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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. XII ZB 24/12
  4. vom
  5. 27. Juni 2012
  6. in der Betreuungssache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. BGB § 1906
  14. a) Das Anbringen von Bettgittern sowie die Fixierung im Stuhl mittels eines
  15. Beckengurts stellen freiheitsentziehende Maßnahmen im Sinne des § 1906
  16. Abs. 4 BGB dar, wenn der Betroffene durch sie in seiner körperlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Dieses ist dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffene zu einer willensgesteuerten Aufenthaltsveränderung in der Lage wäre, an der er durch die Maßnahmen gehindert wird.
  17. b) Das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen wird nicht dadurch verletzt, dass
  18. die Einwilligung eines von ihm Bevollmächtigten in eine freiheitsentziehende
  19. Maßnahme der gerichtlichen Genehmigung bedarf.
  20. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2012 - XII ZB 24/12 - LG Heilbronn
  21. AG Heilbronn
  22. -2-
  23. Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. Juni 2012 durch den
  24. Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Dr. Klinkhammer, Dr. Günter,
  25. Dr. Nedden-Boeger und Dr. Botur
  26. beschlossen:
  27. Die Rechtsbeschwerden gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer
  28. des Landgerichts Heilbronn vom 15. Dezember 2011 werden zurückgewiesen.
  29. Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei.
  30. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
  31. Beschwerdewert: 3.000 €
  32. Gründe:
  33. I.
  34. 1
  35. Die 1922 geborene Betroffene erteilte ihrem Sohn und ihrer Tochter, den
  36. Beteiligten zu 1 und 2, am 11. September 2000 notarielle Vollmacht,
  37. "mich soweit gesetzlich zulässig, in allen persönlichen Angelegenheiten, auch soweit sie meine Gesundheit betreffen, sowie in allen
  38. Vermögens-, Steuer- und sonstigen Rechtsangelegenheiten in jeder denkbaren Hinsicht zu vertreten und Entscheidungen für mich
  39. und an meiner Stelle ohne Einschaltung des Vormundschaftsgerichts zu treffen und diese auszuführen bzw. zu vollziehen (General- und Vorsorgevollmacht)."
  40. -3-
  41. 2
  42. Weiter ist in § 3 der Vollmacht unter der Überschrift "Unterbringung" geregelt:
  43. "Die Vollmacht berechtigt dazu, meinen Aufenthalt zu bestimmen.
  44. Die Generalvollmacht umfasst auch die Befugnis zu Unterbringungsmaßnahmen im Sinne von § 1906 BGB, insbesondere zu
  45. einer Unterbringung, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist,
  46. zur sonstigen Unterbringung in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung sowie zur Vornahme von sonstigen
  47. Freiheitsentziehungsmaßnahmen durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente o.a. auch über einen längeren Zeitraum."
  48. 3
  49. In Ausübung der Vollmacht hat der Sohn eingewilligt, Bettgitter am Bett
  50. der Betroffenen anzubringen und sie tagsüber im Stuhl mittels eines Beckengurts zu fixieren, nachdem die Betroffene mehrfach gestürzt war und sich dabei
  51. auch einen Kieferbruch zugezogen hatte.
  52. 4
  53. Auf Anregung des Sohns hat das Betreuungsgericht die Einwilligung befristet genehmigt. Hiergegen hat der Sohn im eigenen Namen und im Namen
  54. der Betroffenen Beschwerde eingelegt, mit der er rügt, dass eine betreuungsgerichtliche Genehmigung der Einwilligung aufgrund der ihm umfassend erteilten
  55. Vollmacht entbehrlich sei und die Betroffene durch die Durchführung des - auch
  56. mit Kosten verbundenen - Genehmigungsverfahrens in ihrem grundrechtlich
  57. gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht verletzt werde. Das Landgericht hat
  58. die Beschwerden zurückgewiesen. Hiergegen wenden sich die Betroffene und
  59. der Sohn mit ihren Rechtsbeschwerden.
  60. -4-
  61. II.
  62. 5
  63. Die zulässigen Rechtsbeschwerden sind in der Sache nicht begründet.
  64. 6
  65. 1. Die Rechtsbeschwerden sind zulässig erhoben. Gemäß § 70 Abs. 3
  66. Satz 1 Nr. 2 FamFG ist die Rechtsbeschwerde in Unterbringungssachen ohne
  67. Zulassung statthaft. Zu den Unterbringungssachen gehört gemäß § 312 Nr. 2
  68. FamFG auch die Genehmigung einer unterbringungsähnlichen Maßnahme
  69. nach § 1906 Abs. 4 BGB. Dies umfasst auch die nach § 1906 Abs. 5 BGB in
  70. Verbindung mit Absatz 4 der Vorschrift zu erteilende Genehmigung der durch
  71. einen Bevollmächtigten zu ergreifenden unterbringungsähnlichen Maßnahme.
  72. 7
  73. 2. Das Landgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt
  74. begründet: Durch die General- und Vorsorgevollmacht vom 11. September
  75. 2000 habe die Betroffene nicht auf das betreuungsgerichtliche Verfahren zur
  76. Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen verzichtet. Die Regelung des
  77. § 1906 Abs. 2 BGB, auf die § 1906 Abs. 4 BGB Bezug nehme, konkretisiere die
  78. Verfahrensgarantie des Art. 104 Abs. 2 GG. Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung habe danach ein Richter zu entscheiden. Dieser
  79. formale Schutz der Freiheit könne nicht durch rechtsgeschäftliche Erklärung
  80. eines Betroffenen aufgegeben werden. Es könne auch nicht angenommen werden, dass mit der notariellen General- und Vorsorgevollmacht auf diesen
  81. Schutz verzichtet werden sollte. Vermieden werden sollte durch die Vollmacht
  82. nur die Einrichtung einer Betreuung.
  83. 8
  84. Die materiellen Voraussetzungen für die Genehmigung der freiheitsentziehenden Maßnahmen seien gegeben.
  85. 9
  86. 3. Die angegriffene Entscheidung des Beschwerdegerichts hält einer
  87. rechtlichen Überprüfung und den Angriffen der Rechtsbeschwerden stand.
  88. -5-
  89. 10
  90. a) Gemäß § 1906 Abs. 4 BGB gelten die Vorschriften über die Unterbringung eines Betreuten (Absätze 1 bis 3 der Vorschrift) entsprechend, wenn dem
  91. Betreuten, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen,
  92. Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll. Diese Regelung schützt - ebenso wie
  93. Absatz 1 bis 3 der Vorschrift - die körperliche Bewegungsfreiheit und die Entschließungsfreiheit zur Fortbewegung im Sinne der Aufenthaltsfreiheit (BGHZ
  94. 145, 297, 301 f. = FamRZ 2001, 149, 150). Das Anbringen von Bettgittern sowie die Fixierung im Stuhl mittels eines Beckengurts stellen freiheitsentziehende Maßnahmen in diesem Sinne dar, wenn der Betroffene durch sie in seiner
  95. körperlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Dieses ist jedenfalls dann
  96. der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffene zu willensgesteuerten Aufenthaltsveränderungen in der Lage wäre, an denen er
  97. durch die Maßnahme über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig gehindert
  98. wird (vgl. OLG Hamm FamRZ 1993, 1490; MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl.
  99. § 1906 Rn. 39). Hiervon ist bei einem Beckengurt regelmäßig und bei einem
  100. Bettgitter zumindest dann auszugehen, wenn nicht ausgeschlossen werden
  101. kann, dass der Betroffene in der Lage wäre, das Bett durch seinen natürlichen
  102. Willen gesteuert zu verlassen.
  103. 11
  104. Im vorliegenden Fall sind die Merkmale freiheitsentziehender Maßnahmen erfüllt, da die Betroffene nach Angaben des Pflegepersonals noch in der
  105. Lage ist, selbständig sowohl aus dem Bett als auch aus dem Stuhl aufzustehen.
  106. 12
  107. b) Gemäß § 1906 Abs. 5 Satz 1 BGB sind die Unterbringung und die
  108. Einwilligung in freiheitsentziehende Maßnahmen durch einen Bevollmächtigten
  109. zulässig, wenn die Vollmacht schriftlich erteilt ist und die genannten Maßnahmen ausdrücklich umfasst. Für den Fall ordnet § 1906 Abs. 5 Satz 2 i.V.m.
  110. -6-
  111. Abs. 4 BGB an, dass Absatz 2 der Vorschrift entsprechend gilt. Darin ist bestimmt, dass die Maßnahme nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig ist.
  112. 13
  113. c) Auf die durch diese Vorschrift angeordnete gerichtliche Überprüfung
  114. der durch den Bevollmächtigten erteilten Einwilligung kann der Betroffene nicht
  115. vorgreifend verzichten (Walter FamRZ 1999, 685, 691; MünchKommBGB/
  116. Schwab 6. Aufl. § 1906 Rn. 119; Erman/Roth BGB 13. Aufl. § 1906 Rn. 63).
  117. Das folgt aus der Natur des Überprüfungsgegenstands.
  118. 14
  119. Der Genehmigungsvorbehalt des § 1906 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 BGB dient
  120. dem Schutz des Betroffenen. Einerseits sah der Gesetzgeber in der Regelung
  121. eine Stärkung der Fähigkeit des Betroffenen, in voller geistiger Klarheit durch
  122. die Vorsorgevollmacht über sein künftiges Wohl und Wehe entscheiden zu können. Andererseits wollte der Gesetzgeber sichergestellt wissen, dass einschneidende Maßnahmen, in die der Bevollmächtigte einwilligt, vom Vormundschaftsgericht kontrolliert werden (vgl. BT-Drucks. 13/7158 S. 34).
  123. 15
  124. Das Betreuungsgericht hat daher - zum Schutz des Betroffenen - nicht
  125. nur zu überprüfen, ob die Vorsorgevollmacht rechtswirksam erteilt ist, ob sie die
  126. Einwilligung in freiheitsentziehende Maßnahmen umfasst und auch nicht zwischenzeitlich widerrufen ist, sondern insbesondere, ob die Vollmacht dadurch in
  127. Kraft gesetzt ist, dass eine Gefährdungslage nach § 1906 Abs. 1 BGB vorliegt.
  128. Unter die Kontrolle des Betreuungsgerichts ist damit nicht die in Ausübung des
  129. Selbstbestimmungsrechts erfolgte Entscheidung des Betroffenen gestellt, sondern die gesetzesgemäße Handhabung der Vorsorgevollmacht durch den Bevollmächtigten. Damit soll sichergestellt werden, dass die Vorsorgevollmacht im
  130. Sinne des Betroffenen ausgeübt wird. Diese Kontrolle dient der Sicherung des
  131. -7-
  132. - in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts - artikulierten Willens des Betroffenen (BVerfG FamRZ 2009, 945, 947).
  133. 16
  134. d) Zwar stellt die unverzichtbare gerichtliche Kontrolle zugleich eine Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen dar, indem ihm die
  135. Möglichkeit genommen wird, eine Vorsorgevollmacht über freiheitsentziehende
  136. Maßnahmen frei von gerichtlicher Kontrolle zu erteilen. Diese Beschränkung ist
  137. jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet das
  138. Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht schrankenlos, sondern
  139. nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung. Diese sieht ein Genehmigungsverfahren nach § 1906 Abs. 2 BGB zwingend vor, dessen Verhältnismäßigkeit angesichts der möglichen Tragweite freiheitsentziehender Maßnahmen
  140. außer Zweifel steht.
  141. -8-
  142. 17
  143. e) Gegen das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen für die Genehmigung der freiheitsentziehenden Maßnahme haben die Rechtsbeschwerden nichts erinnert. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist die angegriffene Entscheidung auch insoweit aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
  144. Dose
  145. Klinkhammer
  146. Nedden-Boeger
  147. Günter
  148. Botur
  149. Vorinstanzen:
  150. AG Heilbronn, Entscheidung vom 23.09.2011 - 5 XVII 362/11 LG Heilbronn, Entscheidung vom 15.12.2011 - 1 T 437/11 Ri -