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221 lines
12 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. VI ZR 231/17
  5. Verkündet am:
  6. 15. Mai 2018
  7. Olovcic
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. nein
  16. BGHR:
  17. ja
  18. StVG § 17; StVO § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1
  19. "Anderer Verkehrsteilnehmer" im Sinne der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO ist
  20. jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und
  21. unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Darunter fällt
  22. nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße, sondern jedenfalls auch derjenige, der auf der anderen Straßenseite vom Fahrbahnrand
  23. anfährt.
  24. BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 - VI ZR 231/17 - LG Heilbronn
  25. AG Heilbronn
  26. ECLI:DE:BGH:2018:150518UVIZR231.17.0
  27. - 2 -
  28. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  29. vom 15. Mai 2018 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richterinnen von
  30. Pentz und Dr. Roloff sowie die Richter Dr. Klein und Dr. Allgayer
  31. für Recht erkannt:
  32. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil der 6. Zivilkammer des
  33. Landgerichts Heilbronn vom 18. Mai 2017 wird zurückgewiesen.
  34. Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
  35. Von Rechts wegen
  36. Tatbestand:
  37. 1
  38. Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Ersatz weiteren Sachschadens
  39. nach einem Verkehrsunfall in Anspruch.
  40. 2
  41. Die Klägerin hatte ihr Fahrzeug vorwärts auf einem rechtwinklig zur
  42. Fahrbahn angeordneten Parkplatz geparkt. Der Beklagte zu 2 hatte sein von
  43. dem Beklagten zu 1 gehaltenes und bei der Beklagten zu 3 haftpflichtversichertes Fahrzeug am gegenüberliegenden Fahrbahnrand entgegen der Fahrtrichtung abgestellt; vor seinem Fahrzeug stand ein weiteres Fahrzeug. Die Klägerin
  44. parkte rückwärts in einem Linksbogen mit der Absicht aus, sodann auf der Gegenfahrbahn in Fahrtrichtung weiterzufahren. Dabei kollidierte sie mit dem Beklagten zu 2, der ebenfalls rückwärts fuhr, um ausparken zu können. Zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes befand sich das Fahrzeug des Beklagten zu 2
  45. noch in Rückwärtsbewegung.
  46. - 3 -
  47. 3
  48. Vorgerichtlich regulierte die Beklagte zu 3 die der Höhe nach nicht mehr
  49. in Streit stehenden Schadenspositionen der Klägerin auf der Grundlage einer
  50. Haftungsquote von einem Drittel zu deren Lasten. Mit ihrer Klage macht die
  51. Klägerin - soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse - die restlichen zwei
  52. Drittel geltend.
  53. 4
  54. Das Amtsgericht hat der Klage auf der Grundlage einer Haftungsquote
  55. von 50 % teilweise stattgegeben. Die Berufung der Klägerin hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision
  56. verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche (Zahlung von weiteren 889,91 € zuzüglich
  57. Zinsen und Freistellung von Anwaltskosten) weiter.
  58. Entscheidungsgründe:
  59. I.
  60. 5
  61. Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Klägerin über den vom
  62. Amtsgericht auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % zugesprochenen
  63. Betrag kein weitergehender Schadensersatzanspruch zu.
  64. 6
  65. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hätten sowohl die Klägerin als
  66. auch der Beklagte zu 2 gegen ihre Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 5, § 10
  67. Satz 1 StVO verstoßen. Die Klägerin habe rückwärts über beide Fahrbahnen
  68. ausgeparkt, obwohl sie zuvor erkannt gehabt habe, dass der Beklagte zu 2 zu
  69. seinem Auto gegangen und eingestiegen sei und vor einer Weiterfahrt zunächst
  70. würde zurückstoßen müssen. Der Beklagte zu 2 sei aus seiner Parkposition
  71. heraus über eine Strecke von ca. zehn Metern rückwärts gefahren, ohne den
  72. rückwärtigen Verkehrsraum mit der erforderlichen besonders hohen Sorgfalt zu
  73. - 4 -
  74. beobachten. Dabei habe er seine Rückwärtsfahrt begonnen, als die Klägerin
  75. ihren Rückwärtsfahrvorgang etwa zur Hälfte abgeschlossen gehabt habe.
  76. 7
  77. Die gesteigerten Sorgfaltspflichten der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO gälten nicht nur gegenüber dem fließenden Durchgangsverkehr auf der Straße,
  78. sondern gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern und damit auch für die
  79. vorliegende Konstellation einer Kollision zwischen einem aus einem Parkplatz
  80. rückwärts auf die Straße einfahrenden Fahrzeug und einem am gegenüberliegenden Fahrbahnrand rückwärts ausparkenden weiteren Fahrzeug. Dagegen
  81. fände die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den sog. ParkplatzUnfällen hier keine Anwendung. Selbst wenn man der Auffassung folgen wolle,
  82. dass § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO allein den fließenden Verkehr schützten, führe dies zu keinem anderen Ergebnis, da sich beide Verkehrsteilnehmer dann
  83. am Maßstab des § 1 Abs. 2 StVO (Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme)
  84. messen lassen müssten.
  85. 8
  86. Unter Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge sei eine Haftungsquote von 50:50 angemessen (§ 17 Abs. 1 StVG).
  87. II.
  88. 9
  89. Die Revision ist unbegründet.
  90. 10
  91. 1. Die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17
  92. StVG ist - wie im Rahmen des § 254 BGB - Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurteile vom 11. Oktober
  93. 2016 - VI ZR 66/16, NJW 2017, 1175 Rn. 7; vom 26. Januar 2016 - VI ZR
  94. - 5 -
  95. 179/15, NJW 2016, 1100 Rn. 10; vom 27. Mai 2014 - VI ZR 279/13, NJW 2014,
  96. 3097 Rn. 18). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist
  97. hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur
  98. Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurteile vom 11. Oktober 2016 - VI ZR
  99. 66/16, aaO; vom 26. Januar 2016 - VI ZR 179/15, aaO; vom 27. Mai 2014
  100. - VI ZR 279/13, aaO).
  101. 11
  102. 2. Nach diesen Grundsätzen sind die Erwägungen des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden.
  103. 12
  104. a) Frei von Rechtsfehlern hat das Berufungsgericht auch der Klägerin im
  105. Verhältnis zum Beklagten zu 2 einen Verstoß gegen § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1
  106. StVO zur Last gelegt. Nach § 9 Abs. 5 StVO hat sich der Führer eines Fahrzeugs beim Rückwärtsfahren, nach § 10 Satz 1 StVO derjenige, der von einem
  107. Straßenteil - hier einem Parkplatz - auf die Fahrbahn einfährt, so zu verhalten,
  108. dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. "Anderer Verkehrsteilnehmer" ist jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs
  109. einwirkt (vgl. BGH, Beschluss vom 25. November 1959 - 4 StR 424/59, BGHSt
  110. 14, 24, 27 zu § 1 StVO; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht,
  111. 44. Aufl., § 1 StVO Rn. 17 mwN). Darunter fällt zwar "primär" (Senatsurteil vom
  112. 15. Dezember 2015 - VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098 Rn. 11) und "insbesondere"
  113. (BGH, Urteil vom 25. April 1985 - III ZR 53/84, NJW-RR 1986, 189, 190), aber
  114. nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße, sondern jedenfalls
  115. auch derjenige, der - wie hier der Beklagte zu 2 - auf der anderen Straßenseite
  116. selbst ein Fahrmanöver durchführt, um vom Fahrbahnrand anzufahren (vgl.
  117. - 6 -
  118. OLG Karlsruhe, NJW-RR 2016, 352 Rn. 15; LG Heidelberg, NJW-RR 2016,
  119. 1431, 1432; König, aaO, § 10 StVO Rn. 4, 10; Scholten in Freymann/Wellner,
  120. jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2016, § 10 StVO Rn. 50).
  121. 13
  122. Soweit ein Teil der instanzgerichtlichen Rechtsprechung (OLG Hamm,
  123. VRS 45, 461; OLG Celle, VersR 1964, 249 [zu § 17 StVO aF]; LG Hamburg,
  124. Urteil vom 17. November 2017 - 306 S 1/17, juris Rn. 12; LG Saarbrücken,
  125. Urteil vom 10. Dezember 2010 - 13 S 80/10, juris Rn. 7 f.) sowie der Literatur (Burmann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht,
  126. 25. Aufl., § 10 StVO Rn. 2) das Bestehen der besonderen Sorgfaltspflichten aus
  127. § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO allein gegenüber dem fließenden Verkehr annimmt, weil allein im Verhältnis zu diesem wegen der dort typischerweise bestehenden höheren Geschwindigkeiten eine besondere Gefahrensituation bestehe, ist diese Auffassung mit dem Wortlaut der genannten Normen nicht vereinbar, nach dem unterschiedslos die Gefährdung "anderer Verkehrsteilnehmer" auszuschließen ist. Entsprechend ist in Rechtsprechung und Literatur im
  128. Grundsatz anerkannt, dass die besonderen Sorgfaltspflichten der § 9 Abs. 5,
  129. § 10 Satz 1 StVO auch gegenüber Fußgängern Platz greifen (OLG Düsseldorf,
  130. VRS 54, 298; KG, VM 1986, 86; König, aaO, § 10 StVO Rn. 4; Burmann, aaO,
  131. § 10 StVO Rn. 2; Scholten, aaO, § 10 StVO Rn. 46; Bender in MüKoStVR, § 10
  132. StVO Rn. 6; Müller in Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht, Stand August
  133. 2015, § 10 StVO Rn. 4; Greger in Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl., § 14 Rn. 220; einschränkend gegenüber dem in der Fahrzeugtür des parkenden Autos stehenden oder am Fahrbahnrand wartenden
  134. Fußgänger KG, VRS 107, 96; OLG Hamm, NZV 1995, 72, 73). Nichts anderes
  135. kann im Verhältnis zu - wenngleich gegebenenfalls langsam - anderen auf die
  136. Straße einfahrenden oder am Straßenrand anfahrenden Kraftfahrzeugen gelten.
  137. - 7 -
  138. 14
  139. b) Der danach der Klägerin zur Last fallende Verstoß gegen die besonderen Sorgfaltspflichten der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO entfällt auch nicht
  140. ausnahmsweise deshalb, weil diese mit dem atypischen groben Verkehrsverstoß des Beklagten zu 2 (Rückwärtsfahren des gegen die Fahrtrichtung parkenden Fahrzeugs über zehn Meter) nicht hätte rechnen müssen (vgl. hierzu
  141. KG, VRS 60, 382; OLG Oldenburg, NZV 1992, 487, 488). Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte die Klägerin den Beklagten zu 2 nämlich
  142. beim Einsteigen in sein Fahrzeug ebenso wahrgenommen wie den Umstand,
  143. dass dieser vor einer Weiterfahrt zunächst werde rückwärtsfahren müssen.
  144. Gleichwohl ist sie selbst rückwärts in dessen Fahrbahn eingekreuzt, wobei sie
  145. ihre Rückwärtsfahrt erst zur Hälfte beendet hatte, als der Beklagte zu 2 seinerseits rückwärts anfuhr.
  146. 15
  147. c) Nichts anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der Revision aus
  148. dem Umstand, dass die Klägerin ihre Rückwärtsfahrt zum Zeitpunkt der Kollision bereits beendet hatte und stand, als der Beklagte zu 2 rückwärts in sie hineinfuhr. Dabei kann offen bleiben, ob dies schon deshalb gilt, weil der am Fahrbahnrand anfahrende Beklagte zu 2 - anders als in der Situation auf einem
  149. Parkplatz - im Streitfall grundsätzlich darauf vertrauen durfte, dass sein Verkehrsfluss nicht durch ein rückwärtsfahrendes Fahrzeug gestört würde (vgl.
  150. hierzu Senatsurteile vom 11. Oktober 2016 - VI ZR 66/16, aaO Rn. 10; vom
  151. 15. Dezember 2015 - VI ZR 6/15, aaO Rn. 15). Jedenfalls aber scheidet die
  152. Annahme eines allein auf das noch nicht beendete Rückwärtsfahren des Beklagten zu 2 gestützten Anscheinsbeweises aus, weil die vorgenannten Besonderheiten des festgestellten gesamten Unfallgeschehens gegen eine Typizität
  153. zu Lasten des Beklagten zu 2 sprechen (vgl. Senatsurteil vom 15. Dezember
  154. 2015 - VI ZR 6/15, aaO Rn. 14).
  155. - 8 -
  156. 16
  157. d) Etwas anderes ergäbe sich, worauf das Berufungsgericht zu Recht
  158. hinweist, im Streitfall im Übrigen auch nicht nach dem subsidiär anwendbaren
  159. allgemeinen Rücksichtnahmegebot aus § 1 Abs. 2 StVO. Wären § 9 Abs. 5,
  160. § 10 Satz 1 StVO auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation nicht anwendbar, entfielen die daraus abzuleitenden besonderen Sorgfaltspflichten nämlich
  161. nicht nur für die Klägerin, sondern auch für den Beklagten zu 2. Die vom Berufungsgericht angenommene Gleichwertigkeit der Verursachungsbeiträge der
  162. beiden Unfallbeteiligten ergäbe sich somit lediglich in Anwendung eines anderen, für beide Seiten jedoch erneut gleichen Sorgfaltsmaßstabes.
  163. 17
  164. e) Die Abwägung der festgestellten Verursachungsbeiträge sowie die darauf beruhende Festsetzung der konkreten Haftungsquote als solche ist Tatfrage und revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
  165. Galke
  166. von Pentz
  167. Klein
  168. Roloff
  169. Allgayer
  170. Vorinstanzen:
  171. AG Heilbronn, Entscheidung vom 27.10.2016 - 10 C 1932/16 LG Heilbronn, Entscheidung vom 18.05.2017 - Bm 6 S 45/16 -