtet sich die Anklage indes ausschließlich gegen die (früheren) Mitangeklagten D.
  1064. Ja.
  1065. , H.
  1066. , Sc.
  1067. , Bu. , K.
  1068. , Mö.
  1069. . Eine Tatbeteiligung des Angeklagten J.
  1070. , S.
  1071. , Z.
  1072. und
  1073. wird insoweit im Anklage-
  1074. satz nicht geschildert.
  1075. 95
  1076. b) Zwar dürfen bei der Prüfung, ob die Anklage die gebotene Umgrenzung leistet, die Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zur
  1077. Ergänzung und Auslegung des Anklagesatzes herangezogen werden (BGHSt
  1078. 46, 130, 134; BGH NStZ 2001, 656, 657; BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1
  1079. Tat 24; Schneider in KK 6. Aufl. § 200 Rdn. 30; BeckOK-StPO/Ritscher § 200
  1080. Rdn. 19 jew. m.w.N.). Voraussetzung hierfür ist jedoch stets, dass sich aus dem
  1081. Anklagesatz zumindest Grundlagen einer Tatbeteiligung ergeben. Fehlende
  1082. Angaben können dann aus dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen entnommen werden, wenn sie dort eindeutig benannt sind und daraus deutlich
  1083. wird, dass sich der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft hierauf erstreckt
  1084. (vgl. Stuckenberg in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 200 Rdn. 81 m.w.N.).
  1085. 96
  1086. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Im Anklagesatz wird die Person
  1087. des Angeklagten J.
  1088. im Zusammenhang mit dem Fall B.II.3 der Urteils-
  1089. gründe überhaupt nicht erwähnt. Im wesentlichen Ermittlungsergebnis wird
  1090. demgegenüber im Rahmen der Wiedergabe der Zeugenaussagen und der Angaben des Angeklagten J.
  1091. in seiner disziplinarischen Vernehmung nicht
  1092. - 42 -
  1093. nur dessen behauptetes Tätigwerden im Fall B.II.3 der Urteilsgründe geschildert
  1094. (vgl. EA Bd. IX Bl. 1378, 1383, 1410), sondern darüber hinaus auch im Fall
  1095. B.II.2 der Urteilsgründe („dritter Vorfall“ der Anklage - vgl. EA Bd. IX Bl. 1404 der nach Ansicht der Kammer nicht Gegenstand der gegen den Angeklagten
  1096. J.
  1097. erhobenen Anklage ist, siehe dazu unten Ziffer V.). Zudem sind die
  1098. diesbezüglichen Ausführungen auch widersprüchlich: Während die Einlassung
  1099. des Angeklagten J.
  1100. dahingehend dargestellt wird, dass er seine Beteili-
  1101. gung an den Übungen im Fall B.II.1 („zweiter Vorfall“ der Anklage) und B.II.2
  1102. der Urteilsgründe („dritter Vorfall“ der Anklage - vgl. EA Bd. IX Bl. 1404) eingeräumt habe (EA Bd. IX Bl. 1403 f.), lautet die abschließende Feststellung: „Der
  1103. Angeklagte J.
  1104. war, wie sich aus seiner Einlassung ergibt, im zweiten Fall
  1105. als Mitglied des 'Überfallkommandos' und im vierten Fall bei den 'Vernehmungen' im Keller beteiligt“.
  1106. 97
  1107. Demnach ergibt sich auch aus einer Gesamtschau des Anklagesatzes
  1108. und des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen nicht hinreichend konkret,
  1109. ob die Staatsanwaltschaft gegen den Angeklagten J.
  1110. über die Tat im Fall
  1111. B.II.1 der Urteilsgründe hinaus nun eine Beteiligung im Fall B.II.2 oder im Fall
  1112. B.II.3 der Urteilsgründe zur Anklage bringen wollte. Damit ist die zweite dem
  1113. Angeklagten J.
  1114. vorgeworfene Tat nicht hinreichend beschrieben. Die
  1115. Umgrenzungs- und Informationsfunktion der Anklage ist nicht gewahrt. Dieser
  1116. Mangel der Anklage konnte auch nicht im Eröffnungsbeschluss des OLG Hamm
  1117. vom 25. Juli 2006 behoben werden.
  1118. 98
  1119. c) Das Verfahren ist daher insoweit einzustellen. Dies steht einer neuen,
  1120. den verfahrensrechtlichen Anforderungen gerecht werdenden Anklage jedoch
  1121. nicht entgegen.
  1122. - 43 -
  1123. III.
  1124. 99
  1125. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft, mit denen sie eine Verurteilung
  1126. der Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Misshandlung und entwürdigender Behandlung - betreffend die Angeklagten S.
  1127. und K.
  1128. in drei Fällen und in Bezug auf den Angeklagten J.
  1129. in ei-
  1130. nem Fall - erstrebt, haben Erfolg.
  1131. 100
  1132. 1. Schon der Ausgangspunkt der Kammer, wonach sie bei der rechtlichen Würdigung des Verhaltens der Angeklagten in den Fällen, in denen diese
  1133. „nur am Überfall“ (vgl. beispielsweise UA S. 147, 150) auf die Rekruten teilgenommen haben (betreffend den Angeklagten S.
  1134. und 3 der Urteilsgründe, den Angeklagten K.
  1135. de und den Angeklagten J.
  1136. in den Fällen B.I., B.II.2
  1137. im Fall B.II.2 der Urteilsgrün-
  1138. im Fall B.II.1 der Urteilsgründe), ausschließlich
  1139. auf deren Tätigwerden beim Zugriff abgestellt hat, die nachfolgenden Geschehnisse bei den jeweiligen „Verhören“ indes unberücksichtigt gelassen und sich
  1140. insofern mit der Frage der mittäterschaftlichen Zurechnung nicht auseinandergesetzt hat, ist rechtsfehlerhaft.
  1141. 101
  1142. a) Ob ein Tatbeteiligter eine Tat als Mittäter begeht, ist nach den gesamten Umständen des konkreten Falles in wertender Betrachtung zu beurteilen.
  1143. Wesentliche Anhaltspunkte hierfür sind der Grad des eigenen Tatinteresses,
  1144. der Umfang der Tatbeteiligung sowie die Tatherrschaft oder jedenfalls der Wille
  1145. hierzu, so dass Durchführung und Ausgang der Tat maßgeblich von seinem
  1146. Willen abhängen (st. Rspr. - vgl. nur BGHR StGB § 25 Abs. 2 Mittäter 13
  1147. m.w.N.). Zwar haftet jeder Mittäter für das Handeln der anderen nur im Rahmen
  1148. seines - zumindest bedingten - Vorsatzes; er ist also für den Erfolg nur insoweit
  1149. verantwortlich, als sein Wille reicht, so dass ihm ein Exzess der anderen nicht
  1150. - 44 -
  1151. zur Last fällt. Jedoch werden Handlungen eines anderen Tatbeteiligten, mit denen nach den Umständen des Einzelfalles gerechnet werden muss, vom Willen
  1152. des Mittäters umfasst, auch wenn er diese sich nicht besonders vorgestellt hat.
  1153. Ebenso ist er für jede Ausführungsart einer von ihm gebilligten Straftat verantwortlich, wenn ihm die Handlungsweise seiner Tatgenossen gleichgültig ist (vgl.
  1154. BGHR StGB § 25 Abs. 2 Mittäter 32 m.w.N.). Dabei kann bei einem mehraktigen Geschehen Täter auch derjenige sein, welcher nicht sämtliche Akte selbst
  1155. erfüllt. Es genügt, wenn er auf der Grundlage gemeinsamen Wollens einen die
  1156. Tatbestandsverwirklichung fördernden Beitrag leistet (vgl. BGHR StGB § 25
  1157. Abs. 2 Willensübereinstimmung 3). Diese Maßstäbe hat die Strafkammer ihrer
  1158. rechtlichen Beurteilung nicht zu Grunde gelegt.
  1159. 102
  1160. b) Nach den Feststellungen des Landgerichts wussten die Angeklagten
  1161. aufgrund der jeweils vorangegangenen Ausbilderbesprechungen, dass die unter anderem von ihnen ausgeführten Überfälle der Ermöglichung der nachfolgenden Befragungen dienten, die im Fall B.I. der Urteilsgründe „etwa so wie in
  1162. Hammelburg … ablaufen“ (UA S. 23) und sich im Fall B.II.1 der Urteilsgründe
  1163. „an den Sachen in der Sandgrube orientieren“ (UA S. 45) sollten. Die Urteilsausführungen belegen zudem, dass sämtlichen Beteiligten - insbesondere
  1164. aufgrund ihrer eigenen Ausbildung bei der Bundeswehr, ihrer Tätigkeit als Ausbilder sowie den damit einhergehenden Lehrgängen und wie das Fehlen einer
  1165. Nachfrage zeigt - bewusst war, dass die Verhöre - wie auch bei den Geiselnahmeübungen im Rahmen der „Einsatzbezogenen Zusatzausbildung“ - jeweils
  1166. unter psychischen und physischen Belastungen erfolgen sollten, um bei den
  1167. Rekruten Stress zu erzeugen. Auch wenn - was das Landgericht jeweils nicht
  1168. zu klären vermochte - weitere Einzelheiten dazu von den Beteiligten nicht erörtert wurden und die Angeklagten nach den Feststellungen nicht wussten, was
  1169. bei den Befragungen letztlich jeweils im Einzelnen geschah, liegt es aufgrund
  1170. - 45 -
  1171. der sonstigen Feststellungen nahe, dass es zu erheblichen Beeinträchtigungen
  1172. der körperlichen Unversehrtheit der Rekruten (dazu näher unten Ziffer III.4.b)
  1173. kommen würde. Jedenfalls legen die gemeinsamen Erörterungen der Geiselnahmeübungen ohne weitere Nachfrage zu den Einzelheiten im Zusammenhang mit der nachfolgenden aktiven Beteiligung der Angeklagten an den jeweiligen Übungen nahe, dass ihnen die genaue Vorgehensweise bei den „Verhören“ zumindest gleichgültig war.
  1174. 103
  1175. c) Betreffend den Angeklagten K.
  1176. kommt hinzu, dass er im Fall B.II.1
  1177. der Urteilsgründe und damit vor Fall B.II.2 der Urteilsgründe, bei dem er dem
  1178. „Überfallkommando“ zugeteilt war (und auch vor Fall B.II.3 der Urteilsgründe, in
  1179. dem er Marschüberwachung fuhr, dazu unten Ziffer III.2.c), für das „Verhör“ der
  1180. Rekruten im Keller des Kasernengebäudes eingeteilt war. Bei der dieser Geiselnahmeübung vorausgehenden Ausbilderbesprechung wurde darauf hingewiesen, dass sich die für das „Verhör“ eingeteilten Ausbilder - und damit auch
  1181. der Angeklagte K.
  1182. - „an den Sachen aus der Sandgrube orientieren“ soll-
  1183. ten. Im Anschluss sprach sich der Angeklagte K.
  1184. mit den weiteren für das
  1185. „Verhör“ eingeteilten Ausbildern ab, wie der Kellerraum für die geplante Befragung der Rekruten herzurichten sei. Der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe legt darüber hinaus nahe, dass als Ergebnis dieser Unterredung der
  1186. Angeklagte K.
  1187. den „Verhörraum“ - allein oder gemeinsam mit den weiteren
  1188. Ausbildern - entsprechend vorbereitet hat oder dies hat machen lassen. Hätte
  1189. der Angeklagte K.
  1190. zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis davon gehabt, was
  1191. bei der vorhergehenden Befragung in der Sandgrube geschehen ist, so hätte
  1192. dies alles nicht erfolgen können. Erst recht hatte er dann aber bei den nachfolgenden Geiselnahmeübungen in den Fällen B.II.2 und 3 der Urteilsgründe eine
  1193. Vorstellung über den Ablauf der „Verhöre“.
  1194. - 46 -
  1195. 104
  1196. d) Absprachegemäß haben die Angeklagten, soweit sie an den „Überfällen“ beteiligt waren, die „Verhöre“ und auch die damit einhergehenden erheblichen Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit der Rekruten dadurch
  1197. ermöglicht, dass sie diese überfallen, entwaffnet und gefesselt haben, bevor
  1198. diese zur Sandgrube oder in den Keller der Kasernengebäude verbracht wurden. Dabei hatten sie bezüglich der konkreten Ausgestaltung dieses Teils der
  1199. Übung freie Hand. Die Beiträge des „Überfallkommandos“ und derjenigen, die
  1200. das „Verhör“ durchführten, ergänzten sich - dem Tatplan entsprechend - arbeitsteilig. Die Feststellungen drängen zu der Annahme, dass die Angeklagten
  1201. bei ihrem eigenen Handeln bei den Überfällen - insbesondere aufgrund der im
  1202. Rahmen der Ausbildung ansonsten unüblichen nicht nur kurzzeitigen Fesselung
  1203. mit Kabelbindern und der teils gewaltsamen Überwältigungen - die erhebliche
  1204. Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens der Rekruten zumindest billigend in Kauf genommen haben. Die in diesem Zusammenhang festgestellte
  1205. körperliche Misshandlung der Rekruten wäre dann von ihrem Willen umfasst.
  1206. Die Vorgehensweise bei den Überfällen und die damit zusammenhängenden
  1207. Beeinträchtigungen für die Rekruten unterschieden sich nicht wesentlich von
  1208. denjenigen der Geschehnisse bei den späteren Befragungen. Allein die Steigerung der Intensität einzelner Handlungen bei den Verhören - wie etwa das
  1209. Pumpen von Wasser in Mund und Nase bis zur Atemnot oder dem Versetzen
  1210. von Stromstößen - bewirkt nicht, dass die Geiselnahmeübung insgesamt eine
  1211. andere, von diesen Angeklagten nicht mehr vorgestellte Qualität der Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit gehabt hätte. Aufgetretene Exzesse
  1212. sind lediglich im Rahmen des Schuldumfangs der einzelnen Beteiligten zu berücksichtigen.
  1213. - 47 -
  1214. e) Der vom Landgericht vorgenommenen Differenzierung zwischen dem
  1215. 105
  1216. Überfall einerseits und dem Verhör andererseits kann daher nicht gefolgt werden. Das Überwältigen der Rekruten ermöglichte erst das anschließende „Verhör“ und bildete einen unverzichtbaren Bestandteil der insgesamt unzulässigen
  1217. (dazu unten Ziffer III.4.c) Geiselnahmeübung. Die an den Übungen beteiligten
  1218. Angeklagten müssen sich deshalb die Geschehnisse der gesamten jeweiligen
  1219. Übung zurechnen lassen, soweit sie von dem gemeinsam gefassten Tatplan
  1220. gedeckt sind und es sich nicht um einzelne Exzesse handelte. Jedenfalls die
  1221. von den Rekruten in der Sandgrube beziehungsweise im Kasernenkeller auszuführenden Zwangshaltungen, Kniebeugen, Liegestütze, das Haltenmüssen von
  1222. Baumstämmen und die Scheinerschießungen stimmen nach den Urteilsfeststellungen nach Art und Intensität der Beeinträchtigung mit den Vorgehensweisen
  1223. bei den zulässigen Geiselnahmeübungen, die unter anderem in Hammelburg
  1224. durchgeführt werden, überein, so dass diese vom gemeinsamen Tatplan gedeckt und somit den Angeklagten zurechenbar waren.
  1225. 2. Unzutreffend ist auch die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte
  1226. 106
  1227. K.
  1228. sei in den Fällen B.II.1 und 3 der Urteilsgründe mangels eines eigenen
  1229. Tatbeitrages freizusprechen. Denn der Angeklagte K.
  1230. leistete auch in die-
  1231. sen beiden Fällen jeweils einen notwendigen, wesentlichen Beitrag zur Durchführung der Geiselnahmeübung entsprechend dem zuvor gefassten gemeinsamen Tatplan der Beteiligten.
  1232. 107
  1233. a) Mittäterschaft kann selbst durch die bloße Beteiligung an Vorbereitungshandlungen begründet werden, sofern der Betreffende auf der Grundlage
  1234. gemeinsamen Wollens einen die Tatbestandsverwirklichung fördernden Beitrag
  1235. leistet, welcher sich nach seiner Willensrichtung nicht als bloße Förderung
  1236. fremden Tuns, sondern als Teil der Tätigkeit aller darstellt, und der dement-
  1237. - 48 -
  1238. sprechend die Handlungen der anderen als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheinen lässt (BGHSt 16, 12,14; 28, 346, 347 f.; BGH, Urt. vom 30. Oktober 1986 - 4 StR 499/86 [insofern nicht abgedruckt in BGHSt 34, 209]). Ob
  1239. das der Fall ist, ist in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte können der Grad des eigenen Interesses am Erfolg, der Umfang
  1240. der Tatbeteiligung, die Tatherrschaft oder der Wille zur Tatherrschaft sein, so
  1241. dass Durchführung und Ausgang der Tat maßgeblich vom Willen des Betreffenden abhängen (BGH, Urt. vom 30. Oktober 1986 - 4 StR 499/86 [insofern
  1242. nicht abgedruckt in BGHSt 34, 209] m.w.N.).
  1243. 108
  1244. b) Der Angeklagte K.
  1245. , der bei der Ausbilderbesprechung für die Gei-
  1246. selnahmeübung am 24./25. August 2004 (Fall B.II.1 der Urteilsgründe) für die
  1247. Station „Verhör“ eingeteilt worden war, sprach sich mit den übrigen für das
  1248. „Verhör“ vorgesehenen Ausbildern ab und legte mit diesen - ohne hierfür nähere Vorgaben bekommen zu haben - eigenständig fest, wie der Raum für diese
  1249. Station auszustatten war. Nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe
  1250. liegt zudem nahe, dass als Ergebnis dieser Unterredung der Angeklagte K.
  1251. den „Verhörraum“ - allein oder gemeinsam mit den weiteren Ausbildern - auch
  1252. entsprechend vorbereitet hat oder dies hat machen lassen. Diese absprachegemäße Beteiligung an den Vorbereitungshandlungen begründet vorliegend eine Mittäterschaft des Angeklagten K.
  1253. , da er auf der Grundlage des ge-
  1254. meinsamen Tatplans einen die Tatbestandsverwirklichung fördernden Beitrag
  1255. leistete, der sich als Teil der Tätigkeit aller darstellt, und der dementsprechend
  1256. die Handlungen der anderen als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheinen lässt. Unerheblich ist dabei, dass der Angeklagte K.
  1257. letztlich an der
  1258. Erbringung weiterer, ursprünglich vorgesehener Tatbeiträge im Rahmen der
  1259. Durchführung der Befragungen aus zeitlichen Gründen nicht mehr mitwirken
  1260. konnte.
  1261. - 49 -
  1262. 109
  1263. c) Bei der Geiselnahmeübung am 1./2. September 2004 (Fall B.II.3 der
  1264. Urteilsgründe) ging das Tätigwerden des Angeklagten K.
  1265. weit über bloße
  1266. Vorbereitungshandlungen hinaus. Vielmehr kontrollierte, überwachte und bestimmte der Angeklagte K.
  1267. den organisatorischen Ablauf dieser Übung in
  1268. wesentlichen Teilen mit, indem er nach den Feststellungen gemeinsam mit den
  1269. Mitangeklagten D.
  1270. und H.
  1271. Marschüberwachung fuhr und zusammen
  1272. mit diesen entschied, ob die Übung wegen des großen Widerstandes der Rekruten abgebrochen werden sollte. Zweifelsohne liegt darin ein eigener Tatbeitrag des Angeklagten K.
  1273. zu der gemeinsam geplanten Geiselnahmeübung,
  1274. der die Annahme von Mittäterschaft rechtfertigt.
  1275. 110
  1276. 3. Nicht frei von Rechtsfehlern sind auch die Ausführungen der Kammer,
  1277. wonach sie im Hinblick auf das Geschehen bei den Überfällen jeweils „nach
  1278. dem Grundsatz im Zweifel für den Angeklagten nur von dem ausgehen“ könne,
  1279. „was den Rekruten im Regelfall passiert“ sei „und woran der [jeweilige] Angeklagte … auch nach seiner eigenen Einlassung beteiligt“ war (UA S. 144). Insofern sind die Grundsätze der mittäterschaftlichen Begehungsweise ebenfalls
  1280. unzulänglich angewendet.
  1281. 111
  1282. Wie bereits dargelegt, haftet jeder Mittäter im Rahmen seines - zumindest bedingten - Vorsatzes für das Handeln der anderen. Dabei werden Handlungen eines anderen Tatbeteiligten, mit denen nach den Umständen des Einzelfalles gerechnet werden muss, vom Willen des Mittäters umfasst, auch wenn
  1283. er sie sich nicht besonders vorgestellt hat. So verhält es sich hier. Vereinbarungsgemäß „überfielen“, entwaffneten und fesselten die Angeklagten, soweit
  1284. sie dem „Überfallkommando“ zugeteilt waren (Angeklagter S.
  1285. B.II.2 und 3 der Urteilsgründe; Angeklagter K.
  1286. : Fälle B.I.,
  1287. : Fall B.II.2 der Urteilsgründe;
  1288. - 50 -
  1289. Angeklagter J.
  1290. : Fall B.II.1 der Urteilsgründe) jeweils mit weiteren Ausbil-
  1291. dern die unvorbereiteten Rekruten. Bei einem - schon aufgrund der nicht vorhersehbaren Reaktionen der Soldaten - derart unkontrollierbaren Geschehen
  1292. liegt es gleichfalls nahe, dass die Beteiligten - entgegen der Auffassung des
  1293. Landgerichts, das insofern von „Ausnahmen“ ausgeht (UA S. 144) - selbstverständlich damit rechneten, dass sich Soldaten zur Wehr setzen könnten und es
  1294. daher zu tätlichen, auch schmerzhaften, Auseinandersetzungen - wie etwa mit
  1295. den Zeugen L.
  1296. , Be.
  1297. , De.
  1298. , Kü.
  1299. , Dz.
  1300. , Bla.
  1301. und Ku.
  1302. -
  1303. kommen könnte. In diesem Fall hätten die Angeklagten nach den Feststellungen insofern jedenfalls mit bedingtem Vorsatz gehandelt und müssten sich damit diese Geschehnisse zurechnen lassen. Dabei kommt es nicht darauf an,
  1304. dass sie selbst an der konkreten Auseinandersetzung mit den einzelnen betroffenen Rekruten nicht beteiligt waren.
  1305. 112
  1306. 4. Die Beteiligung der Angeklagten an den jeweiligen Geiselnahmeübungen stellt entgegen der Ansicht des Landgerichts eine körperliche Misshandlung
  1307. im Sinne des § 30 Abs. 1 WStG, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB dar. Der
  1308. Begriff der Misshandlung des § 30 WStG setzt ebenso wie der Tatbestand des
  1309. § 223 Abs. 1 StGB eine üble und unangemessene Einwirkung auf den Körper
  1310. des Verletzten voraus, die dessen körperliches Wohlbefinden mehr als bloß unerheblich beeinträchtigt (BGHSt 14, 269, 271; Senat, Urt. vom 14. Januar 2009
  1311. - 1 StR 158/08 - Rdn. 36 [vorgesehen zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]). Die
  1312. Beurteilung der Erheblichkeit bestimmt sich dabei nach der Sicht eines objektiven Betrachters - nicht nach dem subjektiven Empfinden des Betroffenen - und
  1313. richtet sich insbesondere nach Dauer und Intensität der störenden Beeinträchtigung (Senat, Urt. vom 14. Januar 2009 - 1 StR 158/08 - Rdn. 36 [vorgesehen
  1314. zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]; vgl. auch Eser in Schönke/Schröder, StGB
  1315. 27. Aufl. § 223 Rdn. 4a m.w.N.).
  1316. - 51 -
  1317. 113
  1318. a) An diesen Maßstäben gemessen stellen - wovon auch die Kammer im
  1319. Ansatz zutreffend ausgeht (vgl. UA S. 144) - bereits das Überfallen und Überwältigen der Rekruten, ihre Fesselung mit Kabelbindern - erst recht die Fesselung an Händen und Füßen - über einen erheblichen Zeitraum, das Verbinden
  1320. ihrer Augen, ihr „Verladen“ auf die Ladefläche eines Lkws und der anschließende unzulässige Transport, bei dem die nach wie vor gefesselten Soldaten mit
  1321. verbundenen Augen teils übereinander lagen und in keiner Weise während der
  1322. Fahrt gesichert waren, jeweils für sich genommen eine erhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens dar. Erst Recht gilt dies für die hierbei
  1323. teilweise verabreichten Schläge. Dies gilt umso mehr, als die Rekruten nach
  1324. rund 24 Stunden Dienst und dem mehrstündigen Orientierungsmarsch mit ihrem gesamten Marschgepäck und ihrem Gewehr zumeist ohnehin erschöpft
  1325. waren.
  1326. 114
  1327. b) Zudem beeinträchtigte die Geiselnahmeübung in ihrer Gesamtheit
  1328. - sprich die Überfälle und die sich anschließenden „Verhöre“ der Rekruten -,
  1329. worauf maßgeblich abzustellen ist (vgl. oben Ziffer III.1.e), das körperliche
  1330. Wohlbefinden der Rekruten mehr als bloß unerheblich. Die Rekruten wurden
  1331. dieser „Behandlung“ über einen Zeitraum von jedenfalls 30 Minuten unterzogen.
  1332. Zum Teil waren sie während der gesamten Zeit mit den Kabelbindern gefesselt.
  1333. Teilweise mussten sie zusätzlich über erhebliche Zeiträume in anstrengenden
  1334. Zwangspositionen (etwa mit weit vorgebeugtem Oberkörper einem Kameraden
  1335. gegenüber kniend) verharren (vgl. zur körperlichen Misshandlung durch
  1336. Zwangshaltungen bereits RMG 3, 119, 121) oder kräftezehrende Übungen
  1337. (Liegestütze, Kniebeugen, Halten von Baumstämmen) absolvieren, obwohl sie
  1338. - wie dargestellt - aufgrund der vorangegangenen körperlichen Anstrengungen
  1339. überwiegend am Ende ihrer körperlichen Möglichkeiten waren und damit die
  1340. - 52 -
  1341. auferlegten Aufgaben und die übrige Behandlung als bloße Quälerei empfinden
  1342. mussten.
  1343. 115
  1344. c) Die Geiselnahmeübung ist auch eine üble und unangemessene Einwirkung auf den Körper der betroffenen Rekruten, da sie offensichtlich den geltenden Dienstvorschriften zuwiderlief und es an einem rechtmäßigen Befehl
  1345. fehlte.
  1346. 116
  1347. aa) Ob eine üble, unangemessene, sozialwidrige Behandlung gegeben
  1348. ist, entscheidet sich nach dem Wesen des militärischen Dienstes, der seiner
  1349. Natur nach hohe körperliche Anforderungen an den Soldaten stellt. Mutet ein
  1350. Vorgesetzter im Rahmen seiner allgemeinen Befugnisse und zu Zwecken der
  1351. Ausbildung einem Soldaten besondere Anstrengungen zu und verstößt er dabei
  1352. nicht offensichtlich gegen gesetzliche Bestimmungen, rechtmäßige Dienstvorschriften und Befehle, so fehlt es an einer Misshandlung (BGHSt 14, 269, 271;
  1353. Senat, Urt. vom 14. Januar 2009 - 1 StR 158/08 - Rdn. 40 [vorgesehen zum
  1354. Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]).
  1355. 117
  1356. Nach Art. 1 Abs. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu
  1357. achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dies gilt auch
  1358. für die Gewährleistung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit gemäß
  1359. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Diese Gebote bilden die Grundlage der Wehrverfassung der Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 10 Abs. 4 SG) und bedürfen im
  1360. militärischen Bereich besonderer Beachtung. Nach der eindeutigen Regelung
  1361. des § 6 Satz 1 SG hat der Soldat die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie
  1362. jeder andere Staatsbürger. Gemäß § 6 Satz 2 SG werden die grundrechtlichen
  1363. Garantien lediglich im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes
  1364. durch seine gesetzlich begründeten Pflichten beschränkt. Die körperliche Integ-
  1365. - 53 -
  1366. rität der Untergebenen innerhalb der Bundeswehr genießt einen hohen Stellenwert. Es gilt der Grundsatz, dass ein Vorgesetzter seine Untergebenen niemals
  1367. anfassen darf, außer es steht zur unmittelbaren Durchsetzung eines rechtmäßigen Befehls kein anderes Mittel zur Verfügung (Senat, Urt. vom 14. Januar
  1368. 2009 - 1 StR 158/08 - Rdn. 41 [vorgesehen zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.];
  1369. vgl. auch BVerwG NVwZ-RR 1999, 321, 322 m.w.N.).
  1370. 118
  1371. bb) Vorliegend stellt die Durchführung der Geiselnahmeübungen jeweils
  1372. einen klaren Verstoß gegen die geltenden Vorschriften der Bundeswehr und die
  1373. Grundrechte der betroffenen Rekruten dar. Eine praktische Übung „Geiselnahme/Verhalten in Gefangenschaft“ ist und war auch zur Tatzeit nach den geltenden Ausbildungsregeln der Bundeswehr für die dreimonatige Grundausbildung
  1374. der Rekruten nicht vorgesehen und damit mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nicht zulässig. Eine derartige Übung kam ausschließlich im
  1375. Rahmen der „Einsatzbezogenen Zusatzausbildung“ für diejenigen Soldaten in
  1376. Betracht, die als Soldaten auf Zeit, als freiwillig länger Dienende oder als Berufssoldaten, die ihre Ausbildung bereits abgeschlossen hatten, vor einem Auslandseinsatz standen. Aber selbst diese Spezialübung darf ausschließlich an
  1377. drei besonderen Bundeswehrstandorten durchgeführt werden. Vorschriftsgemäß hat dem praktischen Teil zudem eine Unterrichtseinheit mit psychologischer Betreuung vorauszugehen. Eine tätliche Konfrontation mit den Soldaten
  1378. oder gar eine Fesselung ist nicht vorgesehen. Außerdem können die Soldaten
  1379. die Übung, auf die sie vorbereitet worden sind, durch ein Handzeichen jederzeit
  1380. beenden.
  1381. 119
  1382. Obgleich unzulässig, wurden vorliegend aber nicht einmal diese Standards für die Durchführung derartiger Spezialübungen beachtet. Eine vorbereitende Unterrichtseinheit fand nicht statt. Die ohnehin zumeist erschöpften Re-
  1383. - 54 -
  1384. kruten wurden nach rund 24-stündigem Dienst und einem kräftezehrenden
  1385. nächtlichen Orientierungsmarsch außergewöhnlichen, bei solchen Spezialübungen nicht zulässigen zusätzlichen physischen Belastungen (etwa in Form
  1386. des gewaltsamen Überwältigens mit tätlichen Auseinandersetzungen, der Fesselung oder des ungesicherten Transports auf einem Transporter), aber auch
  1387. psychischen Belastungen ausgesetzt und damit in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzt. Dies verstieß evident gegen gesetzliche Bestimmungen, Dienstvorschriften und Befehle, § 10 Abs. 4 SG.
  1388. 120
  1389. 5. Rechtsfehlerhaft ist aber auch die Annahme des Landgerichts, die Angeklagten hätten sich in einem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum
  1390. gemäß § 16 Abs. 1 StGB befunden, weil sie von der Rechtmäßigkeit der Übung
  1391. ausgegangen seien. Denn der Irrtum eines Untergebenen in der Bundeswehr,
  1392. sein Verhalten sei durch gesetzliche Bestimmungen, Dienstvorschriften oder einen rechtmäßigen Befehl gerechtfertigt, unterfällt dem besonderen Schuldausschließungsgrund des § 5 Abs. 1 WStG (Senat, Urt. vom 14. Januar 2009
  1393. - 1 StR 158/08 - Rdn. 44 [vorgesehen zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]).
  1394. 121
  1395. a) § 11 Abs. 2 Satz 1 SG verbietet den Gehorsam gegenüber einem Befehl, wenn der Untergebene dadurch eine Straftat begeht. Ein solcher strafrechtswidriger Befehl ist unverbindlich (vgl. BGHSt 19, 231, 232; Dau in
  1396. Erbs/Kohlhaas 176. Lfg. § 5 WStG Rdn. 2). Ein Befehl, dem die Verbindlichkeit
  1397. fehlt, kommt lediglich als Entschuldigungsgrund in Betracht. Der Untergebene,
  1398. der eine strafrechtswidrige Weisung ausführt, handelt tatbestandsmäßig und
  1399. rechtswidrig, selbst wenn er an die Rechtmäßigkeit und Verbindlichkeit der Anordnung glaubt (vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts - AT 5. Aufl.
  1400. § 46 I.2 m.w.N.). Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 SG und § 5 Abs. 1 WStG trifft einen Untergebenen, der auf Befehl eine rechtswidrige Tat begeht, die den Tat-
  1401. - 55 -
  1402. bestand eines Strafgesetzes verwirklicht, eine Schuld aber nur dann, wenn er
  1403. erkennt, dass es sich um eine rechtswidrige Tat handelt, oder dies nach den
  1404. ihm bekannten Umständen offensichtlich ist (Senat, Urt. vom 14. Januar 2009
  1405. - 1 StR 158/08 - Rdn. 45 [vorgesehen zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]
  1406. m.w.N.).
  1407. 122
  1408. b) Erkennen verlangt hierbei positive Kenntnis, sicheres Wissen (vgl.
  1409. BGHSt 22, 223, 225 zu § 47 MStGB). Erkennt der Untergebene die Strafrechtswidrigkeit des Befehls nicht, beurteilt er sie unzutreffend oder hat er insoweit Zweifel, so handelt er nur dann schuldhaft, wenn die Strafrechtswidrigkeit
  1410. nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist. § 17 StGB ist im Rahmen des § 5 WStG angesichts der ausdrücklichen Regelung der militärischen
  1411. Befehlsverhältnisse nicht anwendbar (Senat, Urt. vom 14. Januar 2009 - 1 StR
  1412. 158/08 - Rdn. 46 [vorgesehen zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]; BGHSt 5,
  1413. 239, 244; 22, 223, 225 [zu § 47 MStGB]).
  1414. 123
  1415. Der Begriff „offensichtlich“ ist objektiv zu verstehen. Er umfasst das, was
  1416. jedermann ohne weiteres Nachdenken erkennt, was jenseits aller Zweifel liegt
  1417. (vgl. BGHR WStG § 5 Abs. 1 Schuld 2). Abzustellen ist damit auf die Erkenntnisfähigkeit eines gewissenhaften, pflichtbewussten Durchschnittssoldaten. Beurteilungsgrundlage für diesen sind allerdings die dem Täter subjektiv bekannten Umstände - und zwar nicht nur die allgemeinen Tatumstände, sondern alle
  1418. für die Beurteilung des Sachverhalts bedeutsamen Umstände - wie etwa die
  1419. Kenntnis von vorangegangenen Ereignissen, von Befehlen, Belehrungen,
  1420. Dienstvorschriften und dergleichen (Schölz/Lingens, Wehrstrafgesetz 4. Aufl.
  1421. § 5 Rdn. 13; Dau in Erbs/Kohlhaas 176. Lfg. § 5 WStG Rdn. 10). Auch wenn einem Untergebenen regelmäßig keine Sachverhaltsprüfungspflicht obliegt (vgl.
  1422. BGHR WStG § 5 Abs. 1 Schuld 2) und er grundsätzlich zu unverzüglichem Ge-
  1423. - 56 -
  1424. horsam verpflichtet ist, so muss er dennoch Gegenvorstellung erheben oder
  1425. den Gehorsam verweigern, wenn er aufgrund der ihm bekannten Umstände der
  1426. Überzeugung ist oder er ohne den berechtigten Vorwurf der Rechtsblindheit die
  1427. Überzeugung haben müsste, dass der Befehl strafrechtswidrig ist (vgl. Stauf in
  1428. Nomos - Erläuterungen zum Deutschen Bundesrecht § 5 WStG; BGHSt 19,
  1429. 231, 233; zum Ganzen bereits Senat, Urt. vom 14. Januar 2009 - 1 StR
  1430. 158/08 - Rdn. 47 [vorgesehen zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]).
  1431. 124
  1432. c) Dies hat das Landgericht nicht in ausreichendem Maße bedacht. Sollte
  1433. sich das nun zur Entscheidung berufene Tatgericht aufgrund der neu durchzuführenden Beweisaufnahme die Überzeugung davon verschaffen können, dass
  1434. die Angeklagten - entsprechend der ihnen selbst erteilten Ausbildung - die zum
  1435. jeweiligen Tatzeitpunkt geltende AnTrA1 und/oder das Schreiben des Heeresführerkommandos vom 26. Februar 2004 beziehungsweise den „Befehl 38/10“
  1436. vom 12. April 2004 gekannt oder aufgrund anderer Umstände um die Unzulässigkeit einer Übung „Geiselnahme/Verhalten in Gefangenschaft“ in der „Allgemeinen Grundausbildung“ gewusst haben, wofür die Diskussion über die Frage
  1437. der Genehmigung durch den Kompaniechef spricht, so sind sie - unabhängig
  1438. von ihren persönlichen Beiträgen - insgesamt für ihre Beteiligungen an den jeweiligen Übungen strafrechtlich verantwortlich.
  1439. 125
  1440. Im Übrigen legen bereits die bisherigen Feststellungen - insbesondere
  1441. die Diskussion unter den Ausbildern über eine Änderung der AnTrA1 in Bezug
  1442. auf eine künftige Zulässigkeit von Geiselnahmeübungen in der Grundausbildung - den Schluss nahe, dass die Strafrechtswidrigkeit der Übung und der
  1443. diesbezüglichen „Genehmigung“ des Kompaniechefs für die Beteiligten jedenfalls offensichtlich im Sinne des § 5 Abs. 1 WStG war. Dies gilt umso mehr, als
  1444. Art und Weise der Durchführung der Übung von den bei der „Einsatzbezogenen
  1445. - 57 -
  1446. Zusatzausbildung“ geltenden Standards abwichen, was die Beteiligten aufgrund
  1447. bis dahin üblichen Rekrutenausbildungen sowie ihrer eigenen Ausbildung wussten. Für diesen Fall hätten die Angeklagten den strafrechtswidrigen, unverbindlichen Befehl nicht ausführen dürfen.
  1448. 126
  1449. 6. Unabhängig von der rechtlichen Einordnung einer etwaigen Fehlvorstellung hält die Beweiswürdigung des Landgerichts hinsichtlich der subjektiven
  1450. Tatseite sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand. Zum einen legt die Strafkammer entlastende Einlassungen der Angeklagten, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine Beweise gibt, den Urteilsfeststellungen ohne weiteres als
  1451. unwiderlegbar zugrunde. Zum anderen ist die Beweiswürdigung des Landgerichts insofern lückenhaft und widersprüchlich.
  1452. 127
  1453. a) Die Feststellung der Strafkammer, die Angeklagten seien jeweils von
  1454. einem im Rahmen der militärischen Ausbildung sozial adäquaten Tun und von
  1455. keiner vorschrifts- oder befehlswidrigen Ausbildung ausgegangen, beruht auf
  1456. deren Einlassungen, die die Kammer, ohne dass es dafür tatsächliche, objektive Anhaltspunkte gegeben hätte, als unwiderlegt angesehen hat. Da an die
  1457. Bewertung der Einlassung eines Angeklagten aber die gleichen Anforderungen
  1458. zu stellen sind wie an die Beurteilung von Beweismitteln, darf der Tatrichter diese seiner Entscheidung nur dann zu Grunde legen, wenn er in seine Überzeugungsbildung auch die Beweisergebnisse einbezogen hat, die gegen die Richtigkeit der Einlassung sprechen können (vgl. BGH NJW 2006, 522, 527 - insofern nicht abgedruckt in BGHSt 50, 331 ff.; Senat, Urt. vom 14. Januar 2009
  1459. - 1 StR 158/08 - Rdn. 51 [vorgesehen zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]). Dies
  1460. hat die Kammer nicht getan.
  1461. - 58 -
  1462. b) Sie hat zwar die zu Gunsten der Angeklagten sprechenden Umstände
  1463. 128
  1464. - wie die Anordnung der Übung durch die Zugführer sowie deren Mitteilung über
  1465. die Genehmigung durch den Kompaniechef, den Mitangeklagten Sc.
  1466. - be-
  1467. rücksichtigt. Belastende Indizien, die jedenfalls in ihrer Gesamtheit Zweifel an
  1468. einem Irrtum aufkommen lassen und darauf hindeuten, dass den Angeklagten
  1469. - ebenso wie den übrigen Beteiligten an dieser Übung - der Verstoß gegen die
  1470. geltenden, ihnen bekannten Ausbildungsvorschriften der Bundeswehr bewusst
  1471. und ihnen daher die Rechtmäßigkeit ihres Handelns zumindest gleichgültig war,
  1472. hat sie aber nicht erkennbar in die Beweiswürdigung eingestellt.
  1473. aa) So setzt sich die Strafkammer nicht ausreichend mit dem nahe lie-
  1474. 129
  1475. genden Gesichtspunkt auseinander, dass sämtliche Angeklagte selbst die Ausbildung bei der Bundeswehr durchlaufen haben und sie daher wissen mussten,
  1476. dass eine praktische Übung „Geiselnahme/Verhalten in Gefangenschaft“ nicht
  1477. Bestandteil der „Allgemeinen Grundausbildung“ war und es dazu deshalb auch
  1478. keine Ausbildungsvorschriften für die Grundausbildung von Soldaten gab.
  1479. Gänzlich unerörtert bleibt die Tatsache, dass die Angeklagten als Ausbilder eine zusätzliche, weitergehende Ausbildung erhalten hatten und ihnen in diesem
  1480. Zusammenhang die Ausbildungsziele und die Bestandteile der „Allgemeinen
  1481. Grundausbildung“ von Rekruten bekannt gemacht sein mussten.
  1482. bb) Das Landgericht geht außerdem nicht auf die sich aufdrängende
  1483. 130
  1484. Frage nach dem Grund für die Mitteilung der beiden Zugführer D.
  1485. H.
  1486. und
  1487. bei der Ausbilderbesprechung über die „Absegnung“ der Übung durch
  1488. den Kompaniechef ein. Dies könnte dafür sprechen, dass die Rechtmäßigkeit
  1489. des Vorhabens Gegenstand der Diskussion war; wenn es hierfür eine allgemein
  1490. gültige Dienstanweisung gegeben hätte, wäre diese Frage kaum aufgetaucht,
  1491. sondern einfach hierauf verwiesen worden.
  1492. - 59 -
  1493. 131
  1494. cc) Unerwähnt lässt die Kammer zudem Folgendes: Nach den Urteilsfeststellungen war es „in der Bundeswehr vorgekommen, dass auch außerhalb
  1495. (der)
  1496. drei
  1497. benannten
  1498. Ausbildungszentren
  1499. eine
  1500. Ausbildung
  1501. „Geiselnah-
  1502. me/Geiselhaft“ durchgeführt worden war, die nicht der Ausbildung in den Ausbildungszentren der Bundeswehr entsprach und die bei einigen Teilnehmern zu
  1503. Anzeichen einer Traumatisierung geführt hatte“. Deshalb war in einem entsprechenden Schreiben des Heeresführerkommandos sowie in dem „Befehl 38/10“
  1504. auf die Unzulässigkeit derartiger Übungen in der „Allgemeinen Grundausbildung“ und außerhalb der vorgesehenen Ausbildungszentren hingewiesen worden (UA S. 19/20). Angesichts dessen erscheint es auch im Hinblick auf die
  1505. Gespräche der Ausbilder über eine künftige Änderung der AnTrA1 eher abwegig, dass gerade darüber innerhalb der Kompanie der Angeklagten nicht gesprochen wurde beziehungsweise dies unerwähnt blieb.
  1506. dd) Letztlich gibt die Kammer auch nicht zu erkennen, worauf sie ihre
  1507. 132
  1508. Auffassung stützt, dass nicht festzustellen war, dass die Angeklagten das
  1509. Schreiben des Heeresführungskommandos vom 26. Februar 2004 beziehungsweise den „Befehl 38/10“ vom 12. April 2004 kannten. Soweit das Tatgericht lediglich darauf verweist, dass selbst der Mitangeklagte Hauptmann
  1510. Sc.
  1511. erklärt habe, dass ihm - obwohl Kompaniechef - beide Schreiben nicht
  1512. bekannt gewesen seien, genügt dies nicht. Die Kammer hat sich mit der Glaubhaftigkeit dieser Einlassung nicht auseinandergesetzt, obwohl sich die Frage
  1513. aufdrängen musste, ob dieser Mitangeklagte nicht ein gewisses Eigeninteresse
  1514. verfolgt. Unberücksichtigt gelassen wird auch die in Behörden und staatlichen
  1515. Einrichtungen übliche Bekanntmachung derart wichtiger Anweisungen - regelmäßig durch unterschriftliche Bestätigung der einzelnen Empfänger oder Protokollierung der Bekanntgabe unter Mitteilung der hierbei anwesenden Soldaten.
  1516. - 60 -
  1517. Gerade deshalb erscheint es eher fern liegend und mit einem ordnungsgemäßen Verwaltungsablauf unvereinbar, dass beide Schriftstücke in dieser Ausbildungseinheit praktisch nicht zur Kenntnis gelangt sein sollen.
  1518. 133
  1519. ee) Im Hinblick auf die Geiselnahmeübungen in den Fällen B.II.1 bis 3
  1520. der Urteilsgründe findet außerdem keine Erwähnung, dass nach Durchführung
  1521. der ersten Übung, an der der Angeklagte S.
  1522. ebenfalls beteiligt war, eine
  1523. - nicht näher geschilderte - Nachbesprechung stattgefunden hatte und das Geschehen fotografisch dokumentiert worden war. Hier wäre zu erwarten gewesen, dass diejenigen Beteiligten, deren Vorstellung vom Übungsablauf die tatsächliche Durchführung widersprach, Verwunderung oder Ablehnung im Hinblick auf die erfolgte Behandlung der Rekruten äußerten und sich von diesem
  1524. Geschehen distanzierten. Jedenfalls liegt es aufgrund dieser Nachbesprechung
  1525. nahe, dass jedenfalls der Angeklagte S.
  1526. zumindest bei seiner Teilnahme
  1527. an den weiteren Übungen sehr wohl wusste, was mit den Rekruten im Einzelnen geschehen wird. Dann musste sich ihm auch mindestens aufdrängen, dass
  1528. sich jedenfalls einzelne Vorgänge (etwa die Behandlung des Zeugen L.
  1529. ) nicht im Rahmen einer zulässigen Übung zu Ausbildungszwecken bewegten. Nachdem die weiteren Übungen - wie den Angeklagten bekannt war - vergleichbar ablaufen sollten und sich insbesondere das „Verhör“ jeweils an dem
  1530. vorhergehenden Geschehen orientieren sollte, spricht wenig dafür, dass die
  1531. Angeklagten - insbesondere gilt dies für den Angeklagten S.
  1532. - jedenfalls
  1533. zu diesem Zeitpunkt noch von einer insgesamt zulässigen Übung ausgehen
  1534. konnten.
  1535. 134
  1536. Dies alles hat das Landgericht erkennbar nicht in seine Beweiswürdigung
  1537. eingestellt.
  1538. - 61 -
  1539. 135
  1540. c) Zudem weist die Beweiswürdigung Widersprüche auf.
  1541. 136
  1542. aa) Das Landgericht führt aus, auch der Umstand, dass eine solche
  1543. Übung bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht durchgeführt worden sei, habe den
  1544. Angeklagten keinen Grund für weitere Nachfragen bieten müssen. Denn „seinerzeit … war in den Kreisen der Ausbilder bereits davon die Rede, dass die
  1545. AnTrA1 den geänderten Verhältnissen … angepasst werden sollte, so dass in
  1546. der Allgemeinen Grundausbildung geänderte Ausbildungsinhalte zu erwarten“
  1547. gewesen seien (UA S. 145). Die Kammer geht damit davon aus, dass die Ausbilder und damit auch die Angeklagten über eine erst in der Zukunft erfolgende
  1548. Änderung der Ausbildungsregeln diskutiert haben. Dann drängt es sich aber gerade auf, dass die Beteiligten - insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass
  1549. die AnTrA1 nach den Urteilsfeststellungen im Intranet der Bundeswehr abrufbar
  1550. und damit für sie ohne weiteres zugänglich war und zudem bereits entsprechende Schulungen für die Ausbilder stattfanden, an denen die Mitangeklagten
  1551. D.
  1552. und H.
  1553. auch schon teilgenommen hatten - sehr wohl wussten,
  1554. dass zum jeweiligen Tatzeitpunkt eine Änderung eben gerade noch nicht erfolgt
  1555. und die praktische Geiselnahmeübung daher nach wie vor nicht zulässig war.
  1556. Denn wenn einerseits über eine erst zukünftige Änderung der Ausbildungsregeln diskutiert wurde, konnte schwerlich angenommen werden, die damals geltenden Regeln seien bereits außer Kraft gewesen. Wieso demnach eine vermutete - wie auch immer geartete - bevorstehende Veränderung der Rechtslage
  1557. einen Grund dafür bieten sollte, Nachfragen im Hinblick auf die Zulässigkeit der
  1558. Übung bereits im Vorfeld zu unterlassen, erschließt sich nicht.
  1559. 137
  1560. bb) Widersprüchlich sind zudem die Feststellungen der Kammer zu Fall
  1561. B.II.1 der Urteilsgründe, wonach einerseits die Angeklagten K.
  1562. und J.
  1563. an der der Geiselnahmeübung vorausgehenden Ausbilderbesprechung teilge-
  1564. - 62 -
  1565. nommen hatten, auf der unter anderem besprochen worden war, dass die Rekruten beim „Verhör“ wieder mit einer Kübelspritze nass gemacht und anschließend, damit sie aufgrund ihrer durchnässten Kleidung nicht frieren, zugedeckt
  1566. werden sollten. Andererseits „vermochte die Kammer hingegen nicht mit einer
  1567. für eine Verurteilung … ausreichenden Sicherheit festzustellen“, dass die Angeklagten K.
  1568. und J.
  1569. unter anderem damit rechneten, dass die Rekruten
  1570. jedenfalls wieder mit Wasser aus der Kübelspritze durchnässt werden würden
  1571. (UA S. 45 f.). Wie die Kammer aufgrund der insofern eindeutigen Feststellungen zum Inhalt der Besprechung zu dieser damit unvereinbaren Annahme
  1572. kommt, ist nicht nachvollziehbar.
  1573. 138
  1574. d) Unter diesen Umständen war das Tatgericht nicht gehalten, auch entlastende Einlassungen der Angeklagten, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit
  1575. es keine Beweise gibt, den Urteilsfeststellungen ohne weiteres als unwiderlegbar zugrunde zu legen. Der Tatrichter hat nach ständiger Rechtsprechung vielmehr auf der Grundlage des gesamten Beweisergebnisses zu entscheiden, ob
  1576. derartige Angaben geeignet sind, seine Überzeugungsbildung zu beeinflussen
  1577. (vgl. BGHSt 34, 29, 34; BGH NJW 2007, 2274; Senat, Urt. vom 1. Juli 2008
  1578. - 1 StR 654/07; Urt. vom 14. Januar 2009 - 1 StR 158/08 - Rdn. 59 [vorgesehen
  1579. zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]). Die vom Landgericht als unwiderlegbar
  1580. hingenommene Einlassung, die Angeklagten seien von keiner vorschrifts- oder
  1581. befehlswidrigen Ausbildung ausgegangen, stellt sich unter Berücksichtigung der
  1582. zuvor dargelegten Gesichtspunkte als eine eher denktheoretische Möglichkeit
  1583. dar, die beweiskräftiger Anknüpfungspunkte entbehrt. Es ist weder im Hinblick
  1584. auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten eines Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine zureichenden Anhaltspunkte
  1585. erbracht sind (vgl. nur BVerfG, Beschl. vom 8. November 2006 - 2 BvR
  1586. - 63 -
  1587. 1378/06; BGH NStZ-RR 2003, 371; NStZ 2004, 35, 36; NJW 2007, 2274; Senat, Urt. vom 1. Juli 2008 - 1 StR 654/07).
  1588. 139
  1589. 7. Schließlich hält die Auffassung des Landgerichts, der Überfall, das
  1590. Verbinden der Augen, die Fesselung und das Verladen der Rekruten auf einen
  1591. Transporter stellten keine entwürdigende Behandlung nach § 31 Abs. 1 WStG
  1592. dar, sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
  1593. 140
  1594. a) Entwürdigende Behandlung ist jedes Verhalten eines Vorgesetzten
  1595. gegenüber einem Untergebenen, das dessen Stellung als freie Persönlichkeit
  1596. nicht unerheblich in Frage stellt, das die Achtung nicht unerheblich beeinträchtigt, auf die der Untergebene allgemein als Mensch in der sozialen Gesellschaft
  1597. und im besonderen als Soldat innerhalb der soldatischen Gemeinschaft Anspruch hat. Der Untergebene darf keiner Behandlung ausgesetzt werden, die
  1598. ihn zum bloßen Objekt degradiert und seine Subjektqualität prinzipiell in Frage
  1599. stellt (Senat, Urt. vom 14. Januar 2009 - 1 StR 158/08 - Rdn. 61 [vorgesehen
  1600. zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]; BayObLG NJW 1970, 769, 770;
  1601. Schölz/Lingens, Wehrstrafgesetz 4. Aufl. § 31 Rdn. 3; Stauf in Nomos - Erläuterungen zum Deutschen Bundesrecht § 31 WStG jew. m.w.N.). Ob eine entwürdigende Behandlung vorliegt, beurteilt sich, wenn die Handlung nicht bereits
  1602. wegen ihres absolut entwürdigenden Charakters unter § 31 Abs. 1 WStG fällt,
  1603. aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Tatumstände (Senat, Urt. vom 14. Januar 2009 - 1 StR 158/08 - Rdn. 61 [vorgesehen zum Abdruck in BGHSt 53,
  1604. 145 ff.]; BayObLG NJW 1970, 769, 770; vgl. auch Dau in Erbs/Kohlhaas
  1605. 176. Lfg. § 31 WStG Rdn. 3; Schölz/Lingens, Wehrstrafgesetz 4. Aufl. § 31
  1606. Rdn. 4).
  1607. - 64 -
  1608. b) Daran gemessen unterfallen jedenfalls die einzelnen Geiselnahme-
  1609. 141
  1610. übungen jeweils in ihrer Gesamtheit dem Tatbestand des § 31 Abs. 1 WStG.
  1611. Insbesondere die Fesselung der Rekruten (vgl. dazu Schölz/Lingens, Wehrstrafgesetz 4. Aufl. § 31 Rdn. 5), das Verbinden ihrer Augen, das Verladen der
  1612. Rekruten „wie Ware“ auf die Ladefläche eines Pritschenwagens, die auf den
  1613. Helm verabreichten Schläge, um für Ruhe zu sorgen, das Hinknienlassen sowie
  1614. die schikanösen Zwangshaltungen und Ausdauerübungen, die den nach fast
  1615. 24-stündigem Dienst und einem anstrengenden Nachtmarsch ohnehin zumeist
  1616. erschöpften Rekruten befohlen wurden, schließlich die angedrohten (teils mit
  1617. angesetzter Waffe) und vorgetäuschten Erschießungen (vgl. dazu Dau in
  1618. Erbs/Kohlhaas 176. Lfg. § 31 WStG Rdn. 4 m.w.N.) stellen entwürdigende Behandlungen dar, welche zumindest bei einem Soldaten auch zu einer nahezu
  1619. panischen Angst führten. Dies alles erniedrigte die Rekruten zum bloßen Objekt.
  1620. IV.
  1621. 142
  1622. Die Sache bedarf daher die Angeklagten betreffend (in Bezug auf den
  1623. Angeklagten J.
  1624. aufgrund der teilweisen Verfahrenseinstellung nur mehr im
  1625. Fall B.II.1 der Urteilsgründe) der erneuten Verhandlung und Entscheidung. Die
  1626. rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen können
  1627. aufrechterhalten bleiben. Ergänzende, hierzu nicht in Widerspruch stehende
  1628. Feststellungen sind zulässig.
  1629. 143
  1630. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Kostenausspruch des angefochtenen Urteils, soweit es die Angeklagten betrifft, ist durch
  1631. die insoweit erfolgte teilweise Urteilsaufhebung gegenstandslos (BGH StV
  1632. 2006, 687, 688).
  1633. - 65 -
  1634. V.
  1635. 144
  1636. Soweit die Staatsanwaltschaft in Bezug auf den Angeklagten J.
  1637. zu-
  1638. dem rügt, die Kammer habe die ebenfalls angeklagte Tat im Fall B.II.2 der Urteilsgründe nicht abgeurteilt, bleibt der Revision der Erfolg versagt. Das Landgericht hat seiner umfassenden Kognitionspflicht genügt. Eine Beteiligung des
  1639. Angeklagten J.
  1640. im Fall B.II.2 der Urteilsgründe war nicht Gegenstand des
  1641. Verfahrens.
  1642. 1. Die zugelassene Anklage legt den (früheren) Mitangeklagten D.
  1643. 145
  1644. H.
  1645. , Sc.
  1646. , Bu. , K.
  1647. , Ja.
  1648. , Mö.
  1649. , S.
  1650. und Z.
  1651. ,
  1652. im
  1653. Fall B.II.2 der Urteilsgründe („dritter Vorfall“ der Anklage - vgl. EA Bd. IX
  1654. Bl. 1283) jeweils ein Vergehen der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit
  1655. mit Misshandlung und entwürdigender Behandlung zur Last. Eine Beteiligung
  1656. des Angeklagten J.
  1657. an dieser Tat ist im Anklagesatz nicht erwähnt. Ledig-
  1658. lich im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen wird eine Einlassung des Angeklagten J.
  1659. dazu dargestellt, in der er seine Beteiligung an dieser Übung
  1660. und an derjenigen im Fall B.II.1 der Urteilsgründe („zweiter Vorfall“ der Anklage)
  1661. einräumt (EA Bd. IX Bl. 1403 f.). Im Widerspruch dazu heißt es in der Anklage
  1662. insofern abschließend: „Der Angeklagte J.
  1663. war, wie sich aus seiner Ein-
  1664. lassung ergibt, im zweiten Fall als Mitglied des 'Überfallkommandos' und im
  1665. vierten Fall bei den 'Vernehmungen' im Keller beteiligt“. Eine die Tat im Fall
  1666. B.II.2 der Urteilsgründe wirksam einbeziehende Nachtragsanklage (§ 266
  1667. StPO) ist nicht erhoben worden.
  1668. Die Kammer hat diesbezüglich zwar festgestellt, dass der Angeklagte
  1669. 146
  1670. J.
  1671. auch an der Geiselnahmeübung im Fall B.II.2 der Urteilsgründe teilge-
  1672. - 66 -
  1673. nommen hatte, erachtete dies jedoch nicht als Gegenstand der gegen ihn erhobenen Anklage (UA S. 56, 151).
  1674. 147
  1675. 2. Soweit die Staatsanwaltschaft nunmehr - entgegen der Anklageschrift,
  1676. in der dem Angeklagten J.
  1677. ausdrücklich nur zwei Taten zur Last gelegt
  1678. werden - auch dessen Verurteilung wegen Beteiligung an der (dritten) Tat im
  1679. Fall B.II.2 der Urteilsgründe, erstrebt, handelt es sich um eine andere als die
  1680. wirksam angeklagte Tat.
  1681. 148
  1682. a) Gegenstand der Urteilsfindung ist nach § 264 Abs. 1 StPO „die in der
  1683. Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung
  1684. darstellt“. Dieser verfahrensrechtliche Tatbegriff umfasst den von der zugelassenen Anklage betroffenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (st. Rspr., vgl. nur BGHSt
  1685. 29, 341, 342; 34, 215, 216; BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 33 jew.
  1686. m.w.N.). Den Rahmen der Untersuchung bildet daher zunächst das tatsächliche
  1687. Geschehen, wie es die Anklage beschreibt (BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 33 m.w.N.). Vorliegend schildert der Anklagesatz keine Vorgänge, aus denen sich eine Strafbarkeit des Angeklagten J.
  1688. im Fall B.II.2 der Urteils-
  1689. gründe ergeben könnte. Vielmehr wird ausschließlich seine Beteiligung im Fall
  1690. B.II.1 wiedergegeben. Die uneinheitlichen und teils widersprüchlichen Schilderungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen vermögen eine wirksame
  1691. Anklageerhebung auch insofern nicht herbeizuführen (vgl. oben Ziffer II.2).
  1692. 149
  1693. b) Unerheblich ist insofern - entgegen der Auffassung der Revision -,
  1694. dass das Tatgeschehen dieses Vorfalls im Anklagesatz enthalten ist, soweit die
  1695. Anklage diesbezüglich andere Personen als Täter beschuldigt. Zur Tat im Sinne
  1696. des § 264 Abs. 1 StPO gehört zwar nicht nur der in der Anklage umschriebene
  1697. - 67 -
  1698. Geschehensablauf, sondern das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach
  1699. natürlicher Auffassung einen einheitlichen Lebensvorgang darstellt (st. Rspr.,
  1700. vgl. BGHSt 32, 215, 216; BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 33 jew.
  1701. m.w.N.). Die Einbeziehung weiterer, von der Anklage nicht beschriebener Vorgänge in den Tatbegriff kommt allerdings nur in Betracht, falls auch der in der
  1702. Anklage nicht erwähnte, mit dem geschilderten Geschehen eine Einheit ergebende Vorgang das Verhalten desselben Angeklagten betrifft. Denn Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO kann stets nur das dem einzelnen Angeklagten zur
  1703. Last gelegte Vorkommnis sein (BGHSt 32, 215, 216 f.). Demgemäß kann vorliegend das Geschehen im Fall B.II.2 der Urteilsgründe, das einen von der Tat
  1704. B.II.1 der Urteilsgründe trennbaren, sich damit nicht überschneidenden Vorgang
  1705. darstellt und das mit der Anklage den (früheren) Mitangeklagten des Angeklagten J.
  1706. zur Last gelegt wird, nicht als Teil der Tat gelten, die den Gegen-
  1707. stand des gegen den Angeklagten J.
  1708. erhobenen Tatvorwurfs bildet.
  1709. VI.
  1710. 150
  1711. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
  1712. 151
  1713. 1. Selbst wenn das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht zu
  1714. der Feststellung gelangen sollte, die betroffenen Rekruten hätten ausdrücklich
  1715. oder konkludent in die gegenständliche unzulässige Geiselnahmeübung eingewilligt, so hätte dies keine rechtfertigende Wirkung. §§ 30, 31 WStG schützen
  1716. nicht allein das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit beziehungsweise der
  1717. Würde des Untergebenen, sondern auch die Disziplin und Ordnung in der Bundeswehr. Die ehr- und körperverletzende Behandlung durch Vorgesetzte stellt
  1718. einen Verstoß gegen die in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG normierte Verpflichtung aller staatlichen Gewalt zum Schutze der Menschenwürde und der durch Art. 2
  1719. - 68 -
  1720. Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten körperlichen Unversehrtheit dar. Von dieser
  1721. Verpflichtung kann der für den Staat handelnde Amtsträger oder Bedienstete
  1722. durch das subjektive Einverständnis des Individualgrundrechtsträgers nicht freigestellt werden (Senat, Urt. vom 14. Januar 2009 - 1 StR 158/08 - Rdn. 66 [vorgesehen zum Abdruck in BGHSt 53, 145 ff.]; vgl. auch BVerwG NJW 2001,
  1723. 2343, 2344; Dau in Erbs/Kohlhaas 176. Lfg. § 30 WStG Rdn. 10 m.w.N.).
  1724. 152
  1725. 2. § 30 WStG kann mit § 224 StGB in Tateinheit (§ 52 StGB) stehen.
  1726. § 30 WStG geht nur § 223 StGB vor, enthält aber keine alle Körperverletzungsdelikte ausschließende Sonderregelung. Dies folgt schon daraus, dass das allgemeine Strafrecht gerade in den schwereren Fällen der Untergebenenmisshandlung nicht durch das WStG gemildert werden darf (Senat, Urt. vom 14. Januar 2009 - 1 StR 158/08 - Rdn. 67 [vorgesehen zum Abdruck in BGHSt 53,
  1727. 145 ff.]; vgl. auch BGH NJW 1970, 1332 zu § 226 StGB aF; Schölz/Lingens,
  1728. Wehrstrafgesetz 4. Aufl. § 30 Rdn. 28; Dau in Erbs/Kohlhaas 176. Lfg. § 30
  1729. WStG Rdn. 18; Arndt, Grundriß des Wehrstrafrechts 2. Aufl. S. 218).
  1730. 153
  1731. 3. Sollte das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht zu der Auffassung gelangen, eine Strafbarkeit gemäß § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB,
  1732. § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 1 WStG liege nicht vor, so wird es aufgrund der Fesselung der Rekruten für teilweise mehr als 30 Minuten - erst recht aufgrund der
  1733. Fesselung an Händen und Füßen -, deren Verbringens mit verbundenen Augen
  1734. auf die Ladefläche des Pritschenwagens und deren begleiteten Abtransports
  1735. - 69 -
  1736. den Straftatbestand der Freiheitsberaubung gemäß § 239 Abs. 1 StGB, zumindest aber den Tatbestand der Nötigung nach § 240 Abs. 1 StGB in den Blick zu
  1737. nehmen haben.
  1738. Nack
  1739. Wahl
  1740. Graf
  1741. Elf
  1742. Sander