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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. V ZR 36/13
  5. Verkündet am:
  6. 24. Januar 2014
  7. Weschenfelder
  8. Justizhauptsekretärin
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. -2-
  13. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  14. vom 24. Januar 2014 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richter Dr. Lemke, Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Roth und die Richterin
  15. Dr. Brückner
  16. für Recht erkannt:
  17. Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Oberlandesgerichts München - 32. Zivilsenat - vom 20. Dezember 2012 aufgehoben.
  18. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
  19. über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  20. Von Rechts wegen
  21. Tatbestand:
  22. 1
  23. Die Beklagte kaufte von den Klägern zu 1 bis 4 mehrere Grundstücke
  24. und schloss mit ihnen einen Erstvermietungsgarantievertrag. Die Klägerin zu 5,
  25. die Komplementärin der Klägerin zu 1, gab ihr eine Mietausfallgarantie. Die Parteien schlossen mehrere Ergänzungs- und Änderungsverträge hierzu. Die Kläger sehen die Ansprüche aus den Erstverträgen damit als erledigt an. Die Beklagte nahm den gegenteiligen Standpunkt ein und machte, anwaltlich beraten,
  26. außergerichtlich Zahlungsansprüche gegenüber den Klägern zu 1 bis 4 in Höhe
  27. von 805.184,14 € und gegenüber der Klägerin zu 5 in Höhe von 4.739.010,52 €
  28. geltend. Die Kläger zu 1 bis 4 einerseits und die Klägerin zu 5 andererseits be-
  29. -3-
  30. auftragten Rechtsanwälte mit der Abwehr der Ansprüche und verlangen Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten unter dem Gesichtspunkt der Geltendmachung unberechtigter Ansprüche.
  31. 2
  32. Das Landgericht hat der im Urkundenprozess erhobenen Klage unter
  33. Vorbehalt der Rechte im Nachverfahren stattgegeben. Im Berufungsverfahren
  34. haben die Kläger das Abstehen vom Urkundenprozess erklärt. Das Oberlandesgericht hat die Klage auf die Berufung der Beklagten als im Urkundenprozess unstatthaft abgewiesen. Mit der von dem Senat zugelassenen Revision
  35. möchten die Kläger die Durchführung der Berufung im ordentlichen Verfahren
  36. erreichen. Die Beklagte beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen.
  37. Entscheidungsgründe:
  38. I.
  39. 3
  40. Das Berufungsgericht meint, ein Abstehen vom Urkundenprozess sei im
  41. Berufungsrechtszug nur unter den Voraussetzungen einer Klageänderung zulässig, die hier aber nicht vorlägen. Die Beklagte habe nicht zugestimmt. Sachdienlich sei das Abstehen vom Urkundenprozess nicht. Das ergebe sich zwar
  42. nicht schon daraus, dass eine Beweisaufnahme erforderlich werden könne. Hier
  43. sei der Anspruch aber nach Grund und Höhe bestritten. Dazu würden den Parteien bei einem Abstehen vom Urkundenprozess weitere Beweismöglichkeiten
  44. eröffnet. Im Ergebnis gehe der Beklagten eine Instanz verloren. Schließlich sei
  45. nicht auszuschließen, dass sich angesichts der Komplexität der Vorgänge eine
  46. aufwendige Beweisaufnahme als erforderlich erweisen könne.
  47. -4-
  48. II.
  49. 4
  50. Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht hat das von den Klägern im Berufungsverfahren erklärte Abstehen
  51. vom Urkundenprozess zu Unrecht als unzulässig angesehen.
  52. 5
  53. 1. Es geht allerdings im Ausgangspunkt zutreffend davon aus, dass ein
  54. Abstehen vom Urkundenprozess grundsätzlich auch noch in der Berufungsinstanz möglich ist.
  55. 6
  56. a) Nach § 596 ZPO kann ein Kläger, ohne dass es der Einwilligung des
  57. Beklagten bedarf, bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung von dem Urkundenprozess in der Weise abstehen, dass der Rechtsstreit im ordentlichen
  58. Verfahren anhängig bleibt. Eine solche Erklärung führt dazu, dass der geltend
  59. gemachte Anspruch rechtshängig bleibt und der Rechtsstreit im ordentlichen
  60. Verfahren ohne die Beschränkungen der §§ 592, 595 ZPO fortgeführt wird
  61. (BGH, Urteil vom 13. April 2011 - XII ZR 110/09, BGHZ 189, 182 Rn. 17).
  62. 7
  63. b) Das Abstehen vom Urkundenprozess ist, obwohl weder in § 596 ZPO
  64. noch in einer anderen Vorschrift ausdrücklich bestimmt, auch im Berufungsrechtszug noch möglich, und zwar unter den entsprechend anwendbaren Voraussetzungen einer Klageänderung (§ 533 ZPO). Erforderlich ist deshalb entweder die Einwilligung des Beklagten oder, dass das Berufungsgericht das Abstehen für sachdienlich hält (Senat, Urteil vom 25. Februar 1959 - V ZR 139/57,
  65. BGHZ 29, 337, 339 f.; BGH, Urteile vom 6. Juni 1977 - III ZR 116/75, BGHZ 69,
  66. 66, 69 und vom 19. Oktober 1999 - XI ZR 308/98, NJW 2000, 143 unter II 2 b
  67. cc). Daran hat sich durch das Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes am
  68. 1.
  69. Januar
  70. 2002
  71. nichts
  72. geändert
  73. (BGH,
  74. Urteile
  75. vom
  76. 13. April
  77. 2011
  78. - XII ZR 110/09, BGHZ 189, 182 Rn. 24 und vom 4. Juli 2012 - VIII ZR 109/11,
  79. NJW 2012, 2662 Rn. 14).
  80. -5-
  81. 8
  82. 2. Die weitere Annahme des Berufungsgerichts, diese Voraussetzungen
  83. lägen nicht vor, weil das Abstehen von dem Urkundenprozess nicht sachdienlich sei, ist jedoch von Rechtsfehlern beeinflusst.
  84. 9
  85. a) Zwar kann das Revisionsgericht die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Sachdienlichkeit des Abstehens vom Urkundenprozess nur darauf überprüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff der Sachdienlichkeit verkannt oder die Grenzen seines Ermessens überschritten hat (BGH, Urteil vom
  86. 13. April 2011 - XII ZR 110/09, BGHZ 189, 182 Rn. 40). In diesem Rahmen ist
  87. das Berufungsurteil aber zu beanstanden.
  88. 10
  89. b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfordert die Beurteilung der Sachdienlichkeit eine Berücksichtigung, Bewertung und Abwägung
  90. der beiderseitigen Interessen. Dabei ist entscheidend, ob und inwieweit die Zulassung der geänderten, hier der im ordentlichen Verfahren fortzusetzenden,
  91. Klage den Streit im Rahmen des anhängigen Rechtsstreits ausräumt, so dass
  92. sich ein weiterer Prozess vermeiden lässt. Eine Klageänderung und ein Abstehen vom Urkundenprozess sind danach einerseits nicht sachdienlich, wenn ein
  93. völlig neuer Streitstoff zur Beurteilung und Entscheidung gestellt wird, ohne
  94. dass dafür das Ergebnis der bisherigen Prozessführung verwertet werden kann.
  95. Der Sachdienlichkeit steht andererseits grundsätzlich nicht entgegen, dass aufgrund der Klageänderung oder des Abstehens vom Urkundenprozess neue
  96. Parteierklärungen und gegebenenfalls Beweiserhebungen notwendig werden
  97. und die Erledigung des Prozesses verzögert wird (BGH, Urteile vom
  98. 13. April 2011 - XII ZR 110/09, aaO Rn. 41 und vom 4. Juli 2012
  99. - VIII ZR 109/11, NJW 2012, 2662 Rn. 20).
  100. 11
  101. c) Diesen Grundsätzen ist das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung
  102. nicht gerecht geworden.
  103. -6-
  104. 12
  105. aa) Die Sachdienlichkeit eines Abstehens vom Urkundenprozess im Berufungsverfahren kann nicht mit der Begründung verneint werden, den Parteien
  106. gehe eine Instanz verloren. Entschieden ist das für die in zweiter Instanz vorgenommene Klageänderung (BGH, Urteil vom 10. Januar 1985 - III ZR 93/83,
  107. NJW 1985, 1841, 1842; Senat, Urteil vom 27. Januar 2012 - V ZR 92/11, juris
  108. Rn. 18). Für das Abstehen vom Urkundenprozess im Berufungsverfahren gilt
  109. nichts anderes. Wäre es richtig, dass ein Abstehen vom Urkundenprozess nicht
  110. sachdienlich ist, weil es den Parteien eine Tatsacheninstanz im ordentlichen
  111. Verfahren nimmt, wäre es im Ergebnis stets von vornherein unzulässig. Das
  112. aber steht im Widerspruch zu der für die Klageänderung in § 533 ZPO getroffenen Wertung des Gesetzgebers und zu der daran ausgerichteten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der die Voraussetzungen für die Klageänderung im Berufungsverfahren auf das Abstehen vom Urkundenprozess im zweiten Rechtszug überträgt.
  113. 13
  114. bb) Ebenfalls nicht tragfähig ist die weitere Begründung des Berufungsgerichts, wegen der Komplexität der Vorgänge könne sich eine aufwendige Beweisaufnahme als erforderlich erweisen. Sie ist der Regelung in § 538 Abs. 2
  115. Satz 1 Nr. 1 ZPO zu den Voraussetzungen für eine Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz entlehnt, wird dort aber im Regelfall gerade nicht als
  116. Grund für eine Zurückverweisung anerkannt. Nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
  117. ZPO ist die Notwendigkeit einer umfangreichen oder aufwendigen Beweisaufnahme nur dann ein Grund für die Zurückverweisung, wenn sie auf einem wesentlichen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens beruht und eine Partei die
  118. Zurückverweisung beantragt. Wenn ein solcher Ausnahmefall - wie hier - nicht
  119. vorliegt, hat das Berufungsgericht auch eine umfangreiche und aufwendige Beweisaufnahme selbst durchzuführen. Aus der Notwendigkeit einer solchen Beweisaufnahme lässt sich deshalb kein Argument gegen die Sachdienlichkeit des
  120. Abstehens vom Urkundenprozess ableiten.
  121. -7-
  122. 14
  123. cc) Dessen Sachdienlichkeit lässt sich schließlich auch nicht mit der
  124. Komplexität der Vorgänge und damit begründen, dass der geltend gemachte
  125. Schadensersatzanspruch nach Grund und Höhe streitig ist. Auf solche Gesichtspunkte kommt es nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob die Zulassung auch nichturkundlicher Beweismittel dazu führt, dass dem Berufungsgericht ein völlig neuer Prozessstoff vorgelegt wird, für dessen Bewältigung die Ergebnisse der bisherigen
  126. Prozessführung nicht verwertet werden können. Das ist hier nicht der Fall. Das
  127. Urteil des Landgerichts stützt sich auf die Auslegung der urkundlich nachgewiesenen Verträge der Parteien einerseits und deren ebenso nachgewiesenen Korrespondenz andererseits. Der Streit der Parteien beruht im Kern auf einem unterschiedlichen Verständnis dieser Unterlagen. Ihre Bewertung durch das
  128. Landgericht kann im Berufungsverfahren vollständig verwertet werden. Dass
  129. die Parteien nach dem Abstehen vom Urkundenprozess weitere Beweismittel
  130. oder, wie die Prozessbevollmächtigte der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geltend gemacht hat, Gegenansprüche einführen können, ändert an dem Nutzen der bisherigen Prozessführung für das Berufungsverfahren nichts. Denn die von dem Landgericht verwerteten Verträge der Parteien bilden die Grundlage der wechselseitigen Ansprüche.
  131. 15
  132. 3. a) Der Senat kann die Frage der Sachdienlichkeit des Abstehens vom
  133. Urkundenprozess selbst entscheiden, da die hierbei zu berücksichtigenden Gesichtspunkte feststehen und zusätzliche Erkenntnisse nicht zu erwarten sind. Er
  134. bejaht die Sachdienlichkeit. Das Abstehen vom Urkundenprozess erlaubt es,
  135. die bisher nur urkundsbeweislich verwerteten Verträge der Parteien umfassend
  136. zu würdigen und damit den Streit der Parteien im laufenden Rechtsstreit zu einem endgültigen Abschluss zu bringen.
  137. -8-
  138. 16
  139. b) Ob für ein Abstehen vom Urkundenprozess im Berufungsverfahren
  140. zusätzlich die Voraussetzungen des § 533 Nr. 2 ZPO erfüllt sein müssen, hat
  141. der Bundesgerichtshof bislang dahinstehen lassen können, weil diese Voraussetzungen jeweils vorlagen (BGH, Urteil vom 13. April 2011 - XII ZR 110/09,
  142. BGHZ 189, 182 Rn. 34 und vom 4. Juli 2012 - VIII ZR 109/11, NJW 2012,
  143. 2662). Die Frage muss auch hier nicht entschieden werden.
  144. 17
  145. Zu den nach § 533 Nr. 2, § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu berücksichtigenden
  146. Tatsachen gehören auch solche, die in dem Urteil des erstinstanzlichen Gerichts trotz entsprechenden Parteivortrags nicht festgestellt sind, auf die es aber
  147. aus der maßgeblichen Sicht des Berufungsgerichts auf Grund einer Klageänderung oder - wie hier - eines Abstehens vom Urkundenprozess für die Entscheidung ankommt (BGH, Urteile vom 13. April 2011 - XII ZR 110/09, aaO Rn. 3437 und vom 4. Juli 2012 - VIII ZR 109/11, aaO Rn. 16). Um die Berücksichtigung solcher Tatsachen geht es hier. Die Parteien haben im ersten Rechtszug
  148. umfassend auch zu den nichturkundlichen Voraussetzungen für und Einwände
  149. gegen den geltend gemachten Anspruch vorgetragen.
  150. III.
  151. 18
  152. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif, da das Berufungsgericht
  153. die im ordentlichen Verfahren erforderlichen Feststellungen nicht getroffen hat.
  154. Diese werden im neuen Berufungsverfahren nachzuholen sein. Dabei wird es
  155. zunächst darauf ankommen, ob die Beklagte ihre Pflichten durch die außergerichtliche Geltendmachung eines unbegründeten Anspruchs (dazu Senat, Urteil
  156. -9-
  157. vom 16. Januar 2009 - V ZR 133/08, BGHZ 179, 238 und Beschluss vom
  158. 17. Oktober 2013 - V ZB 28/13, juris Rn. 10) oder in anderer Weise verletzt hat.
  159. Stresemann
  160. Lemke
  161. Roth
  162. Schmidt-Räntsch
  163. Brückner
  164. Vorinstanzen:
  165. LG München I, Entscheidung vom 17.02.2012 - 8 O 15057/11 OLG München, Entscheidung vom 20.12.2012 - 32 U 1210/12 -