Search on legal documents using Tensorflow and a web_actix web interface
You can not select more than 25 topics Topics must start with a letter or number, can include dashes ('-') and can be up to 35 characters long.

312 lines
20 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 2 StE 8/96
  4. StB 15/02
  5. vom
  6. 20. Dezember 2002
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen Völkermordes u. a.
  10. -2-
  11. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 20. Dezember 2002 beschlossen:
  12. 1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 3. Juli 2002
  13. aufgehoben, soweit der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich der Ermordung von 22 Einwohnern des
  14. Dorfes Grabska (Fall A II 8 h der Gründe des Urteils vom
  15. 26. September 1997) als unzulässig verworfen worden ist.
  16. In diesem Umfang ist die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig.
  17. 2. Die weitergehende Beschwerde wird verworfen.
  18. Gründe:
  19. Der Beschwerdeführer begehrt die Wiederaufnahme des gegen ihn geführten Strafverfahrens wegen Völkermordes, das durch Urteil des Senats vom
  20. 30. April 1999 (BGHSt 45, 65) rechtskräftig abgeschlossen worden ist. Das
  21. Oberlandesgericht hat den Antrag als unzulässig verworfen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde hat teilweise Erfolg.
  22. I.
  23. Mit Urteil vom 26. September 1997 hat das Oberlandesgericht den Beschwerdeführer wegen Völkermordes (§ 220 a StGB aF) in elf Fällen, davon in
  24. einem Fall in Tateinheit mit "Mord an 22 Menschen" (Fall A II 8 h der Urteils-
  25. -3-
  26. gründe), in einem Fall in Tateinheit mit "Mord an sieben Menschen" (Fall A II
  27. 8 j), in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Mord (Fall A II 8 k) sowie in mehreren Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung bzw. Freiheitsberaubung, zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt, wobei es hinsichtlich
  28. jeder einzelnen Tat die besondere Schwere der Schuld festgestellt hat. Auf die
  29. Revision des Beschwerdeführers hat der Senat nach Beschränkung der Verfolgung gemäß § 154 a Abs. 2 StPO das Urteil dahin abgeändert, daß der Beschwerdeführer wegen Völkermordes in Tateinheit mit Mord in 30 Fällen zu
  30. lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt ist.
  31. Der Beschwerdeführer hat die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt und den Antrag hilfsweise auf den Vorwurf des Völkermordes in Tateinheit
  32. mit Mord in 22 Fällen (Fall A II 8 h) beschränkt. Nach den hierzu getroffenen
  33. Feststellungen erschoß der Beschwerdeführer an einem Tag zwischen dem 12.
  34. und dem 16. Juni 1992 in dem Dorf Grabska 22 Angehörige der muslimischen
  35. Bevölkerungsgruppe. Diese Feststellungen beruhen allein auf der Aussage des
  36. in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen "Mirsad H.
  37. ", der seinen An-
  38. gaben zufolge das Geschehen vom Fenster eines Nachbarhauses aus
  39. beobachtet hatte (UA S. 141 ff.).
  40. Zur Begründung seines Wiederaufnahmeantrags hat der Beschwerdeführer vorgetragen, bei dem Belastungszeugen "Mirsad H.
  41. in Wahrheit um dessen Bruder Enes H.
  42. " habe es sich
  43. gehandelt. Dieser habe nicht nur
  44. unter Eid falsche Personalien angegeben, vielmehr hätten sich weder Mirsad
  45. noch Enes H.
  46. zum angeblichen Tatzeitpunkt in Grabska aufgehalten. Kei-
  47. ner der beiden Brüder habe somit die Vorgänge beobachten können, die der
  48. Zeuge "Mirsad H.
  49. " in der Hauptverhandlung geschildert habe. Der Be-
  50. -4-
  51. schwerdeführer verweist darauf, daß die Staatsanwaltschaft Düsseldorf deshalb gegen Enes H.
  52. ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des
  53. Meineids eingeleitet hat (810 Js 32/01), welches mit Verfügung vom 4. Februar
  54. 2002 wegen unbekannten Aufenthalts des Beschuldigten vorläufig eingestellt
  55. worden ist. Zum Beweis seiner Behauptungen hat er mehrere Zeugen benannt.
  56. Das Oberlandesgericht hat mit dem angefochtenen Beschluß vom 3. Juli
  57. 2002 den auf § 359 Nr. 2 und Nr. 5 StPO gestützten Wiederaufnahmeantrag
  58. als unzulässig verworfen (§ 368 Abs. 1 StPO). Der Wiederaufnahme des Verfahrens stehe § 363 Abs. 1 StPO entgegen. Denn auch beim Wegfall des dem
  59. Fall A II 8 h zugrundeliegenden Tatgeschehens (der Ermordung von 22 Menschen in Grabska) verbliebe es bei der Verurteilung des Beschwerdeführers
  60. wegen Völkermordes in Tateinheit mit Mord in acht Fällen, so daß es nicht zu
  61. einer Strafbemessung aufgrund eines anderen Strafgesetzes käme.
  62. II.
  63. Das gemäß §§ 372, 304 ff. StPO zulässige Rechtsmittel hat Erfolg, soweit der Beschwerdeführer die Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich
  64. seiner Verurteilung wegen der Ermordung von 22 Angehörigen der muslimischen Bevölkerungsgruppe in dem Dorf Grabska Mitte Juni 1992 (Fall A II 8 h
  65. der Urteilsgründe) beantragt. Der weitergehende Wiederaufnahmeantrag ist
  66. dagegen unzulässig, weil die Urteilsfeststellungen zu den übrigen Tatkomplexen von dem geltend gemachten Wiederaufnahmegrund nicht berührt werden.
  67. 1. Nach dem unter Zeugenbeweis gestellten Vorbringen des Beschwerdeführers ist der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 2 StPO gegeben. Da-
  68. -5-
  69. nach besteht der konkrete Verdacht, daß der einzige Belastungszeuge "Mirsad
  70. H.
  71. " einen Meineid geleistet hat. Da die Durchführung eines Strafverfahrens
  72. gegen den angeblichen Tatzeugen wegen dessen unbekannten Aufenthalts
  73. derzeit nicht möglich ist, steht das Fehlen der nach § 364 Satz 1 1. Halbs.
  74. StPO grundsätzlich erforderlichen rechtskräftigen Verurteilung des Zeugen der
  75. Zulässigkeit der Wiederaufnahme nicht entgegen (§ 364 Satz 1 2. Halbs.; vgl.
  76. BGHSt 39, 75, 86; OLG Düsseldorf GA 1980, 393, 396).
  77. 2. Der Wiederaufnahmeantrag scheitert auch nicht an § 363 Abs. 1
  78. StPO. Der Beschwerdeführer strebt nicht lediglich eine mildere Bestrafung an,
  79. sondern wendet sich gegen seine Verurteilung wegen Mordes in 22 Fällen.
  80. a) Inwieweit § 363 Abs. 1 StPO einem Wiederaufnahmeantrag entgegensteht, der bei einer Verurteilung wegen mehrerer tateinheitlich begangener
  81. Straftaten nur einen Teil des Schuldspruchs angreift, ist in der Literatur umstritten.
  82. Überwiegend wird die Wiederaufnahme nur für zulässig erachtet, wenn
  83. sich der Antrag gegen die Anwendung derjenigen Strafnorm richtet, der nach
  84. § 52 Abs. 2 Satz 1 StGB die Strafe entnommen worden ist, oder wenn - wie im
  85. vorliegenden Fall - alle angewandten Vorschriften die gleiche Strafdrohung
  86. enthalten (Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 363 Rdn. 7; Schmidt in
  87. KK 4. Aufl. § 363 Rdn. 10; Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 363 Rdn. 3; Paulus
  88. in KMR 8. Aufl. § 363 Rdn. 1). Diese Auffassung begegnet schon deshalb Bedenken, weil sie in sich nicht stimmig ist: Daß bei einer Verurteilung wegen
  89. mehrerer in Tateinheit stehender Delikte die Wiederaufnahme des Verfahrens
  90. unzulässig sein soll, wenn sich der Antrag nicht (auch) gegen die Anwendung
  91. -6-
  92. des den Strafrahmen bestimmenden Strafgesetzes richtet, beruht offensichtlich
  93. auf der Erwägung, daß anderenfalls lediglich eine "andere Strafbemessung auf
  94. Grund desselben Strafgesetzes" in Betracht käme. Hängt aber nach § 363 Abs.
  95. 1 StPO die Zulässigkeit der Wiederaufnahme davon ab, daß die Strafe einem
  96. anderen Strafrahmen zu entnehmen wäre, wenn sich das Vorbringen des Antragstellers in der erneuten Hauptverhandlung bestätigen sollte, dann steht
  97. diese Vorschrift einem auf einzelne Gesetzesverletzungen beschränkten Wiederaufnahmeantrag auch dann entgegen, wenn alle angewandten Strafvorschriften dieselbe Strafdrohung aufweisen (aA ohne Angabe von Gründen
  98. Gössel, Schmidt, Meyer-Goßner und Paulus, jeweils aaO). Denn gerade dann
  99. kann sich der Wegfall eines der tateinheitlich verwirklichten Straftatbestände
  100. nicht auf die Bestimmung des maßgeblichen Strafrahmens auswirken.
  101. Zum Teil wird die Wiederaufnahme nur dann für zulässig gehalten, wenn
  102. bei Fortfall der Verurteilung nach dem minderschweren Delikt mit einer wesentlich milderen Bestrafung des Verurteilten zu rechnen ist (Marxen/Tiemann StV
  103. 1992, 534, 536; Loos in AK-StPO § 363 Rdn. 7). Von der Möglichkeit einer milderen Bestrafung kann die Zulässigkeit der Wiederaufnahme aber nicht abhängen. Wäre der Beschwerdeführer nämlich wegen Mordes in 30 (tatmehrheitlichen) Fällen verurteilt worden, dann könnte er unstreitig hinsichtlich einzelner Taten die Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ziel eines Teilfreispruchs betreiben, obwohl auch in diesem Fall wegen der absoluten Strafe für
  104. Mord eine mildere Strafe von vornherein ausgeschlossen wäre.
  105. b) Von den dargestellten Bedenken abgesehen, kann beiden Auffassungen auch mit Blick auf den Gesetzeswortlaut und die Entstehungsgeschichte
  106. sowie aus systematischen Erwägungen nicht gefolgt werden. Vielmehr findet
  107. -7-
  108. § 363 Abs. 1 StPO auf einen Wiederaufnahmeantrag, der eine Änderung des
  109. Schuldspruchs zum Ziel hat, keine Anwendung.
  110. aa) § 363 Abs. 1 StPO stellt ausdrücklich auf den mit der Wiederaufnahme verfolgten Zweck ab: Unzulässig ist danach ein Wiederaufnahmeantrag, mit dem lediglich eine "andere Strafbemessung auf Grund desselben
  111. Strafgesetzes" herbeigeführt werden soll. Besteht dagegen - wie hier - das
  112. Wiederaufnahmeziel darin, einen unrichtigen Schuldspruch zu beseitigen, in
  113. dem für den Verurteilten eine eigenständige Beschwer liegt, greift die Vorschrift
  114. ihrem Wortlaut nach nicht ein. Dies gilt auch dann, wenn ein wegen mehrfacher
  115. tateinheitlicher Verletzung desselben Strafgesetzes Verurteilter sich nur gegen
  116. die Anzahl der ihm zur Last gelegten Gesetzesverletzungen wendet. Im Verhältnis zur Verurteilung wegen Völkermordes in Tateinheit mit Mord in 30 Fällen ist die Verurteilung wegen Völkermordes in Tateinheit mit Mord in acht
  117. Fällen keine Verurteilung auf Grund desselben Strafgesetzes i. S. v. § 363
  118. Abs. 1 StPO.
  119. In diesem Sinne hat bereits der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik entschieden. Unter Berufung auf den Wortlaut des damaligen § 403
  120. StPO (der dem heutigen § 363 StPO entspricht) erklärte er einen Wiederaufnahmeantrag für zulässig, mit dem der Verurteilte die Aufhebung des Schuldspruchs wegen Totschlags bezweckt, dabei aber die den Strafrahmen bestimmende Verurteilung wegen des mit dem Totschlag in Tateinheit stehenden
  121. Hochverrats nicht angegriffen hatte (Beschluß vom 26. Februar 1923, teilweise
  122. wiedergegeben in RG JW 1930, 3422). Daß nach dem Wortlaut und dem Sinn
  123. des Gesetzes bei den besonderen Wiederaufnahmegründen des § 359 Nr. 1
  124. bis 4 StPO aF bereits die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung im
  125. -8-
  126. Schuldspruch die Wiederaufnahme rechtfertigen könne, fand auch im zeitgenössischen Schrifttum Zustimmung (Arndt GA 73 (1925), 166; aA Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme (1913), S. 60).
  127. bb) Eine eng am Wortlaut der Vorschrift orientierte Auslegung hat auch
  128. die Gesetzgebungsgeschichte für sich. § 403 StPO in der Fassung vom 1. Februar 1877 (RGBl 1877, 253, 325) geht auf den von der Justizkommission des
  129. Reichstages während der Ersten Lesung in den Entwurf eingefügten "§ 323 a"
  130. zurück. Dem unzulässigen Wiederaufnahmeziel einer Änderung allein in der
  131. Strafzumessung stellten die Befürworter der Vorschrift den eine Wiederaufnahme rechtfertigenden Fall gegenüber, daß sich nach Rechtskraft des Urteils
  132. herausstelle, daß jemand eine schwerere oder geringere Tat begangen habe
  133. als die Tat, deretwegen er verurteilt worden war (vgl. Hahn, Materialien Bd. 3
  134. Abt. 2, 2. Aufl. S. 1055). Der Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ziel
  135. einer Schuldspruchänderung sollte die Vorschrift demnach gerade nicht entgegenstehen.
  136. cc) Aus der eingeschränkten Zulässigkeit einer Wiederaufnahme des
  137. Verfahrens nach § 359 Nr. 5 StPO läßt sich kein systematisches Argument für
  138. ein anderes Verständnis des § 363 StPO ableiten.
  139. Der (allgemeine) Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO setzt voraus, daß die beigebrachten neuen Tatsachen oder Beweismittel geeignet sind,
  140. "die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung" zu begründen. Gerade diese Einschränkung fehlt jedoch bei den (speziellen) Wiederaufnahmegründen des § 359 Nr.
  141. 1 bis 4 und 6 StPO. Sie wäre im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO auch überflüs-
  142. -9-
  143. sig, wenn die gleiche Rechtsfolge bereits dem für alle Wiederaufnahmegründe
  144. geltenden § 363 Abs. 1 StPO zu entnehmen wäre. Dem kann nicht überzeugend entgegengehalten werden, daß § 363 StPO neben § 359 Nr. 5 StPO keine eigenständige Bedeutung zukomme (so Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO
  145. 25. Aufl. § 363 Rdn. 2; Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 363 Rdn. 1). Dieser
  146. Versuch, die beiden Vorschriften sachlich in Einklang zu bringen, läßt die
  147. durch die Gesetzessystematik belegte Entscheidung des Gesetzgebers außer
  148. acht, die verschiedenen Wiederaufnahmegründe an unterschiedliche Zulässigkeitsvoraussetzungen zu binden.
  149. Die Ungleichbehandlung der verschiedenen Wiederaufnahmegründe erscheint auch sachgerecht. § 359 Nr. 2 und Nr. 3 StPO haben zwingend, § 359
  150. Nr. 1 StPO hat regelmäßig eine Straftat zum Nachteil des Verurteilten zur Voraussetzung. § 359 Nr. 6 StPO betrifft den vergleichbaren Fall, daß das Urteil
  151. auf einer Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beruht. Diese besonders schwerwiegenden
  152. und im allgemeinen offenkundigen (vgl. §§ 359 Nr. 6, 364 StPO) Rechtsverstöße zum Nachteil des Verurteilten rechtfertigen die erleichterte Abänderbarkeit
  153. einer darauf beruhenden Entscheidung, zumal der Gesetzgeber die Wiederaufnahmegründe des § 359 Nr. 1 und Nr. 2 StPO darüber hinaus auch in anderer Hinsicht privilegiert hat: Gemäß § 370 Abs. 1 StPO wird der ursächliche
  154. Zusammenhang zwischen den dort näher bezeichneten Handlungen und dem
  155. Urteil widerlegbar vermutet (BGHSt 19, 365). Es wäre deshalb systemwidrig,
  156. durch eine weite Auslegung des § 363 Abs. 1 StPO die speziellen Wiederaufnahmegründe denselben Einschränkungen zu unterwerfen, wie sie für § 359
  157. Nr. 5 StPO gelten.
  158. - 10 -
  159. dd) Nicht zuletzt gebietet die Gerechtigkeit, daß in Fällen wie dem vorliegenden die Beseitigung eines unrichtigen, den Verurteilten schwer belastenden Schuldspruchs auch dann möglich sein muß, wenn wegen der verbleibenden Straftaten eine ihm günstigere Rechtsfolgenentscheidung ausgeschlossen
  160. ist. Die §§ 359 ff. StPO dienen der Lösung des Konflikts zwischen den Grundsätzen der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit, die sich beide
  161. aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten (BVerfG MDR 1975, 468, 469). Innerhalb
  162. der durch den Gesetzeswortlaut gezogenen Grenzen verdient deshalb diejenige Auslegung des § 363 Abs. 1 StPO den Vorzug, welche die Korrektur einer
  163. Fehlentscheidung ermöglicht, deren Aufrechterhaltung derart dem Gebot der
  164. Gerechtigkeit widerspräche, daß das allgemeine Interesse am Fortbestand einer rechtskräftigen Entscheidung zurücktreten muß. Angesichts des mit einer
  165. Verurteilung wegen Mordes verbundenen gravierenden ethischen Unwerturteils, darf der "zu Unrecht erhobene Vorwurf, 22 Menschenleben kaltblütig ausgelöscht zu haben" (so der Beschwerdeführer in seinem Wiederaufnahmeantrag), keinen Bestand haben, wenn dieser Schuldspruch, wie vom Beschwerdeführer vorgetragen, auf der vorsätzlichen Falschaussage eines Zeugen beruht.
  166. ee) Die hier vertretene Auslegung des § 363 Abs. 1 StPO führt im Ergebnis nicht zu einer wesentlichen Erweiterung der auf Ausnahmefälle zu beschränkenden Möglichkeit, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren wiederaufzunehmen.
  167. Betroffen sind - entsprechend den Darlegungen unter cc) - ausschließlich die speziellen Wiederaufnahmegründe des § 359 Nr. 1 bis Nr. 4 und Nr. 6
  168. StPO, deren Voraussetzungen nur in seltenen Fällen vorliegen. Auf die Be-
  169. - 11 -
  170. hauptung einer Straftat (§ 359 Nr. 2 und Nr. 3 StPO) kann ein Wiederaufnahmeverlangen in der Regel nur gegründet werden, wenn diese durch eine
  171. rechtskräftige Verurteilung nachgewiesen ist (§ 364 StPO). Die Aufhebung eines zivilgerichtlichen Urteils (§ 359 Nr. 4 StPO) setzt die vorherige Durchführung eines förmlichen Verfahrens voraus; gleiches gilt gemäß § 359 Nr. 6 StPO
  172. für die Feststellung einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Für die große Masse der Wiederaufnahmeanträge, die auf den weit
  173. gefaßten Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO gestützt werden, ordnet
  174. das Gesetz dagegen ausdrücklich an, daß ihre Zulässigkeit an die Möglichkeit
  175. einer günstigeren Rechtsfolgenentscheidung geknüpft ist.
  176. Im übrigen ist auch nicht in jedem Fall, in dem ein Verurteilter zulässigerweise die Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem beschränkten Ziel betreibt, den Schuldspruch wegen eines tateinheitlich verwirklichten, aber nicht
  177. den Strafrahmen bestimmenden Delikts zu beseitigen, eine vollständige Überprüfung dieses Schuldspruchs im Rahmen der erneuten Hauptverhandlung geboten. Fällt der in Zweifel gezogene weitere Tatvorwurf innerhalb der Tat nicht
  178. entscheidend ins Gewicht, so kann - wenn das Vorbringen des Antragstellers
  179. im Probationsverfahren genügende Bestätigung gefunden hat und deshalb
  180. gemäß § 370 Abs. 2 StPO die Wiederaufnahme des Verfahrens anzuordnen ist
  181. - einer unökonomischen Durchführung einer aufwendigen Hauptverhandlung
  182. dadurch begegnet werden, daß die Strafverfolgung gemäß § 154 a Abs. 1
  183. Nr. 1, Abs. 2 StPO auf die vom Wiederaufnahmegrund nicht berührten Teile
  184. der Tat beschränkt wird.
  185. 3. Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist nur hinsichtlich des Geschehens in Grabska (Fall A II 8 h der Urteilsgründe) zulässig, weil sich eine
  186. - 12 -
  187. Falschaussage des Zeugen "Mirsad H.
  188. " nur auf diesen Teil der Tat ausge-
  189. wirkt haben kann.
  190. Rechtskräftige Urteile sind grundsätzlich unabänderlich. Lediglich in eng
  191. umrissenen Ausnahmefällen sieht das Gesetz die Wiederaufnahme des Verfahrens vor. Daraus folgt, daß die Durchführung der Wiederaufnahme auf den
  192. Teil des Schuldspruchs zu beschränken ist, der durch den Wiederaufnahmegrund in Frage gestellt wird (vgl. BGHSt 11, 361, 364).
  193. Eine Wiederaufnahme des gesamten Verfahrens wird hier auch nicht
  194. dadurch erzwungen, daß sämtliche vom Beschwerdeführer begangenen Morde
  195. durch den tateinheitlich verwirklichten Straftatbestand des Völkermordes
  196. (§ 220 a StGB aF) sachlichrechtlich zu einer Tat verklammert werden (BGHSt
  197. 45, 65, 89 ff.). Zwar ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens grundsätzlich
  198. unzulässig, wenn sie nur einen Teil einer einheitlichen Tat erfassen soll
  199. (BGHSt 14, 65, 88; BGHR OWiG § 85 Abs. 1 Zulässigkeit 1). Das gilt aber
  200. nicht, wenn trotz sachlichrechtlicher Tateinheit ausnahmsweise mehrere prozessuale Taten anzunehmen sind.
  201. Regelmäßig bildet eine sachlichrechtlich einheitliche Tat auch eine Tat
  202. im Sinne des § 264 StPO (BGHSt 13, 21, 23). Andererseits können aber sachlichrechtliche Tateinheit und prozessuale Tatidentität nicht ohne weiteres
  203. gleichgesetzt werden, weil sie verschiedene Funktionen erfüllen (vgl. BVerfGE
  204. 56, 22 f.): Regelungsgegenstand des § 52 StGB ist die Bestimmung des maßgeblichen Strafrahmens, während § 264 StPO den Gegenstand der Urteilsfindung umreißt (vgl. BGHR VereinsG § 20 Abs. 1 Nr. 1 Organisationsdelikt 1). Im
  205. Einzelfall, insbesondere dann, wenn untereinander an sich in Tatmehrheit stehende Straftaten durch ein jeweils tateinheitlich verwirklichtes Delikt zur Tat-
  206. - 13 -
  207. einheit verklammert werden, kann eine Tat im materiellrechtlichen Sinn prozessual in mehrere Taten zerfallen (vgl. BGHSt 29, 288, 295 f.).
  208. So verhält es sich hier: Die Ermordung von 22 Angehörigen der muslimischen Bevölkerungsgruppe in Grabska Mitte Juni 1992 bildet einen in sich abgeschlossenen Lebenssachverhalt und damit - bezogen auf den Tatbestand
  209. des § 211 StGB - eine selbständige Tat im Sinne von § 264 StPO. Der Wegfall
  210. dieser Tat ließe die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Völkermordes
  211. in Tateinheit mit Mord in acht Fällen wegen des in den Fällen A II 8 j und k der
  212. Urteilsgründe näher beschriebenen Geschehens unberührt. Die Frage, ob der
  213. Beschwerdeführer darüber hinaus zu recht wegen weiterer 22 tateinheitlich
  214. begangener Fälle des Mordes schuldig gesprochen worden ist, kann deshalb
  215. für sich genommen Gegenstand des Wiederaufnahmeverfahrens sein.
  216. III.
  217. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, daß der Rechtsfolgenausspruch von der Wiederaufnahme des Verfahrens nicht berührt wird.
  218. Das gleiche gilt für die Feststellung, daß die Schuld des Beschwerdeführers
  219. besonders schwer wiegt. Das Oberlandesgericht, das Tatmehrheit angenommen hatte, hat diese Feststellung bereits für jeden Fall der Urteilsgründe gesondert getroffen. Der neue Tatrichter hat Gelegenheit, die Möglichkeit einer
  220. Beschränkung der Strafverfolgung gemäß § 154 StPO auf die vom Wiederaufnahmegrund nicht betroffenen Tatkomplexe zu prüfen, wenn das Vorbringen
  221. des Beschwerdeführers in dem sich nun anschließenden Probationsverfahren
  222. genügende Bestätigung finden sollte.
  223. Tolksdorf
  224. Pfister
  225. von Lienen
  226. - 14 -
  227. Nachschlagewerk: ja
  228. BGHSt:
  229. ja
  230. Veröffentlichung: ja
  231. ________________
  232. StPO § 363 Abs. 1
  233. § 363 Abs. 1 StPO findet auf einen Wiederaufnahmeantrag, der eine Änderung
  234. des Schuldspruchs zum Ziel hat, keine Anwendung.
  235. BGH, Beschl. vom 20. Dezember 2002 - StB 15/02 - OLG Düsseldorf