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21 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. VII ZR 36/14
  4. Verkündet am:
  5. 9. April 2015
  6. Seelinger-Schardt,
  7. Justizangestellte
  8. als Urkundsbeamtin
  9. der Geschäftsstelle
  10. in dem Rechtsstreit
  11. Nachschlagewerk:
  12. ja
  13. BGHZ:
  14. nein
  15. BGHR:
  16. ja
  17. Richtlinie 93/42/EWG Art. 11 Abs. 1 Buchstabe a) in Verbindung mit Anhang II Nr.
  18. 3.3., 4.3., 5.3., 5.4.; MPG § 6 Abs. 2 Satz 1
  19. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchstabe a) in Verbindung mit Anhang II Nr.
  20. 3.3., 4.3., 5.3., 5.4. der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (ABl. 1993, L 169, S. 1 ff., zuletzt geändert durch die Richtlinie
  21. 2007/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007,
  22. ABl. 2007, L 247, S. 21) vorgelegt:
  23. Ist es Zweck und Intention der Richtlinie, dass die mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragte
  24. benannte Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III zum Schutz aller potentiellen
  25. Patienten tätig wird und deshalb bei schuldhafter Pflichtverletzung den betroffenen
  26. Patienten unmittelbar und uneingeschränkt haften kann?
  27. Ergibt sich aus den genannten Nummern des Anhangs II der Richtlinie 93/42/EWG,
  28. dass der mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragten benannten Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III eine generelle oder zumindest anlassbezogene Produktprüfungspflicht obliegt?
  29. -2-
  30. Ergibt sich aus den genannten Nummern des Anhangs II der Richtlinie 93/42/EWG,
  31. dass der mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragten benannten Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III eine generelle oder zumindest anlassbezogene Pflicht obliegt,
  32. Geschäftsunterlagen des Herstellers zu sichten und/oder unangemeldete Inspektionen durchzuführen?
  33. BGH, Beschluss vom 9. April 2015 - VII ZR 36/14 - OLG Zweibrücken
  34. LG Frankenthal (Pfalz)
  35. -3-
  36. Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  37. vom 9. April 2015 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Eick, die Richter
  38. Dr. Kartzke und Prof. Dr. Jurgeleit und die Richterinnen Graßnack und Sacher
  39. beschlossen:
  40. Die Entscheidung über die Revision der Klägerin gegen das Urteil
  41. des
  42. 4. Zivilsenats
  43. des
  44. Pfälzischen
  45. Oberlandesgerichts
  46. Zweibrücken vom 30. Januar 2014 wird ausgesetzt.
  47. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267
  48. AEUV folgende Fragen zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchstabe a) in Verbindung mit Anhang II Nr. 3.3., 4.3., 5.3., 5.4. der
  49. Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (ABl. 1993, L 169, S. 1 ff., zuletzt geändert durch die
  50. Richtlinie 2007/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007, ABl. 2007, L 247, S. 21) vorgelegt:
  51. Ist es Zweck und Intention der Richtlinie, dass die mit dem Audit
  52. des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragte benannte Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III zum Schutz aller potentiellen Patienten
  53. tätig wird und deshalb bei schuldhafter Pflichtverletzung den betroffenen Patienten unmittelbar und uneingeschränkt haften kann?
  54. Ergibt sich aus den genannten Nummern des Anhangs II der
  55. Richtlinie 93/42/EWG, dass der mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragten benannten Stelle bei Medizinprodukten der
  56. -4-
  57. Klasse III eine generelle oder zumindest anlassbezogene Produktprüfungspflicht obliegt?
  58. Ergibt sich aus den genannten Nummern des Anhangs II der
  59. Richtlinie 93/42/EWG, dass der mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragten benannten Stelle bei Medizinprodukten der
  60. Klasse III eine generelle oder zumindest anlassbezogene Pflicht
  61. obliegt, Geschäftsunterlagen des Herstellers zu sichten und/oder
  62. unangemeldete Inspektionen durchzuführen?
  63. Gründe:
  64. I.
  65. 1
  66. Die Klägerin ließ sich am 1. Dezember 2008 in Deutschland Silikonbrustimplantate einsetzen, die von einem in Frankreich ansässigen Unternehmen, das zwischenzeitlich in Insolvenz gefallen ist, hergestellt worden waren.
  67. 2010 stellte die zuständige französische Behörde fest, dass bei der Herstellung
  68. der Brustimplantate entgegen dem Qualitätsstandard minderwertiges Industriesilikon verwendet wurde. Auf ärztlichen Ratschlag ließ sich die Klägerin daraufhin 2012 ihre Implantate entfernen. Sie begehrt deshalb von der Beklagten ein
  69. Schmerzensgeld von 40.000 € und die Feststellung der Ersatzpflicht für künftig
  70. entstehende materielle Schäden.
  71. 2
  72. Die Silikonbrustimplantate sind Medizinprodukte, die nach Art. 1 der
  73. Richtlinie 2003/12/EG der Kommission vom 3. Februar 2003 zur Neuklassifizie-
  74. -5-
  75. rung von Brustimplantaten im Rahmen der Richtlinie 93/42/EWG (ABl. 2003
  76. L 28 S. 43 f.) als Medizinprodukte der Klasse III eingestuft werden. Medizinprodukte der Klasse III dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 1 Medizinproduktegesetz nur in
  77. den Verkehr gebracht werden, wenn unter anderem ein Konformitätsbewertungsverfahren nach § 37 Abs. 1 MPG, § 7 Abs. 1 Nr. 1 (vormals § 6 Abs. 1
  78. Nr. 1) Medizinprodukte-Verordnung (MPV) in Verbindung mit Anhang II der
  79. Richtlinie 93/42/EWG durchgeführt worden ist. Bestandteil dieses Konformitätsbewertungsverfahrens ist das Qualitätssicherungssystem, die Prüfung der Produktauslegung und die Überwachung (Nr. 3 bis 5 Anhang II der Richtlinie
  80. 93/42/EWG). Die förmliche Überprüfung (Audit) des Qualitätssicherungssystems, die Prüfung der Produktauslegung und die Überwachung werden von
  81. einer benannten Stelle durchgeführt, die der Hersteller zu beauftragen hat.
  82. 3
  83. Das in Frankreich ansässige Herstellerunternehmen beauftragte die Beklagte als benannte Stelle mit den genannten Aufgaben. Die Vertragsparteien
  84. vereinbarten die Geltung deutschen Rechts.
  85. 4
  86. Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Beklagte ihren Pflichten als benannter Stelle nicht hinreichend nachgekommen sei. Insoweit ist zwischen den
  87. Parteien unstreitig, dass die Beklagte bei dem Herstellerunternehmen vor dem
  88. 1. Dezember 2008 jeweils angekündigte Besichtigungen im November 1998,
  89. Januar 2000, November 2000, Februar 2001, Dezember 2001, November 2003,
  90. November 2004 und März 2006 durchführte. Die Beklagte nahm keine Einsicht
  91. in die Geschäftsunterlagen und ordnete keine Produktprüfung an. Die Klägerin
  92. trägt vor, durch eine Einsicht in Lieferscheine und Rechnungen hätte die Beklagte erkennen können, dass nicht das genehmigte Silikon verarbeitet worden
  93. sei.
  94. -6-
  95. 5
  96. Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren
  97. weiter.
  98. II.
  99. 6
  100. Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung von Art. 11 Abs. 1
  101. Buchstabe a) in Verbindung mit Anhang II Nr. 3.3., 4.3., 5.3., 5.4. der Richtlinie
  102. 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte ab. Vor der
  103. Entscheidung über die Revision ist deshalb das Verfahren auszusetzen und
  104. gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchstabe b), Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung
  105. des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
  106. 7
  107. 1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im
  108. Wesentlichen ausgeführt:
  109. 8
  110. Die Beklagte und das Herstellerunternehmen hätten einen rein privatrechtlich zu beurteilenden Vertrag geschlossen. In diesen sei die Klägerin nicht
  111. eingebunden gewesen. Die Beklagte hafte nicht unter dem Gesichtspunkt der
  112. Pflichtverletzung eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Sinn und
  113. Zweck der Tätigkeit als benannter Stelle im Auftrag des Herstellers sei nicht der
  114. Schutz Dritter. Die Zertifizierungstätigkeit diene nur dazu, die Voraussetzungen
  115. für das Inverkehrbringen von Medizinprodukten zu schaffen. Ein rechtsgeschäftlicher Wille des Herstellers und der benannten Stelle, Dritte in den Schutzbereich ihres Vertrages einzubeziehen, bestehe deshalb nicht. Eine solche Einbeziehung würde zudem zu einer uferlosen Ausweitung der Haftung der benannten Stelle führen. Schließlich sei nicht erkennbar, woraus sich ein berechtigtes
  116. -7-
  117. Interesse des Herstellerunternehmens an der Einbeziehung der Klägerin in den
  118. Schutzbereich des Vertrages ergebe.
  119. 9
  120. Die Beklagte hafte zudem nicht nach deutschem Deliktsrecht. Der Beklagten könne nach Sachlage allenfalls der Vorwurf gemacht werden, das Herstellerunternehmen nicht ausreichend überwacht zu haben. Für die Beklagte
  121. habe sich aber keine Pflicht zum Handeln im Interesse der Patientinnen ergeben, da die benannte Stelle nicht zum Schutz der Patienten tätig werde. Zudem
  122. sei kein Verschulden feststellbar. Der Vorwurf, die Beklagte habe Überwachungspflichten verletzt, sei unberechtigt. Die Beklagte habe regelmäßig angekündigte Besichtigungen durchgeführt. Das reiche aus, soweit kein Verdacht für
  123. eine nicht ordnungsgemäße Produktion gegeben sei.
  124. 10
  125. 2. Auf das Rechtsverhältnis der Parteien findet deutsches Recht Anwendung.
  126. 11
  127. Das Schuldverhältnis der Parteien beurteilt sich, wie das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat, insgesamt nach deutschem materiellen Recht.
  128. 12
  129. a) Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass sich
  130. die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche aus unerlaubter Handlung
  131. nach deutschem Recht beurteilen. Dies folgt aus Art. 40 EGBGB.
  132. 13
  133. Die Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und
  134. des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende
  135. Recht (Rom II-VO; ABl. 2007 L 199 S. 40) ist im Streitfall intertemporal noch
  136. nicht anwendbar, da das schadensbegründende Ereignis vor dem 11. Januar
  137. 2009 eingetreten ist (vgl. Art. 31, 32 Rom II-VO).
  138. -8-
  139. 14
  140. Nach der Art. 40 Abs. 1 EGBGB vorgehenden Sonderanknüpfung des
  141. Art. 40 Abs. 2 EGBGB ist deutsches Recht als Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts von Klägerin und Beklagter zur Zeit des Haftungsereignisses anwendbar. Die Anwendbarkeit deutschen Rechts ergäbe sich im Übrigen auch aus Art. 40 Abs. 1 Satz 2 EGBGB. Eine wesentlich engere Verbindung zu einem ausländischen Recht im Sinne des Art. 41 EGBGB, die dessen
  142. Anwendbarkeit zur Folge hätte, besteht im Streitfall nicht.
  143. 15
  144. b) Ebenfalls zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen,
  145. dass sich vertragliche Ansprüche, die aus dem zwischen der Beklagten und
  146. dem Hersteller geschlossenen Vertrag über das Konformitätsbewertungsverfahren resultieren, kraft ausdrücklicher Rechtswahl nach deutschem Recht beurteilen. Dies folgt aus Art. 27 Abs. 1 EGBGB.
  147. 16
  148. Die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und
  149. des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht
  150. vom 17. Juni 2008 (Rom I-VO, ABl. 2008 L 177 S. 6, ber. ABl. 2009 L 309
  151. S. 87) ist im Streitfall intertemporal nicht anwendbar, da sie gemäß Art. 28 nur
  152. auf Verträge angewandt wird, die ab dem 17. Dezember 2009 geschlossen
  153. worden sind. Auf Verträge, die - wie der hier einschlägige Vertrag - davor geschlossen wurden, sind weiterhin die Bestimmungen der Art. 27 bis 34 EGBGB
  154. anzuwenden.
  155. 17
  156. c) Da deutsches Recht sowohl auf Ansprüche aus unerlaubter Handlung
  157. als auch auf vertragliche Ansprüche aus dem genannten Vertrag anwendbar ist,
  158. bedarf es im Streitfall keiner Entscheidung, ob die Einbeziehung von Dritten in
  159. den Schutzbereich eines Vertrags sich internationalprivatrechtlich nach dem
  160. Vertragsstatut beurteilt (vgl. MünchKommBGB/Spellenberg, 4. Aufl., Art. 32
  161. -9-
  162. EGBGB Rn. 24 m.w.N.) oder ob insoweit das Deliktsstatut (vgl. Dutta, IPRax
  163. 2009, 293, 297) maßgebend ist.
  164. 18
  165. 3. Für die Entscheidung des Rechtsstreits nach deutschem Recht kommt
  166. es maßgeblich darauf an, zu welchem Zweck eine benannte Stelle in das Konformitätsbewertungsverfahren einbezogen wird (a, b), und welche Pflichten der
  167. benannten Stelle im Rahmen dieses Verfahrens auferlegt sind (c).
  168. 19
  169. a) Eine deliktsrechtliche Haftung der Beklagten kann sich wegen Verletzung eines Schutzgesetzes aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 2
  170. Satz 1, § 37 Abs. 1 MPG, § 7 Abs. 1 Nr. 1 (früher § 6 Abs. 1 Nr. 1) MPV, Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG ergeben. Das setzt voraus, dass § 6 Abs. 2
  171. Satz 1 MPG als Schutzgesetz angesehen werden kann.
  172. 20
  173. aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine
  174. Norm als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB anzusehen, wenn sie
  175. nach Zweck und Inhalt zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder
  176. einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu
  177. schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck
  178. des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes
  179. gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zu Gunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mit gewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch
  180. das in Frage stehende Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in
  181. erster Linie das Interesse der Allgemeinheit im Auge haben. Andererseits soll
  182. der Anwendungsbereich von Schutzgesetzen nicht ausufern. Deshalb reicht es
  183. nicht aus, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm als ihr Reflex
  184. objektiv erreicht werden kann; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm
  185. liegen. Zudem muss die Schaffung eines individuellen Schadensersatzan-
  186. - 10 -
  187. spruchs sinnvoll und im Sinne des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar
  188. erscheinen, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, geprüft werden muss, ob es in der
  189. Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten
  190. Interesses die deliktsrechtliche Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit
  191. allen damit zu Gunsten des Geschädigten gegebenen Beweiserleichterungen
  192. zu knüpfen (BGH, Urteile vom 13. Dezember 2011 - XI ZR 51/10, BGHZ 192,
  193. 90 Rn. 21; vom 22. Juni 2010 - VI ZR 212/09, BGHZ 186, 58 Rn. 26).
  194. 21
  195. bb) Misst man § 6 Abs. 2 Satz 1 MPG an diesen Maßstäben, ist festzustellen:
  196. 22
  197. Das
  198. Medizinproduktegesetz
  199. dient
  200. der
  201. Umsetzung
  202. der
  203. Richtlinie
  204. 93/42/EWG (Spickhoff/Lücker, Medizinrecht, 2. Aufl., Vorbemerkung MPG
  205. Rn. 3; Rehmann in Rehmann/Wagner, MPG, 2. Aufl., Einführung Rn. 2).
  206. 23
  207. § 6 Abs. 2 Satz 1 MPG stellt in Verbindung mit § 37 Abs. 1 MPG, § 7
  208. Abs. 1 Nr. 1 MPV sicher, dass Medizinprodukte der (höchsten Risiko-) Klasse III
  209. nur in den Verkehr gelangen, wenn die Voraussetzungen des Konformitätsbewertungsverfahrens nach Anhang II zur Richtlinie 93/42/EWG gegeben sind.
  210. Für die Frage, ob § 6 Abs. 2 Satz 1 MPG als Schutzgesetz anzusehen ist,
  211. kommt es deshalb nach dem Prinzip der richtlinienkonformen Auslegung
  212. (EuGH, NJW 2006, 2465 Rn. 108 ff.; BGH, Urteile vom 7. Mai 2014 - IV ZR
  213. 76/11, BGHZ 201, 101 Rn. 20; vom 21. Dezember 2011 - VIII ZR 70/08, BGHZ
  214. 192, 148 Rn. 24) wesentlich auf Inhalt und Zweck der Richtlinie 93/42/EWG im
  215. Allgemeinen und speziell unter Berücksichtigung von deren Anhang II an. In
  216. Abs. 5 der Erwägungen der Richtlinie 93/42/EWG wird ausgeführt, dass Medizinprodukte für Patienten, Anwender und Dritte einen hochgradigen Schutz bieten müssen. Die Verbesserung des in den Mitgliedsstaaten erreichten Schutz-
  217. - 11 -
  218. niveaus "ist eines der wesentlichen Ziele dieser Richtlinie". Speziell für das
  219. Konformitätsbewertungsverfahren heißt es dazu in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über Medizinprodukte vom
  220. 2. Juli 2003 (KOM[2003] 386, S. 16):
  221. "Die Konformitätsbewertung ist eine Grundvoraussetzung für das
  222. Vertrauen in die Fähigkeit des Regulierungssystems, Patienten
  223. und Bürger zu schützen. Es müssen alle nur erdenklichen Bemühungen zur Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus unternommen werden. Mängel bei der Konformitätsbewertung stellen
  224. die Glaubwürdigkeit des vorhandenen Regulierungssystems und
  225. die Fähigkeit der Behörden zum wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit in Frage, selbst wenn nur eine geringe Zahl spezifischer Produkte betroffen ist."
  226. 24
  227. Auf dieser Grundlage ist davon auszugehen, dass der Schutz der Patienten vor Gesundheitsbeeinträchtigungen und Körperverletzungen eines der wesentlichen Ziele der Richtlinie 93/42/EWG darstellt. Es ist deshalb möglich, dass
  228. die Richtlinie einen Rechtsschutz, wie ihn die Klägerin gegen die Beklagte in
  229. Anspruch nimmt, beabsichtigt (bejahend: Rott/Glinski, ZEuP 2015, 192, 204;
  230. Lippert in Deutsch/Lippert/Ratzel/Tag, 2. Aufl., MPG, § 6 Rn. 9).
  231. 25
  232. b) Das durch die Rechtsprechung entwickelte Institut des Vertrages mit
  233. Schutzwirkung zugunsten Dritter beruht auf einer maßgeblich durch das Prinzip
  234. von Treu und Glauben (§ 242 BGB) geprägten ergänzenden Vertragsauslegung
  235. (§ 157 BGB). Danach wird ein Dritter in die aus einem Vertrag folgenden Sorgfalts- und Schutzpflichten einbezogen, wenn er mit der Hauptleistung nach dem
  236. Inhalt des Vertrags bestimmungsgemäß in Berührung kommen soll, ein schutzwürdiges Interesse des Gläubigers an der Einbeziehung des Dritten besteht,
  237. - 12 -
  238. den Interessen des Schuldners durch Erkennbarkeit und Zumutbarkeit der Haftungserweiterung Rechnung getragen wird und der Dritte schutzbedürftig ist
  239. (BGH, Urteile vom 28. Januar 2015 - XII ZR 201/13, NZFam 2015, 254 Rn. 14;
  240. vom 9. Oktober 2014 - III ZR 68/14, NJW 2014, 3580 Rn. 24). Für die an § 242
  241. BGB ausgerichtete Auslegung des Vertrages ist von wesentlicher Bedeutung,
  242. welche Zwecke die Richtlinie 93/42/EWG allgemein mit dem Konformitätsbewertungsverfahren und insbesondere durch die Einbeziehung der benannten
  243. Stelle mittels eines privatrechtlichen Vertrages mit dem Hersteller verfolgt. Diese Zwecke sind Grundlage der Bewertung des Vertragsinhalts und deshalb
  244. Ausgangspunkt für eine ergänzende Vertragsauslegung.
  245. 26
  246. c) Ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB oder aus einem
  247. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter setzt des Weiteren einen Verstoß
  248. gegen das Schutzgesetz oder eine Vertragspflichtverletzung voraus.
  249. 27
  250. aa) Der benannten Stelle sind nach Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG
  251. folgende Pflichten zugewiesen:
  252. 28
  253. Vor dem Inverkehrbringen des Medizinprodukts ist die benannte Stelle
  254. zunächst in die Bewertung des von dem Hersteller einzureichenden Qualitätssicherungssystems eingebunden (Nr. 3.3. Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG).
  255. Sie hat eine förmliche Überprüfung des Qualitätssicherungssystems (Audit)
  256. durchzuführen. Zusätzlich hat der Hersteller eine Produktauslegungsdokumentation vorzulegen, die die benannte Stelle nach Nr. 4.3. der Richtlinie
  257. 93/42/EWG zu prüfen hat.
  258. 29
  259. Nach dem Inverkehrbringen des Medizinprodukts hat nach Nr. 5.1. Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG eine Überwachung des Qualitätssicherungssystems zu erfolgen. Die Pflichten der benannten Stelle im Rahmen der Überwachung sind in Nr. 5.3. und 5.4. Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG geregelt.
  260. - 13 -
  261. Danach führt die benannte Stelle regelmäßig die erforderlichen Inspektionen
  262. und Bewertungen durch, um sich davon zu überzeugen, dass der Hersteller das
  263. genehmigte Qualitätssicherungssystem anwendet. Darüber hinaus kann die
  264. benannte Stelle unangemeldete Besichtigungen beim Hersteller durchführen
  265. und erforderlichenfalls Prüfungen zur Kontrolle des ordnungsgemäßen Funktionierens des Qualitätssicherungssystems durchführen oder durchführen lassen.
  266. 30
  267. bb) Der Senat kann nicht zweifelsfrei feststellen, welchen konkreten Inhalt diese Pflichten bei Medizinprodukten der Klasse III haben. Insbesondere
  268. stellt sich die Frage, ob sich aus den vorstehend genannten Bestimmungen des
  269. Anhangs II der Richtlinie 93/42/EWG eine generelle oder zumindest anlassbezogene Produktprüfungspflicht ergibt. Außerdem stellt sich die Frage, ob eine
  270. generelle oder zumindest anlassbezogene Pflicht besteht, Geschäftsunterlagen
  271. des Herstellers zu sichten und/oder unangemeldete Inspektionen durchzuführen.
  272. 31
  273. Dazu heißt es in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über Medizinprodukte vom 2. Juli 2003 (KOM[2003] 386,
  274. 17):
  275. "Will ein Hersteller die Konformitätserklärung für Produkte der
  276. Klassen IIa und IIb auf der Grundlage eines vollständigen Qualitätssicherungssystems abgeben, so müssen sich die benannten
  277. Stellen nicht nur vom Vorliegen einer vollständigen technischen
  278. Dokumentation überzeugen, …, sondern auch von der richtigen
  279. Anwendung des Qualitätssicherungssystems des Herstellers und
  280. der Richtigkeit und Angemessenheit der Angaben."
  281. 32
  282. Nach diesen Ausführungen könnten im Konformitätsbewertungsverfahren bloße Besichtigungen, wie von der Beklagten ausschließlich nach vorher-
  283. - 14 -
  284. gehender Anmeldung durchgeführt, nicht ausreichen, um die Anforderungen
  285. von Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG zu erfüllen. Damit könnte einhergehen,
  286. dass sich die Beklagte in Nr. 6.1 ihrer Prüf- und Zertifizierungsordnung, die Bestandteil des Vertrages mit dem Herstellerunternehmen war, die Befugnis zu
  287. Kontrollprüfungen des Produkts vorbehalten hat.
  288. 33
  289. 4. Da der Gerichtshof der Europäischen Union noch keine Gelegenheit
  290. hatte, zu den aufgeworfenen Fragen Stellung zu nehmen, sind ihm diese zur
  291. Auslegung der Richtlinie 93/42/EWG vorzulegen.
  292. Eick
  293. Kartzke
  294. Graßnack
  295. Jurgeleit
  296. Sacher
  297. Vorinstanzen:
  298. LG Frankenthal, Entscheidung vom 14.03.2013 - 6 O 304/12 OLG Zweibrücken, Entscheidung vom 30.01.2014 - 4 U 66/13 -