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12 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. VI ZR 67/00
  5. Verkündet am:
  6. 17. Oktober 2000
  7. Holmes,
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk: ja
  13. BGHZ:
  14. ja
  15. SGB VII § 106 Abs. 3
  16. Der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte i.S. von § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII
  17. erfaßt über die Fälle der Arbeitsgemeinschaft hinaus betriebliche Aktivitäten von
  18. Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewußt und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, daß die gegenseitige Verständigung stillschweigend
  19. durch bloßes Tun erfolgt.
  20. BGH, Urteil vom 17. Oktober 2000 - VI ZR 67/00 - OLG Celle
  21. LG Hannover
  22. -2-
  23. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  24. vom 17. Oktober 2000 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter
  25. Dr. Lepa, Dr. v. Gerlach, Dr. Greiner und Wellner
  26. für Recht erkannt:
  27. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 9. Zivilsenats
  28. des Oberlandesgerichts Celle vom 26. Januar 2000 aufgehoben.
  29. Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung,
  30. auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  31. Von Rechts wegen
  32. Tatbestand:
  33. Der Kläger erlitt schwere Verletzungen, als er am 19. Februar 1998 auf
  34. dem Betriebshof "Pferdeturm" der Deutschen Bahn AG in H. bei Gleis 207 von
  35. einer Rangierabteilung der Deutschen Bahn AG angefahren wurde. Er hatte für
  36. seine Arbeitgeberin, die D.-GmbH, die im Auftrag der Deutschen Bahn AG deren Reisezugwagen reinigt, gemeinsam mit zwei Arbeitskollegen die Reinigung
  37. eines Zuges abgeschlossen. Als er auf dem Weg zu einer Müllsammelstelle
  38. einen zuvor an dem Gleis 207 abgelegten Müllsack aufheben wollte, wurde er
  39. von der Rangierabteilung erfaßt. Lokführer war der Erstbeklagte, mitfahrender
  40. Rangierleiter der Zweitbeklagte.
  41. -3-
  42. Mit der vorliegenden Klage verlangt der Kläger von den Beklagten als
  43. Gesamtschuldnern die Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von
  44. 50.000 DM. Er wirft ihnen vor, ein Warnsignal nicht abgegeben zu haben; er
  45. habe sich, bevor er sich gebückt habe, nach links und rechts umgesehen, ohne
  46. die Rangierabteilung auf dem Gleis 207 wahrzunehmen.
  47. Die Beklagten haben behauptet, der Erstbeklagte habe mit einem Typhon (einer mit Pressluft betriebenen Fanfare) zwei kurz aufeinander folgende
  48. Achtungssignale abgegeben.
  49. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, das Oberlandesgericht hat
  50. sie auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Mit seiner (zugelassenen) Revision erstrebt der Kläger die Aufhebung des Berufungsurteils und die Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
  51. Entscheidungsgründe:
  52. I.
  53. Nach Auffassung des Berufungsgerichts läßt sich der geltend gemachte
  54. Schmerzensgeldanspruch zwar nicht schon mit der Begründung verneinen,
  55. daß den Kläger an dem Unfall ein ganz überwiegendes Mitverschulden mit der
  56. Folge treffe, daß ein Verursachungsbeitrag der Beklagten bei der Abwägung
  57. nach § 254 Abs. 1 BGB nicht ins Gewicht falle. Eine solche Abwägung sei bei
  58. dem jetzigen Stand des Verfahrens nicht möglich, weil noch streitig sei, ob der
  59. Erstbeklagte ein Warnsignal abgegeben habe. Die Klage sei aber deshalb abzuweisen, weil ein etwaiger Schmerzensgeldanspruch nach § 106 Abs. 3 i.V.m.
  60. -4-
  61. § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen sei. Der Kläger habe den Unfall im
  62. Rahmen einer vorübergehenden betrieblichen Tätigkeit auf einer für ihn und
  63. die Beklagten gemeinsamen Betriebsstätte im Sinne von § 106 Abs. 3 SGB VII
  64. erlitten. Hierfür reiche es aus , daß die Tätigkeiten der Beteiligten einem übergreifenden gemeinsamen Zweck im Sinne eines übergeordneten Betriebszwecks gedient hätten, der einen zumindest mittelbaren Zusammenhang zwischen ihnen hergestellt habe. Diese Voraussetzung liege hier vor. Die Tätigkeit
  65. des Klägers für die D.-GmbH, die im Unfallzeitpunkt noch nicht beendet gewesen sei, habe ebenso wie die Tätigkeit der Beklagten dem Unternehmenszweck
  66. der Deutschen Bahn AG gedient. Damit sei der Bereich des Gleises 207 als
  67. gemeinsame Betriebsstätte anzusehen.
  68. Das Oberlandesgericht hat die Revision zugelassen, damit die Voraussetzungen, unter denen eine "gemeinsame Betriebsstätte" im Sinne von § 106
  69. Abs. 3 SGB VII bejaht werden kann, höchstrichterlich geklärt werden.
  70. II.
  71. Der Senat teilt nicht das Verständnis des Begriffs der gemeinsamen Betriebsstätte, von dem das Berufungsgericht ausgeht. Die Anforderungen, die an
  72. die Bejahung dieses Merkmals zu stellen sind, reichen vielmehr weiter mit der
  73. Folge, daß hier die Haftungsprivilegierung aus §§ 106 Abs. 3, 105 Abs. 1
  74. SGB VII nicht eingreift.
  75. 1. Die Regelung des § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII, nach der die §§ 104
  76. und 105 SGB VII für die Ersatzpflicht der für die beteiligten Unternehmen Tätigen untereinander gelten, wenn Versicherte mehrerer Unternehmen vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrich-
  77. -5-
  78. ten, hat im bisherigen Recht der Haftungsersetzung nach §§ 636 ff. RVO kein
  79. Vorbild. Die Auslegung dieser Vorschrift ist in der Rechtsprechung der Instanzgerichte und im Schrifttum umstritten.
  80. a) Es haben sich im wesentlichen folgende Auffassungen herausgebildet:
  81. Ein Teil des Schrifttums ist der Auffassung, daß § 106 Abs. 3, 3. Alt.
  82. SGB VII die bisherige Rechtslage nicht verändert habe. Nach dieser Meinung
  83. erfaßt die Neuregelung wie das bisherige Recht die Fälle, in denen Unternehmen in Form einer Arbeitsgemeinschaft kooperieren (vgl. Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 3. Aufl. 1997, Anh. II Rdn. 26; so wohl auch Otto,
  84. NZV 1996, 473, 477).
  85. Nach anderer Auffassung setzt die Anwendung des § 106 Abs. 3, 3. Alt.
  86. SGB VII zwar nicht eine Arbeitsgemeinschaft der beteiligten Unternehmen,
  87. wohl aber über den zeitlichen und räumlichen Kontakt der betrieblichen Tätigkeiten hinaus ein gemeinsames Ziel der Unternehmen (so Hauck/Nehls,
  88. SGB VII, § 106 Rdn. 16), die Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks (so
  89. Maschmann, SGb 1998, 54, 59) oder die Unterhaltung einer Betriebsstätte in
  90. gemeinsamer Organisation und Verantwortung voraus (so Kasseler Kommentar/Ricke, 2. Aufl. 1999, § 106 SGB VII Rdn. 5). Diese Auffassung vertritt auch
  91. die Revision.
  92. Diesen engen Gesetzesauslegungen steht die Meinung derer gegenüber, die es ausreichen lassen, daß ein zeitlicher und räumlicher Kontakt von
  93. neben- oder nacheinander stattfindenden Verrichtungen besteht (Geigel/Kolb,
  94. Der Haftpflichtprozeß, 22. Aufl. 1997, Kap. 31 Rdn. 84; Kater in Kater/Leube,
  95. SGB VII, § 106 Rdn. 19; Westhoff in Anwalts-Handbuch Arbeitsrecht Teil 2 I
  96. -6-
  97. Rdn. 91 f.; OLG Saarbrücken, r + s 1999, 374, 375; LG Kassel, VersR 1999,
  98. 1552; LG Kiel, SP 1999, 306 f.), wobei jede betriebliche Tätigkeit eine "Betriebsstätte" begründe (Jahnke, NJW 2000, 265, 266; ders. VersR 2000, 155,
  99. 156 f.; ders. SP 1999, 307, 308; Stern-Krieger/Arnau, VersR 1997, 408, 411).
  100. Für die geforderte "Gemeinsamkeit" der Betriebsstätte genüge jede, wenn auch
  101. lose Verbindung zwischen den einzelnen Verrichtungen; nur ein zufälliges Aufeinandertreffen reiche nicht aus (Jahnke, aaO). Nach einer noch weitergehenden Meinung ist sogar nur eine Tätigkeit auf "derselben" Betriebsstätte zu fordern (Stern-Krieger/Arnau, aaO S. 413).
  102. Dazwischen bewegt sich eine vermittelnde Auffassung. Nach ihr verlangt
  103. § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII weder eine rechtliche Verfestigung der Kooperation der beteiligten Unternehmen noch die Verfolgung eines gemeinsamen Ziels
  104. und Zwecks oder eine gemeinsame Organisation oder Verantwortung. Andererseits reiche für die Normanwendung aber ein bloßes Nebeneinander der
  105. Tätigkeiten nicht aus, vielmehr sei zumindest ein Miteinander im Sinne einer
  106. Verknüpfung einzelner Leistungen zu fordern (so Lemcke, r + s 1999, 376 und
  107. ZAP Heft 23 S. 199, 211 f. und wohl auch Schmitt, SGB VII, § 106 Rdn. 9,
  108. Waltermann, NJW 1997, 3401, 3403 und Wannagat/Waltermann, Sozialgesetzbuch, SGB VII § 106 Rdn. 5, vgl. ferner OLG Braunschweig, r + s 1999,
  109. 459, 462).
  110. b) Der Senat vermag den Auffassungen, die die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft oder die Vereinbarung eines gemeinsamen Ziels und Zwecks der
  111. Aktivitäten oder eine gemeinsame Organisation und Verantwortung verlangen,
  112. nicht zu folgen. Diese Auffassungen sind zwar mit dem Wortlaut des § 106
  113. Abs. 3, 3. Alt. SGB VII durchaus vereinbar, unterscheiden sich aber von der
  114. bisherigen Rechtslage, nach der bereits in den Fällen der Arbeitsgemeinschaft
  115. -7-
  116. die Haftungsfreistellung einsetzte, nicht oder nur graduell. Es kann indes nicht
  117. davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber mit der Einführung einer
  118. eigenständigen Regelung unter Verwendung des in diesem Zusammenhang
  119. neuartigen Begriffs der gemeinsamen Betriebsstätte den bisherigen Rechtszustand lediglich festschreiben oder nur geringfügig ausdehnen wollte. Vielmehr
  120. läßt die Vorschrift trotz der Unauffälligkeit ihrer Position im Gefüge des § 106
  121. Abs. 3 SGB VII und trotz der Unergiebigkeit der Gesetzesbegründung (BTDrs. 13/2204 S. 100) durch die Besonderheit des Norminhalts die gesetzgeberische Intention erkennen, die Haftungsfreistellung des Schädigers in den Fällen der Beteiligung mehrerer Unternehmen im Vergleich zum bisherigen Recht
  122. deutlich zu erweitern. Hinter dieser Zielsetzung bleibt eine derart enge Auslegung des Begriffs der gemeinsamen Betriebsstätte in nicht hinnehmbarer Weise zurück.
  123. Auf der anderen Seite vernachlässigt die weite Auffassung, nach der
  124. schon eine Schädigung bei einem bloßen lokalen Nebeneinander zweier Unternehmensaktivitäten zu einer Haftungsbefreiung des Schädigers führen soll,
  125. die weitgehend akzeptierte Erkenntnis, daß die vom Gesetz vorausgesetzte
  126. "gemeinsame" Betriebsstätte jedenfalls mehr ist als dieselbe Betriebsstätte. Mit
  127. dem in diesem Normzusammenhang ungewöhnlichen Postulat der Gemeinsamkeit der Betriebsstätte bezweckt der Gesetzgeber offensichtlich zugleich,
  128. den Kreis der Schadensfälle nicht ausufern zu lassen, in denen eine Haftungsbefreiung einsetzen soll, wenn das Zusammentreffen der Risikosphären mehrerer Betriebe zum Schadensfall führt.
  129. Dieser gesetzgeberischen Zielsetzung trägt bei einem unbefangenen
  130. Gesetzesverständnis am ehesten eine Auslegung des Begriffs der gemeinsamen Betriebsstätte Rechnung, nach der § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII ein be-
  131. -8-
  132. wußtes Miteinander im Arbeitsablauf meint, das zwar nicht nach einer rechtlichen Verfestigung oder auch nur ausdrücklichen Vereinbarung verlangt, sich
  133. aber zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Die Haftungsfreistellung aus
  134. § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII erfaßt damit über die Fälle der Arbeitsgemeinschaft hinaus betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen,
  135. die bewußt und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, daß
  136. die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Dieses Gesetzesverständnis wird dadurch bestätigt, daß der Gesetzgeber die gemeinsame Betriebsstätte in § 106 Abs. 3 SGB VII in Parallelität zum Zusammenwirken von Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder des Zivilschutzes regelt und damit Kooperationsformen ins Auge faßt, in denen im faktischen
  137. Miteinander die Tätigkeit der Mitwirkenden aufeinander bezogen oder miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet ist (vgl. hierzu auch Lemcke, aaO).
  138. 2. Danach hat der Kläger die Verletzungen, aus denen er seinen
  139. Schmerzensgeldanspruch herleitet, nicht bei einer betrieblichen Tätigkeit auf
  140. einer gemeinsamen Betriebsstätte im Sinne von § 106 Abs. 3 SGB VII erlitten.
  141. Er ist nicht im Zuge betrieblicher Tätigkeiten der D.-GmbH einerseits und der
  142. Deutschen Bahn AG andererseits zu Schaden gekommen, die bewußt und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander griffen, miteinander verknüpft waren, sich gegenseitig ergänzten oder unterstützten. Vielmehr befand er sich mit
  143. seinen Arbeitskollegen auf dem Rückweg von einer Zugreinigung, während die
  144. beiden Beklagten mit einer Rangierabteilung unterwegs waren. Diese beiden
  145. Tätigkeiten vollzogen sich beziehungslos nebeneinander. Sie trafen hier rein
  146. zufällig aufeinander.
  147. -9-
  148. 3. Da mithin die Haftungsfreistellung aus §§ 106 Abs. 3, 105 Abs. 1
  149. SGB VII nicht eingreift, kommt es darauf an, ob den Beklagten ein unfallursächliches Verschulden angelastet werden kann und - wenn ja - wie der Mitverursachungsbeitrag des Klägers nach § 254 Abs. 1 BGB zu gewichten ist.
  150. Hierzu bedarf es noch weiterer Feststellungen, wie das Berufungsgericht zu
  151. Recht ausführt.
  152. Groß
  153. Dr. Lepa
  154. Dr. Greiner
  155. Dr. v. Gerlach
  156. Wellner