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1 year ago
  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 264/10
  4. vom
  5. 26. Mai 2011
  6. in der Zurückschiebungshaftsache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. AufenthG § 62 Abs. 2 Satz 4
  14. a) Die Anordnung von Freiheitsentziehung innerhalb der Frist des § 3 Abs. 2
  15. MuSchG ist in der Regel unverhältnismäßig.
  16. b) Hat die beteiligte Behörde eine schwangere Betroffene ärztlich untersuchen lassen, muss sie den Haftrichter über das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung in
  17. dem Haftantrag oder durch Vorlage ihrer Akten unterrichten.
  18. BGH, Beschluss vom 26. Mai 2011 - V ZB 264/10 - LG Dresden
  19. AG Dresden
  20. -2 -
  21. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. Mai 2011 durch den Vorsitzenden
  22. Richter
  23. Prof.
  24. Dr.
  25. Krüger,
  26. die
  27. Richter
  28. Dr.
  29. Lemke
  30. und
  31. Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, die Richterin Dr. Stresemann und den Richter
  32. Dr. Czub
  33. beschlossen:
  34. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass
  35. der Beschluss des Amtsgerichts Dresden vom 5. September 2010
  36. (271 XIV 116/10) und der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 16. September 2010 (2 T 737/10) die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
  37. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen in
  38. sämtlichen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland
  39. auferlegt.
  40. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  41. 3.000 €.
  42. Gründe:
  43. I.
  44. 1
  45. Die seinerzeit im siebenten Monat schwangere Betroffene, die russische
  46. Staatsangehörige ist und aus Tschetschenien stammt, reiste am 5. September
  47. -3 -
  48. 2010 über Tschechien gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Deutschland ein.
  49. Die Eheleute verfügten nicht über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet.
  50. -4 -
  51. 2
  52. Auf Antrag der Beteiligten zu 2 vom 5. September 2010 hat das Amtsgericht nach persönlicher Anhörung der Betroffenen Sicherungshaft bis längstens
  53. 5. Dezember 2010 verhängt und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung
  54. angeordnet. Im Rahmen der Anhörung stellte die Betroffene einen Asylantrag,
  55. nach dessen Eingang beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am
  56. 9. September 2010 ein Asylverfahren eröffnet worden ist.
  57. 3
  58. Auf die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde der Betroffenen
  59. hat das Landgericht die Haftdauer nach persönlicher Anhörung der Betroffenen
  60. bis längstens 4. November 2010 verkürzt und das Rechtsmittel im Übrigen zurückgewiesen. Am 5. Oktober 2010 ist die Betroffene aus der Sicherungshaft
  61. entlassen worden.
  62. 4
  63. Mit der Rechtsbeschwerde möchte sie die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen sowie die Feststellung der Rechtsverletzung erreichen.
  64. II.
  65. 5
  66. Das Beschwerdegericht stützt die Sicherungshaft auf § 62 Abs. 2 Satz 1
  67. Nr. 5 AufenthG. Die Betroffene werde sicher nicht untertauchen, solange über
  68. ihren Asylantrag noch nicht entschieden sei. Das ändere sich aber, wenn der
  69. Asylantrag zurückgewiesen werde. Dann sei die Versuchung groß unterzutauchen, um Zeit zu gewinnen. Denn die Zurückschiebung werde immer unwahrscheinlicher, je näher der Entbindungstermin der Betroffenen rücke. Die Behörde müsse die Abläufe auf das Äußerste beschleunigen, zumal eine Flugreise
  70. mit voranschreitender Schwangerschaft kritisch zu sehen sei.
  71. III.
  72. 6
  73. 1. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen ist trotz Erledigung ohne Zulassung statthaft (vgl. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09,
  74. FGPrax 2010, 150, 151 Rn. 10) und auch im Übrigen zulässig, § 71 FamFG.
  75. -5 -
  76. Allerdings ist die neben der Feststellung begehrte Aufhebung der Haftanordnung und der Beschwerdeentscheidung infolge der Erledigung nicht mehr möglich. Der Antrag ist dem Rechtsschutzziel entsprechend dahin auszulegen, dass
  77. die Feststellung der Rechtswidrigkeit sowohl der Entscheidung des Amtsgerichts als auch des Beschwerdegerichts begehrt wird.
  78. 7
  79. 2. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg, weil sowohl die Beschwerdeentscheidung als auch die Haftanordnung, die im Fall der Erledigung ebenfalls Gegenstand
  80. der
  81. Überprüfung
  82. ist
  83. (Senat,
  84. Beschluss
  85. vom
  86. 4. März 2010
  87. - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 154 Rn. 14; Beschluss vom 18. August 2010
  88. - V ZB 119/10, juris Rn. 6), einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten.
  89. 8
  90. a) Die Haftanordnung ist schon deshalb zu beanstanden, weil sie, wie die
  91. Betroffene im Ergebnis zu Recht rügt, auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage erfolgte.
  92. 9
  93. aa) Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verlangt als
  94. eine unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie
  95. entspricht (BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660). Hierfür sind regelmäßig die Akten
  96. der Ausländerbehörde beizuziehen (BVerfG, NVwZ 2008, 304, 305). Etwas anderes gilt nur, wenn sich die entscheidungserheblichen Umstände aus dem Antrag der beteiligten Behörde und den ihm beigefügten Unterlagen ergeben (Senat, Beschlüsse vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, InfAuslR 2010, 246, 248 f.).
  97. Anders kann der Haftrichter den Sachverhalt nicht, wie nach § 26 FamFG
  98. schon einfachrechtlich geboten, von Amts wegen sachgerecht aufklären. Deshalb ist eine Haftanordnung rechtswidrig, wenn ihr die gebotene Tatsachengrundlage fehlt. Ob das dem Haftantrag anzusehen ist, ist unerheblich (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Mai 2011 - V ZB 189/10, juris Rn. 5).
  99. -6 -
  100. 10
  101. bb) An der erforderlichen Tatsachengrundlage fehlte es hier. Die beteiligte Behörde hat ihre Akten dem Haftrichter nicht, jedenfalls nicht vollständig vorgelegt. Dies war auch nicht deshalb entbehrlich, weil ihr Haftantrag ausreichend
  102. gewesen wäre. Dieser enthielt keine Angaben zu der Schwangerschaft der Betroffenen, auf die es für die Entscheidung offensichtlich ankam. Erkenntnisse
  103. hierüber lagen der beteiligten Behörde aber vor. Nach ihrer Stellungnahme in
  104. dem Verfahren vor dem Senat hatte sie vor Stellung des Haftantrags die fortgeschrittene Schwangerschaft der Betroffenen erkannt und diese deshalb zunächst im Krankenhaus F.
  105. auf ihre Gewahrsamsfähigkeit hin ärztlich unter-
  106. suchen lassen. Hierbei hatte sich ergeben, dass die Betroffene voraussichtlich
  107. am 14. Dezember 2010 entbinden würde. Das war schon für die Antragstellung
  108. der beteiligten Behörde und erst recht für die Entscheidung über diesen Antrag
  109. von entscheidender Bedeutung. Nach Nr. 62.0.5 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung zum Aufenthaltsgesetz (vom 26. Oktober 2009,
  110. GMBl. S. 878 - AVV-AufenthG) sollen Schwangere innerhalb der gesetzlichen
  111. Mutterschutzfrist, die sich hier aus § 3 Abs. 2 MuSchG ergibt und mit dem
  112. 1. November 2010 begann, grundsätzlich nicht in Haft genommen werden. Die
  113. von der beteiligten Behörde dessen ungeachtet beantragte Anordnung von Zurückschiebungshaft bis zum 5. Dezember 2010 kam deshalb von vornherein
  114. nicht Betracht und leitete ohne nähere Angaben zur Schwangerschaft in die
  115. Irre.
  116. 11
  117. b) Auch die Beschwerdeentscheidung hält einer rechtlichen Prüfung nicht
  118. stand.
  119. 12
  120. aa) Das ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass der Antrag der
  121. Beteiligten zu 2 mangels einer ausreichenden Begründung unzulässig war. Die
  122. Betroffene hat die erforderlichen Angaben zu ihrer Schwangerschaft in der Anhörung vor dem Beschwerdegericht selbst vorgetragen. Die Beteiligte zu 2 hat
  123. die dazugehörigen ärztlichen Unterlagen auf Anforderung des Beschwerdege-
  124. -7 -
  125. richts im Anschluss an die Anhörung nachgereicht. Damit lag im Zeitpunkt der
  126. Beschwerdeentscheidung ein zulässiger Haftantrag vor (vgl. Senat, Beschluss
  127. vom 3. Mai 2011 - V ZA 10/11, juris Rn. 11).
  128. 13
  129. bb) Die Beschwerdeentscheidung hält einer rechtlichen Prüfung aber
  130. deswegen nicht stand, weil das Beschwerdegericht die erforderliche Prognose
  131. gemäß § 57 Abs. 3 i.V.m. § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG nicht vorgenommen hat.
  132. 14
  133. (1) Die Haftgerichte sind auf Grund von Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich und auf Grund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungshaft
  134. in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Insbesondere die
  135. für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG notwendige Prognose hat
  136. der Haftrichter auf der Grundlage einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage zu treffen. Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG
  137. setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für
  138. die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen
  139. Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen,
  140. auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher
  141. Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie
  142. entspricht (BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660; Senat, Beschluss vom 4. März
  143. 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329 f. Rn. 14; Beschluss vom 20. Januar
  144. 2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144, 145 Rn. 15).
  145. 15
  146. (2) Auch wenn der Haftrichter eine Haftdauer von weniger als drei Monaten anordnet, muss er eine Prognose darüber treffen, ob die Abschiebung bei
  147. realistischer Betrachtung innerhalb dieser Zeit erfolgen kann. Das ergibt sich
  148. schon daraus, dass § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2659). Die Prognose muss sich grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht
  149. -8 -
  150. kommenden Gründe erstrecken, die der Zurückschiebung entgegenstehen oder
  151. sie verzögern können (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, juris
  152. Rn. 22; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, juris Rn. 22). Zu der
  153. Feststellung, ob die Zurückschiebung innerhalb der angeordneten Haftdauer
  154. möglich ist, sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und eine Darstellung erforderlich, in welchem Zeitraum die einzelnen Schritte unter normalen
  155. Bedingungen durchlaufen werden können. Soweit die Ausländerbehörde keine
  156. konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht
  157. nachzufragen (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 193/09, InfAuslR
  158. 2010, 361, 363; Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 89/10, juris Rn. 8; Beschluss
  159. vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, aaO).
  160. 16
  161. (3) Diesen Anforderungen genügt die Entscheidung des Beschwerdegerichts nicht. Das Beschwerdegericht hat allerdings, anders als das Amtsgericht,
  162. den Sachverhalt weiter aufgeklärt und wegen des laufenden Asylverfahrens und
  163. der bevorstehenden Entbindung allenfalls ein kurzes Zeitfenster für die Durchführung der Zurückschiebung gesehen. Diesen Umstand hat das Beschwerdegericht zwar zum Anlass genommen, die Behörde auf das Erfordernis einer
  164. größtmöglichen Beschleunigung hinzuweisen und die Haft zu verkürzen. Die
  165. Durchführbarkeit der Zurückschiebung als solcher hat es aber nicht geprüft.
  166. Dazu bestand schon deshalb Anlass, weil sich die Betroffene den Feststellungen zufolge im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung bereits in der 28./29.
  167. Schwangerschaftswoche und damit am Beginn des achten Schwangerschaftsmonats befand. Dass eine Flugreise deshalb problematisch war, hat das Beschwerdegericht erörtert, ohne jedoch auf die nahe liegende Frage einzugehen,
  168. ob eine Zurückschiebung bei realistischer Betrachtung nicht schon aus diesem
  169. Grund scheitern musste. Im Hinblick darauf hätte es gemäß § 26 FamFG Ermittlungen dazu durchführen müssen, ob der Gesundheitszustand der Betroffenen eine Flugreise noch erlaubte und ob sie von Seiten der Fluggesellschaften
  170. noch durchgeführt werden würde. Schließlich hat das Beschwerdegericht nicht
  171. -9 -
  172. festgestellt, dass mit einer Entscheidung über die Asylanträge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu einem Zeitpunkt gerechnet werden
  173. konnte, in dem die Zurückschiebung noch erfolgen konnte.
  174. 17
  175. (4) Dass die gebotene, aber unterlassene Prognose die Haft gerechtfertigt hätte, kommt hier nicht ernsthaft in Betracht. Die Betroffene ist bereits am
  176. 5. Oktober 2010 und damit knapp drei Wochen nach der Beschwerdeentscheidung entlassen worden.
  177. IV.
  178. 18
  179. Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1, § 430
  180. FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht
  181. es billigem Ermessen, die Bundesrepublik Deutschland als derjenigen Körperschaft, der die Beteiligte zu 2 angehört, zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen zu verpflichten (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, juris Rn. 18).
  182. - 10 -
  183. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128 c Abs. 2 KostO i.V.m.
  184. § 30 Abs. 2 KostO.
  185. Krüger
  186. Lemke
  187. Stresemann
  188. Schmidt-Räntsch
  189. Czub
  190. Vorinstanzen:
  191. AG Dresden, Entscheidung vom 05.09.2010 - 271 XIV 116/10 LG Dresden, Entscheidung vom 16.09.2010 - 2 T 737/10 -