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188 lines
9.9 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 209/14
  4. vom
  5. 9. Juli 2015
  6. in dem Rechtsstreit
  7. -2-
  8. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. Juli 2015 durch die
  9. Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch,
  10. den Richter Dr. Roth, die Richterin Dr. Brückner und den Richter Dr. Göbel
  11. beschlossen:
  12. Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss der
  13. 13. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom
  14. 14. Oktober 2014 aufgehoben.
  15. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
  16. des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  17. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  18. 21.920 €.
  19. Gründe:
  20. I.
  21. 1
  22. Die Parteien bilden eine Wohnungseigentümergemeinschaft. In der Eigentümerversammlung vom 24. November 2011 wurde unter TOP 6 ein Beschluss zur Modernisierung des Kabelanschlusses und der Neuverkabelung
  23. gefasst. Mit der Klage begehrt der Kläger die Feststellung der Nichtigkeit dieses
  24. Beschlusses. Das Amtsgericht hat ihr durch das den Beklagten am
  25. 30. September 2013 zugestellte Urteil stattgegeben.
  26. -3-
  27. 2
  28. Am 22. Oktober 2013 ist bei dem Landgericht eine auf dem Briefpapier
  29. des Prozessbevollmächtigten der Beklagten geschriebene Berufungsschrift eingegangen. Der Schriftsatz schließt mit dem maschinenschriftlichen Namenszusatz „(W. )“ und darunter „Rechtsanwalt“. Unmittelbar über diesem Text befinden sich an der für die Unterschrift vorgesehenen Stelle zwei nicht miteinander
  30. verbundene Linien, von denen die eine senkrecht und die andere waagerecht
  31. verläuft. Nach Hinweis des Vorsitzenden des Berufungsgerichts, es liege mangels Unterschrift keine ordnungsgemäße Berufung vor, haben die Beklagten
  32. wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen
  33. Stand beantragt und am 30. Dezember 2013 eine Berufungsbegründung eingereicht. Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde wollen sie die Aufhebung des angefochtenen
  34. Beschlusses und die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht erreichen.
  35. II.
  36. 3
  37. Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist die Berufung unzulässig, weil die
  38. Berufungsschrift nicht ordnungsgemäß unterzeichnet sei. Der Schriftzug bestehe aus leicht bogenförmigen Strichen, die zueinander nahezu im rechten Winkel
  39. gesetzt worden seien. An individuellen Merkmalen fehle es vollständig. Den
  40. Beklagten sei auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,
  41. da auch dieser Antrag nicht ordnungsgemäß unterzeichnet sei. Zudem mangele
  42. es an der Nachholung der versäumten Prozesshandlung innerhalb der Antragsfrist. Auch die am 30. Dezember 2013 eingegangene Berufungsbegründung
  43. weise als Unterschrift nur zwei nicht individualisierbare Linien auf, die den Anforderungen an eine Unterschrift nicht genügten. Dass es sich nicht um einen
  44. - wenngleich abgeschliffenen - individualisierbaren Schriftzug des Namens
  45. -4-
  46. „W.
  47. “ handele, zeige sich bereits daran, dass er weder dem unter der eides-
  48. stattlichen Versicherung noch den vorangegangenen vermeintlichen Unterzeichnungen der Schriftsätze ähnele.
  49. III.
  50. 4
  51. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
  52. 5
  53. 1. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen
  54. Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert
  55. (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die auf der unzutreffenden Annahme einer
  56. nicht ordnungsgemäß unterzeichneten Berufungsschrift beruhende Verwerfung
  57. der Berufung als unzulässig verletzt die Klägerin in ihren Verfahrensgrundrechten auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG und auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung
  58. mit dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2015
  59. - VI ZB 71/14, juris Rn. 4).
  60. 6
  61. 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Entgegen der Auffassung
  62. des Berufungsgerichts ist die Berufungsschrift ordnungsgemäß.
  63. 7
  64. a) Die Berufungsschrift muss als bestimmender Schriftsatz im Anwaltsprozess grundsätzlich von einem bei dem Berufungsgericht postulationsfähigen
  65. Rechtsanwalt eigenhändig unterschrieben sein (§ 130 Nr. 6, § 519 Abs. 4 ZPO).
  66. Eine diesen Anforderungen genügende Unterschrift verlangt einen die Identität
  67. des Unterzeichnenden ausreichend kennzeichnenden Schriftzug, der individuelle, charakteristische Merkmale, die die Nachahmung erschweren, aufweist, sich
  68. ohne lesbar sein zu müssen, als Wiedergabe eines Namens darstellt und die
  69. -5-
  70. Absicht einer vollen Unterschrift erkennen lässt, selbst wenn er nur flüchtig niedergelegt und von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet ist.
  71. Unter diesen Voraussetzungen kann selbst ein vereinfachter und nicht lesbarer
  72. Namenszug als Unterschrift anzuerkennen sein, wobei von Bedeutung ist, ob
  73. der Unterzeichner auch sonst in gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt.
  74. Dabei ist in Anbetracht der Variationsbreite, die selbst Unterschriften ein- und
  75. derselben Person aufweisen, jedenfalls bei gesicherter Urheberschaft ein großzügiger Maßstab anzulegen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2015
  76. - VI ZB 71/14, juris Rn. 7 f.; Senat, Beschluss vom 22. Januar 2009
  77. - V ZB 165/08, juris Rn. 3).
  78. 8
  79. b) Diesen Anforderungen genügt der Schriftzug des Prozessbevollmächtigten der Beklagten unter der Berufungsschrift. Dies hat der Senat ohne Bindung an die Ausführungen des Berufungsgerichts von Amts wegen zu prüfen
  80. (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2015 - VI ZB 71/14, juris Rn. 10 mwN). An
  81. der Urheberschaft von Rechtsanwalt W.
  82. gibt es keinen Zweifel. Sie ergibt sich
  83. aus dem unter dem Schriftzug befindlichen maschinenschriftlichen Zusatz. Dem
  84. Schriftzug fehlt es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch nicht
  85. an der erforderlichen Individualität und der erkennbaren Absicht einer vollen
  86. Unterschriftsleistung.
  87. 9
  88. aa) Das erste Element der Unterschrift beginnt rechts oben mit einem
  89. kleinen Haken und setzt sich als gekrümmte Linie nach links unten fort, wobei
  90. die Krümmung am unteren Ende zunimmt und mit einem erneuten Haken nach
  91. rechts endet. Aufgrund der Kenntnis des maschinenschriftlich mitgeteilten Namens lässt sich die Linie als vereinfachte Form des Buchstabens „W“ und damit
  92. des ersten Buchstabens des nur aus vier Buchstaben bestehenden Familiennamens von Rechtsanwalt W.
  93. deuten. Das zweite Element beginnt etwas
  94. höher als das Ende des ersten Elements mit einer kurzen Abwärtsbewegung
  95. -6-
  96. und setzt sich mit deutlich kräftigerer Strichführung als beim ersten Element im
  97. Wesentlichen horizontal nach rechts fort und kann als Andeutung der übrigen
  98. Buchstaben verstanden werden. Dass diese Buchstaben nicht lesbar sind, ist
  99. für die Annahme einer wirksamen Unterschrift unerheblich.
  100. 10
  101. Beide Elemente sind von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet, weisen jedoch besondere Merkmale auf, die keinen ernsthaften Zweifel daran aufkommen lassen, dass es sich um eine von ihrem Urheber zum
  102. Zwecke der Individualisierung und Legitimierung geleistete Unterschrift handelt.
  103. Sie entsprechen ausweislich der Akten der Art, in der Rechtsanwalt W.
  104. von
  105. ihm gefertigte Schriftsätze üblicherweise unterschreibt bzw. bislang unterschrieben hat (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2014 - IV ZB 32/14, juris
  106. Rn. 11). Dass sich die Unterschriften auf dem Wiedereinsetzungsgesuch und
  107. der Berufungsbegründung hiervon unterscheiden, gebietet keine abweichende
  108. Beurteilung, weil es sich hierbei erkennbar nur um eine Reaktion auf den Hinweis des Berufungsgerichts auf die unzureichende Unterschrift unter der Berufungsschrift handelte.
  109. 11
  110. bb) Die Linien können auch nicht als bloße Namensabkürzung (Handzeichen, Paraphe) gewertet werden. Abgesehen davon, dass bei einem nur aus
  111. wenigen Buchstaben bestehenden Namen eine Unterscheidung zwischen bloßer Paraphe und vollem Namenszug ohnehin nur schwer zu treffen ist, spricht
  112. vorliegend der Umstand, dass das zweite Element des Schriftzuges deutlich
  113. mehr Raum einnimmt als das unter der Namenswiedergabe befindliche Wort
  114. „Rechtsanwalt“ eindeutig für den Willen, eine volle Unterschrift zu leisten. Eine
  115. einzelne leicht gekrümmte bzw. geschwungene Linie genügt zur Darstellung
  116. des dem Anfangsbuchstaben folgenden Rests des Namens (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Februar 2010 - VIII ZB 67/09, juris Rn. 12).
  117. -7-
  118. 12
  119. 3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 577 Abs. 3 ZPO).
  120. 13
  121. Dass die Berufungsbegründung erst am 30. Dezember 2013 bei dem Berufungsgericht eingegangen ist, während die zweimonatige Berufungsbegründungsfrist des § 520 Abs. 2 ZPO aufgrund der am 30. September 2013 erfolgten Zustellung des angegriffenen Urteils bereits mit dem 2. Dezember 2013
  122. (30. November 2013: Samstag) abgelaufen war, macht die Berufung nicht unzulässig. Auch dies hat der Senat von Amts wegen zu prüfen. Ausweislich der
  123. Akten haben die Beklagten am 2. Dezember 2013 und damit innerhalb der Berufungsbegründungsfrist einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 2. Januar 2014 gestellt. Ob über diesen Antrag, der unter
  124. Berücksichtigung der obigen Ausführungen - ebenso wie die Berufungsbegründung vom 30. Dezember 2013 - eine ordnungsgemäße Unterschrift aufweist,
  125. entschieden worden ist, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Zwar hat sich
  126. der Prozessbevollmächtigte der Beklagten eingangs der Berufungsbegründung
  127. für die „gewährte Fristverlängerung“ bedankt. Eine Dokumentation in den Akten
  128. findet sich jedoch nicht. Fehlt es an einer Entscheidung über den Fristverlängerungsantrag, muss dies von dem hierfür gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO
  129. zuständigen Vorsitzenden nachgeholt werden (vgl. BGH, Beschluss vom
  130. -8-
  131. 5. April 2001 - VII ZB 37/00, NJW-RR 2001, 931; Senat, Beschluss vom
  132. 29. April 2004 - V ZB 33/03, FamRZ 2004, 1189).
  133. Stresemann
  134. Schmidt-Räntsch
  135. Brückner
  136. Roth
  137. Göbel
  138. Vorinstanzen:
  139. AG Gießen, Entscheidung vom 20.09.2013 - 46 C 22/12 LG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 14.10.2014 - 2-13 S 195/13 -