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183 lines
5.6 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 141/11
  4. vom
  5. 1. Juli 2011
  6. in der Abschiebungshaftsache
  7. -2 -
  8. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 1. Juli 2011 durch den
  9. Vorsitzenden
  10. Richter
  11. Prof.
  12. Dr.
  13. Krüger,
  14. die
  15. Richter
  16. Dr. Lemke
  17. und
  18. Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, die Richterin Dr. Stresemann und den Richter
  19. Dr. Czub
  20. beschlossen:
  21. Die Vollziehung der mit Beschluss des Amtsgerichts Rathenow
  22. vom
  23. 7. April
  24. 2011
  25. angeordneten
  26. und
  27. mit
  28. Beschluss
  29. der
  30. 12. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam vom 20. April 2011
  31. aufrechterhaltenen Sicherungshaft wird einstweilen eingestellt.
  32. Gründe:
  33. I.
  34. 1
  35. Der Betroffene, ein vietnamesischer Staatsangehöriger, reiste am
  36. 6. März 2009 ohne erforderliche Einreisepapiere erstmals in das Bundesgebiet
  37. ein. Sein Asylantrag wurde - bestandskräftig - als offensichtlich unbegründet
  38. zurückgewiesen.
  39. Einem
  40. Termin
  41. zur
  42. Vorführung
  43. bei
  44. Vertretern
  45. der
  46. vietnamesischen Botschaft blieb er unentschuldigt fern. Spätestens seit dem
  47. 20. Juni 2010 ist er "unbekannt" verzogen gewesen.
  48. 2
  49. Aufgrund einer Fahndungsausschreibung wurde der Betroffene am
  50. 6. April 2011 durch die Polizei festgenommen. Auf Antrag der beteiligten
  51. Behörde von demselben Tag hat das Amtsgericht am 7. April 2011 gegen den
  52. -3 -
  53. Betroffenen die Haft zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von drei
  54. Monaten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Die
  55. Beschwerde
  56. ist
  57. ohne
  58. Erfolg
  59. geblieben.
  60. Dagegen
  61. richtet
  62. sich
  63. die
  64. Rechtsbeschwerde, mit der der Betroffene auch die einstweilige Aussetzung der
  65. Vollziehung der Sicherungshaft beantragt.
  66. II.
  67. 3
  68. Nach Ansicht des Beschwerdegerichts ist der Haftantrag zulässig und
  69. begründet. Es lägen die in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG genannten Haftgründe vor.
  70. III.
  71. 4
  72. 1. Der Aussetzungsantrag ist in entsprechender Anwendung von § 64
  73. Abs. 3 FamFG statthaft (st. Rspr., siehe nur Senat, Beschluss vom 18. August
  74. 2010 - V ZB 211/10, InfAuslR 2010, 440).
  75. 5
  76. 2. Er ist auch begründet. Bei der gebotenen summarischen Prüfung ist
  77. davon auszugehen, dass die Rechtsbeschwerde Erfolg haben wird, weil die
  78. Haftanordnung und die Entscheidung des Beschwerdegerichts den Anspruch
  79. des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt haben dürften.
  80. 6
  81. 3. Die Haftanordnung erscheint jedenfalls deshalb rechtswidrig, weil der
  82. Betroffene ausweislich des Protokolls über seine Anhörung vor dem Amtsgericht erst zu Beginn der Anhörung "mit dem Antrag der Ausländerbehörde vom
  83. heutigen Tage vertraut gemacht" und ihm der Antrag nicht ausgehändigt worden ist. Er war deshalb nicht in der Lage, zu der Begründung des Haftantrags
  84. ausreichend Stellung zu nehmen.
  85. -4 -
  86. 7
  87. a) Der Zeitpunkt, zu dem das Gericht des ersten Rechtszugs dem Betroffenen nach § 23 Abs. 2 FamFG den Haftantrag der beteiligten Behörde zuzuleiten hat, bestimmt sich einerseits danach, was zu der dem Richter im Freiheitsentziehungsverfahren obliegenden Sachaufklärung erforderlich ist, andererseits danach, was den Betroffenen in die Lage versetzt, das ihm von Verfassungs wegen zukommende rechtliche Gehör auch effektiv wahrzunehmen. Ist
  88. der Betroffene ohne vorherige Kenntnis des Antragsinhalts nicht in der Lage,
  89. zur Sachaufklärung beizutragen und seine Rechte wahrzunehmen, muss ihm
  90. der Antrag vor der Anhörung übermittelt werden; dagegen genügt die Eröffnung
  91. des Haftantrags zu Beginn der Anhörung, wenn dieser einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betrifft, zu dem der Betroffene auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne weiteres auskunftsfähig ist (Senat,
  92. Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 330 Rn. 16 mwN).
  93. 8
  94. b) Ob dieser zweite Fall hier vorliegt, ist zweifelhaft. Den Zweifeln
  95. braucht jedoch nicht nachgegangen zu werden. Denn dem Protokoll über die
  96. Anhörung ist nicht zu entnehmen, dass der Haftantrag dem Betroffenen übersetzt und damit der gesamte Antragsinhalt bekannt gegeben worden ist. Eine
  97. solche Bekanntgabe ist jedoch Voraussetzung für die ausreichende Gewährung
  98. rechtlichen Gehörs. Anderenfalls - und so liegt es hier - kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Betroffene nicht in der Lage war, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde (vgl. § 417 Abs. 2 FamFG) zu äußern.
  99. 9
  100. 4. Nach dem Akteninhalt ist dem Betroffenen der Haftantrag auch nicht
  101. später ausgehändigt worden. Die Akteneinsicht, durch die er Kenntnis von dem
  102. vollständigen Antrag hätte erlangen können, ist seinem damaligen Verfahrensbevollmächtigten erst im Laufe der Anhörung vor dem Beschwerdegericht angeboten worden. Dass dieser sich darauf nicht eingelassen hat, ist verständlich
  103. und kann dem Betroffenen nicht zum Nachteil gereichen. Denn das Beschwerdegericht wollte nach dem Protokoll der Anhörung nicht etwa Akteneinsicht und
  104. -5 -
  105. dem Betroffenen eine Frist zur Stellungnahme gewähren, sondern - wie geschehen - sogleich am Schluss der Anhörung eine Entscheidung treffen. Dass
  106. diese Verfahrensweise insbesondere angesichts des Umstands, dass der
  107. Haftantrag zunächst dem Betroffenen hätte übersetzt werden müssen, dessen
  108. Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs eklatant verletzt hat, liegt auf der
  109. Hand.
  110. 10
  111. 5. Das Fehlen der ordnungsgemäßen Anhörung des Betroffenen in beiden Vorinstanzen drückt der gleichwohl angeordneten und aufrechterhaltenen
  112. Haft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf (vgl. Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 154 Rn. 16). Daher ist die weitere Vollziehung der Haftanordnung auszusetzen.
  113. Krüger
  114. Lemke
  115. Stresemann
  116. Schmidt-Räntsch
  117. Czub
  118. Vorinstanzen:
  119. AG Rathenow, Entscheidung vom 07.04.2011 - 7 XIV V 4/11 LG Potsdam, Entscheidung vom 20.04.2011 - 12 T 196/11 -