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  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 1 AR 266/03
  4. StB 4/03
  5. vom
  6. 25. April 2003
  7. in dem Strafvollstreckungsverfahren
  8. gegen
  9. wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit u. a.
  10. -2-
  11. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführerin am 25. April 2003 gemäß § 454 Abs. 3
  12. Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 Nr. 5 StPO beschlossen:
  13. 1. Auf die sofortige Beschwerde der Verurteilten wird der
  14. Beschluß des Kammergerichts in Berlin vom 3. März
  15. 2003 aufgehoben.
  16. 2. Die Vollstreckung der Reste der Freiheitsstrafen aus
  17. dem Gesamtstrafenbeschluß des Kammergerichts in
  18. Berlin vom 25. März 1998 - (1 a) 1 OJs 24/94 (21/96) und dem Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 24. Februar 2000 - 137-779/98 3101 Js 170/98 - wird zur Bewährung ausgesetzt.
  19. Die Bewährungszeit beträgt drei Jahre.
  20. Die Verurteilte wird für die Dauer der Bewährungszeit
  21. der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt.
  22. Sie hat jeden Wechsel ihres Wohnsitzes dem für die
  23. Bewährungsaufsicht zuständigen Gericht im voraus mitzuteilen.
  24. Sie hat jede Kontaktaufnahme zu Frau
  25. , zu unterlassen.
  26. B.
  27. -3-
  28. 3. Die Belehrung über die Strafaussetzung zur Bewährung
  29. wird der Vollzugsanstalt übertragen.
  30. 4. Die Kosten des Rechtsmittels und die dadurch entstandenen notwendigen Auslagen der Verurteilten hat die
  31. Staatskasse zu tragen.
  32. Gründe:
  33. Das Kammergericht hat gegen die Verurteilte am 6. Februar 1997 wegen
  34. geheimdienstlicher Agententätigkeit eine Freiheitsstrafe von einem Jahr verhängt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Danach hat das
  35. Amtsgericht Berlin-Tiergarten gegen die Verurteilte am 5. Juni 1997 wegen
  36. Beleidigung in drei Fällen auf eine Gesamtgeldstrafe von 40 Tagessätzen und
  37. am 19. September 1997 wegen gefährlicher Körperverletzung auf eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von drei Monaten erkannt. Aus den Einzelstrafen dieser drei Verurteilungen hat das Kammergericht mit Beschluß vom
  38. 25. März 1998 nachträglich eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei
  39. Monaten gebildet und deren Vollstreckung ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt. Schließlich hat das Amtsgericht Hamburg gegen die Verurteilte am
  40. 24. Februar 2000 wegen vorsätzlicher Körperverletzung "in maximal 40 Fällen",
  41. davon in vier Fällen in Tateinheit mit Beleidigung eine Gesamtfreiheitsstrafe
  42. von neun Monaten ausgesprochen. Daraufhin ist die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Beschluß vom 25. März 1998 vom Kammergericht widerrufen
  43. worden. Die Verurteilte hat bis 1. März 2003 die Gesamtfreiheitsstrafen aus
  44. -4-
  45. dem Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 24. Februar 2000 und dem Gesamtstrafenbeschluß des Kammergerichts vom 25. März 1998 zu zwei Dritteln
  46. verbüßt. Mit Beschluß vom 3. März 2003 hat es das Kammergericht abgelehnt,
  47. die Vollstreckung der beiden Restfreiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen.
  48. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Verurteilten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
  49. Das Kammergericht ist - unter weitgehender Bezugnahme auf seinen die
  50. Halbstrafenbewährung versagenden Beschluß vom 15. Januar 2003 - der Auffassung, es könne unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit nicht verantwortet werden, die Vollstreckung der beiden Strafreste
  51. zur Bewährung auszusetzen (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB). Zwar sei bei
  52. demjenigen, der sich erstmals im Strafvollzug befinde, im allgemeinen davon
  53. auszugehen, daß der Vollzug ihn beeindruckt habe und der Begehung weiterer
  54. Straftaten entgegenwirke. Ein kritischerer Maßstab sei aber dann anzulegen,
  55. wenn der Verurteilte bereits einmal bewährungsbrüchig geworden sei. In diesem Fall setze eine günstige Prognose das Vorhandensein von Tatsachen voraus, die es überwiegend wahrscheinlich machen, daß der Verurteilte die kritische Probe in Freiheit wirklich bestehe. Hierzu müsse der Verurteilte Tatsachen schaffen, die seine Befähigung auswiesen, künftigen Tatanreizen zu widerstehen. Dazu zähle etwa die Beseitigung von Defiziten im Sozialverhalten,
  56. vor allem aber die Behebung von tatursächlichen Persönlichkeitsmängeln, wie
  57. sie bei der Verurteilten im Urteil des Amtsgerichts Hamburg in Form einer narzißtischen Persönlichkeitsstörung festgestellt seien. Hieran fehle es. Die Verurteilte sei bisher nicht bereit gewesen, sich mit ihrem kriminellen Verhalten
  58. nachhaltig auseinanderzusetzen und dieses aufzuarbeiten. Ebensowenig habe
  59. sie sich mit ihrer Lebensgeschichte sowie ihren Persönlichkeitsmängeln be-
  60. -5-
  61. schäftigt und etwa Strategien entwickelt, mit kränkenden Erfahrungen besser
  62. als in der Vergangenheit und vor allem auf legale Weise umzugehen. Hierzu
  63. genüge das einmalige, nach dem Beschluß vom 15. Januar 2003 mit der Anstaltspsychologin geführte Gespräch nicht. Auch sei sie nicht bereit, vor Entlassung aus der Strafhaft das künftige Verhältnis zu ihrem Ehemann zu klären.
  64. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, daß die Verurteilte psychisch hinreichend stabilisiert sei, um - vor allem in von ihr als kränkend empfundenen
  65. Situa-
  66. tionen - nicht erneut straffällig zu werden.
  67. Diese Beurteilung vermag der Senat nicht zu teilen. Das Kammergericht
  68. hat wesentliche Gesichtspunkte, die gemäß § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB bei der
  69. Entscheidung über die Aussetzung des Vollzugs der Strafreste zur Bewährung
  70. zu beachten sind, nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht in seine Bewertung einbezogen und daher letztlich überspannte Anforderungen an eine positive Prognoseentscheidung im Sinne des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB gestellt.
  71. Zutreffend ist allerdings der Ausgangspunkt des Kammergerichts. Verbüßt der Verurteilte erstmals eine Freiheitsstrafe und gibt seine Führung während des Vollzugs keinen Anlaß zu gewichtigen Beanstandungen, so kann im
  72. Regelfall (s. aber auch § 454 Abs. 2 StPO) davon ausgegangen werden, daß
  73. die Strafe ihre spezialpräventiven Wirkungen entfaltet hat und es verantwortbar
  74. ist, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 51.
  75. Aufl. § 57 Rdn. 12). Soweit das Kammergericht in Fällen, in denen der erstmaligen Strafverbüßung bereits ein Bewährungsbruch vorausgegangen ist, demgegenüber generell einen engeren Beurteilungsmaßstab anlegen will und das
  76. -6-
  77. Vorliegen zusätzlicher Tatsachen verlangt, die eine künftige straffreie Führung
  78. des Verurteilten "überwiegend wahrscheinlich machen", kann der Senat dem
  79. jedoch nicht in dieser Allgemeinheit folgen.
  80. Im Gegensatz zu § 56 Abs. 1 StGB stellt die nach § 57 Abs. 1 Satz 1
  81. Nr. 2 StGB zu treffende Prognoseentscheidung nicht auf die Erwartung ab, der
  82. Verurteilte werde ohne die Einwirkung - weiteren - Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Haftentlassung verantwortet
  83. werden kann. Dieser unterschiedliche Maßstab beruht darauf, daß der Verurteilte die gegen ihn verhängte Strafe bereits teilweise als Freiheitsentzug erlitten hat und im Strafvollzug resozialisierend auf ihn eingewirkt worden ist (Stree
  84. in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 57 Rdn. 10). Entscheidend für die Prognose nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB ist demgemäß eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des erlittenen Strafvollzugs für das
  85. künftige Leben des Verurteilten in Freiheit einerseits und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits. Isolierte Aussagen über die Wahrscheinlichkeit künftiger Straflosigkeit des Verurteilten sind daher wenig hilfreich. Vielmehr muß stets der Bezug zu den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit im Auge behalten werden. Dies bedeutet, daß je nach der Schwere
  86. der Straftaten, die vom Verurteilten nach Erlangung der Freiheit im Falle eines
  87. Bewährungsbruchs zu erwarten stünden (vgl. § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB), unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Wahrscheinlichkeit für ein künftiges strafloses Leben der Verurteilten zu stellen sind (Stree aaO Rdn. 15). Dabei muß berücksichtigt werden, inwieweit einem Rückfallrisiko durch Auflagen
  88. und Weisungen (§ 57 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 i. V. m. §§ 56 b, 56 c StGB) entgegengewirkt werden kann (Stree aaO Rdn. 14). Das Gewicht der bei einem
  89. Rückfall drohenden Rechtsgutsverletzung wird im Regelfall wiederum nach Art
  90. -7-
  91. und Schwere der Straftaten zu beurteilen sein, die der Verurteilte bereits begangen hat. All dies hat das Kammergericht nicht ausreichend in den Blick genommen.
  92. Die Bestrafung der Verurteilten wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit beruhte auf ihrer Zusammenarbeit mit dem Ministerium der Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Es muß nicht ernsthaft befürchtet werden, daß die
  93. Verurteilte zukünftig für einen anderen Geheimdienst erneut in gleicher Weise
  94. tätig werden könnte. Hiervon geht auch das Kammergericht aus. Damit beschränkt sich die von § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB geforderte Prognose auf
  95. die Frage, ob zu erwarten steht, daß die Wirkungen des Strafvollzugs die Verurteilte von weiteren Beleidigungs- und Körperverletzungsdelikten abhalten
  96. werden und welche Delikte dieser Art zu erwarten stünden, falls die Verurteilte
  97. rückfällig würde; denn Anhaltspunkte dafür, daß die Verurteilte in sonstiger
  98. Weise straffällig werden könnte, bestehen nicht.
  99. Die von ihr begangenen Körperverletzungs- und Beleidigungsdelikte
  100. werden dadurch gekennzeichnet, daß sie aus familiären Konfliktsituationen
  101. entstanden sind. Den Urteilen des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten vom 5. Juni
  102. und 19. September 1997 liegen Taten der Verurteilten gegen ihren zwischenzeitlich verstorbenen Schwiegervater bzw. einen Bekannten des Schwiegervaters zugrunde, die ihre Wurzel in Erbstreitigkeiten hatten. Die gefährliche Körperverletzung bestand in Schlägen, die die Verurteilte ihrem Schwiegervater
  103. mit einem Regenschirm versetzte. Bei den vom Amtsgericht Hamburg abgeurteilten Taten handelte es sich um "Telefonterror" der Verurteilten gegen die
  104. Geliebte ihres Ehemannes und deren Mutter, der bei diesen zu gesundheitlichen Schäden führte. Diese Taten der Verurteilten sind nicht der schwereren
  105. -8-
  106. Kriminalität zuzurechnen. Sie hat die erstmalige Strafhaft - überwiegend im offenen
  107. Voll-
  108. zug - ohne besondere Beanstandungen durchlaufen und auch die ihr gewährten Haftlockerungen nicht mißbraucht. Daß der Vollzug seine resozialisierenden Wirkungen entfaltet hat, liegt demnach nahe. Demgegenüber rechtfertigt
  109. es die narzißtische Persönlichkeit der Verurteilten nicht, die Aussetzung des
  110. Vollzugs der Strafreste zur Bewährung zu versagen. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß im Urteil des Amtsgerichts Hamburg eine erhebliche Verminderung
  111. der Steuerungsfähigkeit der Verurteilten aufgrund dieser Persönlichkeitsstörung lediglich in Anwendung des Zweifelssatzes angenommen wurde. Die übrigen Urteile erwähnen eine derartige Störung nicht. Sie darf demgemäß nicht
  112. überbewertet und isoliert von den Wirkungen des Strafvollzugs betrachtet werden.
  113. Da die Taten der Verurteilten aus spezifischen Konfliktsituationen erwachsen sind und keine Anzeichen dafür bestehen, daß im Falle eines Bewährungsbruchs schwerwiegendere Taten zu erwarten stünden, überspannt das
  114. Kammergericht daher die Anforderungen, wenn es allein wegen des Bewährungsversagens vor der Strafverbüßung die Aussetzung des Vollzugs der Strafreste zur Bewährung davon abhängig macht, daß sich die Verurteilte aktiv um
  115. eine Bewältigung ihrer Persönlichkeitsdefizite bemüht oder gar ihre Eheprobleme noch vor einer Entlassung aus der Haft löst. Vielmehr können die bestehenden Rückfallrisiken durch die Bestellung eines Bewährungshelfers (§ 57
  116. Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1, § 56 d StGB) und die Weisung an die Verurteilte, jede
  117. Kontaktaufnahme zu der - ehemaligen - Geliebten ihres Ehemannes zu unterlassen (§ 57 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1, § 56 c Abs. 2 Nr. 3 StGB), so weit einge-
  118. -9-
  119. dämmt werden, daß auch unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der
  120. Allgemeinheit die bedingte Haftentlassung verantwortet werden kann.
  121. Tolksdorf
  122. Winkler
  123. Becker