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241 lines
9.8 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. V ZB 127/12
  4. vom
  5. 10. Oktober 2013
  6. in der Zurückschiebungshaftsache
  7. Nachschlagewerk:
  8. ja
  9. BGHZ:
  10. nein
  11. BGHR:
  12. ja
  13. FamFG § 68 Abs. 3 Satz 2
  14. Das Beschwerdegericht kann, sofern die Voraussetzungen des § 68 Abs. 3 Satz 2
  15. FamFG im Übrigen vorliegen, von der persönlichen Anhörung des Betroffenen nur
  16. absehen, wenn die erste Instanz diese verfahrensfehlerfrei durchgeführt hat. Daran
  17. ändert auch ein von dem Betroffenen erklärter Verzicht auf eine erneute Anhörung
  18. nichts.
  19. BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2013 - V ZB 127/12 - LG Saarbrücken
  20. AG Saarbrücken
  21. -2-
  22. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Oktober 2013 durch die
  23. Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, den Richter Dr. Roth, die Richterinnen
  24. Dr. Brückner und Weinland und den Richter Dr. Kazele
  25. beschlossen:
  26. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass
  27. der Beschluss des Amtsgerichts Saarbrücken vom 22. April 2012
  28. und der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 29. Mai 2012 ihn in seinen Rechten verletzt haben.
  29. Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur
  30. zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen
  31. des Betroffenen in allen Instanzen werden der Bundesrepublik
  32. Deutschland auferlegt.
  33. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
  34. 3.000 €.
  35. Gründe:
  36. I.
  37. 1
  38. Der Betroffene, ein eritreischer Staatsangehöriger, wurde am 22. April
  39. 2012 am Bahnhof Saarbrücken festgenommen, weil er nicht im Besitz der für
  40. die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erforderlichen Papiere war. Ein
  41. EURODAC-Abgleich ergab Treffer für Italien, Frankreich und die Niederlande.
  42. Mit Bescheid vom 22. April 2012 verfügte die beteiligte Behörde die Zurück-
  43. - 3 -
  44. schiebung des Betroffenen nach Italien oder in einen anderen Staat, in den er
  45. einreisen dürfe.
  46. 2
  47. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht nach Anhörung
  48. des Betroffenen mit Beschluss vom 22. April 2012 Zurückschiebungshaft bis
  49. zum 21. Juli 2012 angeordnet. Das Landgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der
  50. er die Feststellung erreichen will, dass die Beschlüsse der Vorinstanzen ihn in
  51. seinen Rechten verletzt haben.
  52. II.
  53. 3
  54. Das Beschwerdegericht meint, der Haftantrag genüge den gesetzlichen
  55. Anforderungen. Die Aushändigung des Haftantrages an den Betroffenen sei
  56. entbehrlich gewesen. Nur wenn der Betroffene im Hinblick auf die Besonderheiten des jeweiligen Falles ohne vorherige Kenntnis des Inhalts des Haftantrages
  57. nicht in der Lage sei, zur Sachaufklärung beizutragen, müsse ihm der Antrag
  58. vor der Anhörung übermittelt werden. In Fällen wie dem vorliegenden, die einen
  59. einfachen und überschaubaren Sachverhalt beträfen, genüge die Eröffnung des
  60. Haftantrages zu Beginn der Anhörung. Das sei hier erfolgt. Dem Betroffenen sei
  61. vor Beginn der Anhörung der Haftantrag durch telefonische Beteiligung der
  62. Dolmetscherin bekannt gegeben und übersetzt worden. Der Betroffene habe
  63. auch erklärt, dass er die Ausführungen verstanden habe und wisse, dass er
  64. seinen Asylantrag in Italien weiter verfolgen müsse.
  65. III.
  66. 4
  67. Die Rechtsbeschwerde ist nach Erledigung der Hauptsache mit dem
  68. Feststellungsantrag analog § 62 FamFG ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3
  69. Nr. 3 FamFG statthaft (vgl. nur Senat, Beschluss vom 29. April 2010
  70. - 4 -
  71. - V ZB 218/09, InfAuslR 2010, 359, 360), form- und fristgerecht gemäß § 71
  72. FamFG eingelegt und hat Erfolg.
  73. 5
  74. 1. Der Betroffene ist durch die Haftanordnung des Amtsgerichts jedenfalls deshalb in seinen Rechten verletzt worden, weil ihm der Haftantrag nicht
  75. ausgehändigt worden ist. Zwar kann ihm der Antrag erst zu Beginn der Anhörung eröffnet werden, wenn er einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt
  76. betrifft, zu welchem er auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne weiteres auskunftsfähig ist. Daraus folgt jedoch nicht, dass sich
  77. der Haftrichter in einem solchen Fall darauf beschränken darf, den Inhalt des
  78. Haftantrags mündlich vorzutragen. Vielmehr muss dem Betroffenen in jedem
  79. Fall eine Ablichtung des Antrags ausgehändigt, erforderlichenfalls (mündlich)
  80. übersetzt und dies in dem Anhörungsprotokoll oder an einer anderen Aktenstelle schriftlich dokumentiert werden (Senat, Beschluss vom 14. Juni 2012 - V ZB
  81. 284/11, InfAuslR 2012, 369 Rn. 9; Beschluss vom 6. Dezember 2012 - V ZB
  82. 142/12, InfAuslR 2013, 157 Rn. 5). An der Aushändigung einer Ablichtung des
  83. Haftantrages fehlt es hier. Dem Protokoll über die Anhörung des Betroffenen
  84. durch das Amtsgericht lässt sie sich nicht entnehmen.
  85. 6
  86. 2. Die daraus folgende Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
  87. (Art. 103 Abs. 1 GG; vgl. Senat, Beschluss vom 11. Oktober 2012
  88. - V ZB 274/11, FGPrax 2013, 40 Rn. 6) ist auch im Beschwerdeverfahren nicht
  89. behoben worden.
  90. 7
  91. Eine Heilung des Verstoßes - die mit Wirkung für die Zukunft möglich wäre
  92. (vgl.
  93. Senat,
  94. Beschluss
  95. vom
  96. 15. September
  97. 2011
  98. - V ZB 136/11,
  99. FGPrax 2011, 318 Rn. 8) - ist in der Beschwerdeinstanz nicht eingetreten. Zwar
  100. ist dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen nach der Einlegung der
  101. Beschwerde der Haftantrag übermittelt worden. Die Heilung setzt aber darüber
  102. - 5 -
  103. hinaus eine Anhörung voraus, in der sich der Betroffene zu dem ihm nunmehr
  104. bekannten Haftantrag äußern kann (vgl. Senat, Beschluss vom 20. März 2012
  105. - V ZB 59/12, Rn. 12, juris). Das Beschwerdegericht hat eine solche nicht
  106. durchgeführt. Der Umstand, dass der Betroffene auf die erneute persönliche
  107. Anhörung verzichtet hat, machte diese nicht entbehrlich.
  108. 8
  109. Nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG kann das Beschwerdegericht von der
  110. Durchführung eines Termins, einer mündlichen Verhandlung oder einzelner
  111. Verfahrenshandlungen absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurden und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind. Obwohl das Beschwerdeverfahren als volle Tatsacheninstanz ausgestaltet ist, wird es in das pflichtgemäße Ermessen des Beschwerdegerichts gestellt, in welchem Umfang es Ermittlungen und Beweiserhebungen wiederholt. Die Vorschrift dient der effizienten Nutzung gerichtlicher
  112. Ressourcen in der Beschwerdeinstanz, indem unnötige doppelte Beweisaufnahmen verhindert werden und auf die Durchführung eines Termins verzichtet
  113. werden kann, wenn die Sache bereits in der ersten Instanz im erforderlichen
  114. Umfang mit den Beteiligten erörtert wurde (BGH, Beschluss vom 2. März 2011
  115. - XII ZB 346/10, NJW 2011, 2365 Rn. 12 unter Hinweis auf BT-Drucks. 16/6308
  116. S. 207 re. Sp.). § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG räumt daher auch in einem Freiheitsentziehungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von
  117. einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen, etwa wenn die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen nur kurze Zeit zurückliegt, sich nach dem
  118. Akteninhalt keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder rechtliche
  119. Gesichtspunkte ergeben, das Beschwerdegericht das in den Akten dokumentierte Ergebnis der erstinstanzlichen Anhörung nicht abweichend werten will und
  120. es auf den persönlichen Eindruck des Gerichts von dem Betroffenen nicht ankommt. Macht das Beschwerdegericht von dieser Möglichkeit Gebrauch, muss
  121. es in seiner Entscheidung die Gründe hierfür in nachprüfbarer Weise darlegen
  122. - 6 -
  123. (zum
  124. Unterbringungsverfahren:
  125. BGH,
  126. Beschluss
  127. vom
  128. 2.
  129. März
  130. 2011
  131. - XII ZB 346/10, aaO Rn. 13 mwN). Auch ein ausdrücklich erklärter Verzicht des
  132. Betroffenen auf eine erneute persönliche Anhörung kann in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein, da der Betroffene hierdurch zu erkennen gibt,
  133. dass von einer erneuten Anhörung aus seiner Sicht keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.
  134. 9
  135. Allerdings kann in einem Beschwerdeverfahren nicht von einer Wiederholung solcher Verfahrenshandlungen abgesehen werden, bei denen das Gericht des ersten Rechtszugs zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat
  136. (BGH, Beschluss vom 2. März 2011 - XII ZB 346/10, aaO Rn. 15 mwN; Senat,
  137. Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, juris Rn. 13; Beschluss vom
  138. 8. Februar 2012 - V ZB 260/11, juris Rn. 6). In diesem Fall muss das Beschwerdegericht - vorbehaltlich der Möglichkeiten nach § 69 Abs. 1 Satz 2
  139. und 3 FamFG, die in Haftsachen wegen des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitenden Beschleunigungsgrundsatzes (BVerfGE 20, 45, 49 f.; 46, 194, 195)
  140. praktisch nicht zum Tragen kommen - den betreffenden Teil des Verfahrens
  141. nachholen. Dies gilt insbesondere dann, wenn das erstinstanzliche Gericht bei
  142. der Anhörung des Betroffenen zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat
  143. (zum
  144. Unterbringungsverfahren:
  145. BGH,
  146. Beschluss
  147. vom
  148. 2.
  149. März
  150. 2011
  151. - XII ZB 346/10, aaO Rn. 14 mwN). Die Anhörung des Betroffenen in Freiheitsentziehungssachen nach § 420 Abs. 1 FamFG dient der Verwirklichung der in
  152. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG garantierten Rechte eines Betroffenen. Danach darf
  153. die Freiheit einer Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und unter
  154. Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Verfahrensfehler bei der Durchführung der Anhörung verletzen den Betroffenen deshalb nicht nur in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus
  155. Art. 103 Abs. 1 GG, sondern auch in seinem grundrechtsgleichen Recht aus
  156. - 7 -
  157. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2011
  158. - XII ZB 346/10, aaO Rn. 15 mwN).
  159. 10
  160. Nachdem die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen an einem wesentlichen Verfahrensmangel litt, konnte das Beschwerdegericht daher trotz des
  161. von dem Betroffenen erklärten Verzichts nicht von dessen erneuter Anhörung
  162. absehen.
  163. IV.
  164. 11
  165. Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430
  166. FamFG, Art. 5 EMRK analog, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO, die Festsetzung des
  167. Beschwerdewerts aus § 128c Abs. 2 KostO, § 30 Abs. 2 KostO.
  168. Stresemann
  169. Roth
  170. Weinland
  171. Brückner
  172. Kazele
  173. Vorinstanzen:
  174. AG Saarbrücken, Entscheidung vom 22.04.2012 - 7 XIV 32/12 LG Saarbrücken, Entscheidung vom 29.05.2012 - 5 T 237/12 -