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318 lines
18 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. IX ZR 83/17
  5. Verkündet am:
  6. 22. Februar 2018
  7. Preuß
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. nein
  16. BGHR:
  17. ja
  18. ZPO § 261 Abs. 3 Nr. 1; Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 Art. 29 Abs. 1, 3
  19. Eine bei einem deutschen Gericht erhobene Klage ist von Anfang an unzulässig,
  20. wenn wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien bereits eine Klage
  21. bei einem international zuständigen Gericht eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union anhängig ist.
  22. ZPO § 91a, § 261 Abs. 3 Nr. 1; Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 Art. 29
  23. Abs. 1, 3
  24. Wird ein vor einem deutschen Gericht anhängiges Verfahren wegen einer in einem
  25. anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien bereits anhängigen Klage ausgesetzt, bewirkt die Feststellung der Zuständigkeit des ausländischen Gerichts im inländischen Verfahren nicht
  26. die Erledigung der Hauptsache.
  27. BGH, Urteil vom 22. Februar 2018 - IX ZR 83/17 - LG Darmstadt
  28. AG Groß-Gerau
  29. ECLI:DE:BGH:2018:220218UIXZR83.17.0
  30. -2-
  31. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  32. vom 16. November 2017 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kayser, die
  33. Richter Prof. Dr. Gehrlein, Grupp, Dr. Schoppmeyer und Meyberg
  34. für Recht erkannt:
  35. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil der 24. Zivilkammer
  36. des Landgerichts Darmstadt vom 10. März 2017 aufgehoben.
  37. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts
  38. Groß-Gerau vom 3. Februar 2016 wird zurückgewiesen.
  39. Der Kläger hat die Kosten der Rechtsmittelverfahren zu tragen.
  40. Von Rechts wegen
  41. Tatbestand:
  42. 1
  43. Der Kläger ist Rechtsanwalt mit Niederlassung in Salzburg, Österreich.
  44. Er vertrat im Jahr 2013 den Beklagten sowie dessen ebenfalls in Deutschland
  45. wohnhafte Geschwister in einem Zivilprozess vor dem Bezirksgericht Hallein in
  46. Österreich. Das für seine Tätigkeit angefallene Honorar in Höhe von 3.447,54 €
  47. machte der Kläger nebst weiteren Kosten gegen den Beklagten und dessen
  48. Geschwister als Auftraggeber in Österreich gerichtlich geltend. Seine im Juli
  49. 2014 beim Bezirksgericht Hallein erhobene, auf Zahlung von insgesamt
  50. 3.965,18 € gerichtete Klage wurde an das Bezirksgericht Salzburg verwiesen
  51. und dort mangels internationaler Zuständigkeit mit Beschluss vom 27. Februar
  52. -3-
  53. 2015 abgewiesen. Der Kläger legte hiergegen Rekurs zum Landesgericht Salzburg ein. Mit rechtskräftigem Beschluss vom 20. August 2015 stellte dieses die
  54. internationale Zuständigkeit des Bezirksgerichts Salzburg fest und verwies das
  55. Verfahren im Übrigen an das Bezirksgericht zurück, wo sich die Parteien am
  56. 6. Oktober 2015 in Höhe der Klageforderung verglichen.
  57. 2
  58. Im März 2015 hat der Kläger sein Honorar auch vor deutschen Gerichten
  59. geltend gemacht, gegen den Beklagten beim Amtsgericht Groß-Gerau. Dieses
  60. hat mit Beschluss vom 30. Juli 2015 das Verfahren bis zur Entscheidung der
  61. österreichischen Gerichte über ihre Zuständigkeit ausgesetzt. Nach dem Abschluss des Verfahrens in Österreich hat der Kläger den Rechtsstreit vor dem
  62. Amtsgericht Groß-Gerau für erledigt erklärt. Der Beklagte hat sich der Erledigungserklärung nicht angeschlossen.
  63. 3
  64. Das Amtsgericht hat die nunmehr auf Feststellung der Erledigung gerichtete Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landgericht den
  65. Beklagten antragsgemäß verurteilt. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung des Urteils des
  66. Amtsgerichts.
  67. Entscheidungsgründe:
  68. 4
  69. Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Berufung des Klägers.
  70. -4-
  71. I.
  72. 5
  73. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Die ursprüngliche Zahlungsklage
  74. habe sich nach Rechtshängigkeit dadurch erledigt, dass sich die österreichischen Gerichte für international zuständig erklärt hätten, so dass das Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage gleichen Inhalts in Deutschland entfallen sei. Die
  75. Klage vor dem Amtsgericht Groß-Gerau sei bei Einreichung nicht unzulässig
  76. gewesen. Die Vorschrift des § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO gelte nicht für den Fall von
  77. Klagen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Gemäß
  78. Art. 29 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und
  79. des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die
  80. Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. Nr. L 351/1, fortan "EuGVVO nF") sei das Verfahren bei dem später
  81. angerufenen Gericht auszusetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststehe. Solange dieses nicht über seine internationale Zuständigkeit entschieden habe, sei die Klage vor dem später angerufenen Gericht
  82. schwebend zulässig. Art. 29 EuGVVO nF wolle es gerade ermöglichen, dass
  83. bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen mit demselben Streitgegenstand anhängig gemacht werden. Diesem Regelungszweck liefe es zuwider,
  84. müsste ein Kläger, wenn sich das von ihm berechtigterweise zuerst angerufene
  85. Gericht tatsächlich für zuständig erklärt, die Kosten des zweiten Verfahrens tragen.
  86. II.
  87. 6
  88. Die Revision ist begründet. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht eine
  89. Erledigung der Hauptsache festgestellt.
  90. -5-
  91. 7
  92. 1. Wenn ein Kläger die Hauptsache für erledigt erklärt, der Beklagte dem
  93. aber widerspricht und Klageabweisung beantragt, hat das Gericht durch Urteil
  94. zu entscheiden, ob Erledigung eingetreten ist oder nicht (BGH, Urteil vom
  95. 6. Dezember 1984 - VII ZR 64/84, NJW 1986, 588 f). Die Hauptsache ist erledigt, wenn die Klage im Zeitpunkt des nach ihrer Zustellung eingetretenen erledigenden Ereignisses zulässig und begründet war und durch das behauptete
  96. Ereignis unzulässig oder unbegründet wurde (BGH, Urteil vom 17. Juli 2003
  97. - IX ZR 268/02, BGHZ 155, 392, 395; vom 27. Januar 2010 - VIII ZR 58/09,
  98. BGHZ 184, 128 Rn. 18; jeweils mwN). Das Gericht muss die Klage abweisen,
  99. wenn eine der beiden Voraussetzungen nicht vorlag (BGH, Urteil vom 17. April
  100. 1984 - IX ZR 153/83, BGHZ 91, 126, 127).
  101. 8
  102. 2. Von diesem Maßstab ist das Berufungsgericht ausgegangen. Es hat
  103. aber zu Unrecht angenommen, dass die vor dem Amtsgericht erhobene Zahlungsklage bis zu der als maßgeblich angesehenen Entscheidung des Landesgerichts Salzburg über die internationale Zuständigkeit der österreichischen
  104. Gerichte schwebend zulässig gewesen und erst infolge dieser Entscheidung
  105. unzulässig geworden sei. Die vor dem Amtsgericht erhobene Klage war von
  106. Anfang an unzulässig, weil der Kläger wegen desselben Anspruchs gegen den
  107. Beklagten bereits vor einem international zuständigen Gericht in Österreich einen Rechtsstreit führte, der bis zu dessen vergleichsweiser Beendigung rechtshängig blieb.
  108. 9
  109. a) Die Rechtshängigkeit der Streitsache hat nach deutschem Zivilprozessrecht die Wirkung, dass während der Dauer der Rechtshängigkeit die
  110. Streitsache von keiner Partei anderweitig anhängig gemacht werden kann
  111. (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Dadurch soll verhindert werden, dass der Beklagte
  112. und die Gerichte sich in mehreren Verfahren mit derselben Sache befassen
  113. -6-
  114. müssen und dass einander widersprechende Urteile ergehen (vgl. BGH, Urteil
  115. vom 17. Januar 1952 - IV ZR 106/51, BGHZ 4, 314, 322; vom 17. Mai 2001
  116. - IX ZR 256/99, NJW 2001, 3713; vom 7. März 2002 - III ZR 73/01, NJW 2002,
  117. 1503 unter II. 1.). Das deutsche Prozessrecht behandelt die anderweitige
  118. Rechtshängigkeit als negative Prozessvoraussetzung, die von Amts wegen zu
  119. beachten ist (st. Rspr., grundlegend RGZ 160, 338, 344 f; BGH, Urteil vom 15.
  120. Januar 1985 - X ZR 16/83, WM 1985, 673; vom 28. Mai 2008 - XII ZR 61/06,
  121. BGHZ 176, 365 Rn. 19; MünchKomm-ZPO/Becker-Eberhard, 5. Aufl., § 261
  122. Rn. 5 und 42). Eine später gegen dieselbe Partei über denselben Streitgegenstand erhobene Klage ist während der Dauer der anderweitigen Rechtshängigkeit von Anfang an unzulässig (BGH, Beschluss vom 2. Dezember 2014 - XI ZB
  123. 17/13, WM 2015, 69 Rn. 15; BAG, NZA 2015, 124 Rn. 34; MünchKommZPO/Becker-Eberhard, aaO § 261 Rn. 42).
  124. 10
  125. b) § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO regelt unmittelbar nur die Wirkungen der
  126. Rechtshängigkeit einer Streitsache vor einem deutschen Gericht. Die Rechtshängigkeit der Streitsache vor einem ausländischen Gericht steht nach der
  127. ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Rechtshängigkeit vor
  128. einem inländischen Gericht aber gleich, wenn das ausländische Urteil hier anzuerkennen sein wird (vgl. etwa BGH, Urteil vom 18. März 1987 - IVb ZR 24/86,
  129. WM 1987, 826; vom 12. Februar 1992 - XII ZR 25/91, FamRZ 1992, 1058,
  130. 1059; vom 24. Oktober 2000 - XI ZR 300/99, NJW 2001, 524, 525; vom 28. Mai
  131. 2008, aaO Rn. 17). Sie steht unter dieser Voraussetzung einer nachfolgenden
  132. Klage in gleicher Weise von Anfang an entgegen, wie gemäß § 261 Abs. 3 Nr. 1
  133. ZPO die anderweitige Rechtshängigkeit der Streitsache in Deutschland.
  134. -7-
  135. 11
  136. c) Aus Art. 29 EuGVVO nF ergibt sich nicht, dass die in Deutschland erhobene Klage abweichend von den vorstehenden Grundsätzen zunächst zulässig war.
  137. 12
  138. aa) Für den hier gegebenen Fall der doppelten Rechtshängigkeit einer
  139. Streitsache bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestimmt Art. 29 Abs. 1 und 3 EuGVVO nF, dass das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen auszusetzen hat, bis die Zuständigkeit des
  140. zuerst angerufenen Gerichts feststeht; sobald dies der Fall ist, hat sich das später angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären. Die doppelte Rechtshängigkeit ein und desselben Streitgegenstandes ist danach wie im deutschen Zivilprozessrecht auch im Verhältnis
  141. zwischen den Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Union
  142. beachtlich und steht einer Sachentscheidung des später angerufenen Gerichts
  143. entgegen. Im Interesse einer geordneten und abgestimmten Rechtspflege innerhalb der Gemeinschaft sollen so weit wie möglich Parallelverfahren und widersprüchliche Entscheidungen in verschiedenen Mitgliedstaaten verhindert
  144. werden (für Art. 21 des Übereinkommens von Brüssel von 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in
  145. Zivil- und Handelssachen - ABl. EG 1972 Nr. L 299 S. 32, EuGVÜ
  146. - Jenard-Bericht, ABl. EG 1979 Nr. C 59 S. 1, 41; vgl. auch Erwägungsgrund 21
  147. der EuGVVO nF), die sich daraus ergeben können, dass einem Kläger in den
  148. Zuständigkeitsbestimmungen die Wahl zwischen mehreren Gerichtsständen in
  149. verschiedenen Mitgliedstaaten ermöglicht wird (für das EuGVÜ Dohm, Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit im deutschen internationalen Zivilprozess,
  150. 1996, S. 33; für Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom
  151. 22. Dezember 2000 - EuGVVO aF - Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches
  152. Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., Art. 27 Rn. 1; für Art. 29 EuGVVO nF Rauscher/
  153. -8-
  154. Leible, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 4. Aufl., Art. 29 Brüssel
  155. Ia-VO Rn. 9).
  156. 13
  157. bb) Die Regelung der Verordnung hat Vorrang vor dem Prozessrecht der
  158. einzelnen Mitgliedstaaten (Simons in Simons/Hausmann, Brüssel I-Verordnung,
  159. 2012, vor Artt. 27-30 Rn. 15; Rauscher/Staudinger, aaO, Einl. Brüssel Ia-VO
  160. Rn. 27 ff; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 23. Aufl., § 261 Rn. 49, 53; MünchKommZPO/Becker-Eberhard, 5. Aufl., § 261 Rn. 73; zu Art. 21 EuGVÜ OLGR Stuttgart 2001, 288, 289). Der Vorrang gilt jedoch nur insoweit, als die Regelung der
  161. Verordnung reicht. Art. 29 EuGVVO nF bestimmt die Rechtsfolge der doppelten
  162. Rechtshängigkeit dahin, dass sich das später angerufene Gericht, sobald die
  163. Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, für unzuständig zu
  164. erklären hat. In welcher Weise und auf wessen Kosten der später begonnene
  165. Rechtsstreit prozessual beendet wird, überlässt die Regelung dem nationalen
  166. Recht (vgl. Dohm, aaO S. 190). Die deutsche Rechtsprechung hat schon zu
  167. den früheren Bestimmungen in Art. 21 EuGVÜ und Art. 27 EuGVVO aF entschieden, dass die Klage bei dem später angerufenen Gericht als unzulässig
  168. abzuweisen ist (BGH, Urteil vom 9. Oktober 1985, NJW 1986, 662; vom 8. Februar 1995 - VIII ZR 14/94, NJW 1995, 1758, 1759; vgl. auch BGH, Urteil vom
  169. 19. Februar 2013 - VI ZR 45/12, BGHZ 196, 180 Rn. 11). Dies entspricht der
  170. Rechtslage nach § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO. Die durch die anderweitige Rechtshängigkeit bewirkte Unzulässigkeit der späteren Klage besteht von Anfang an.
  171. Deswegen ist dem Kläger auch der Weg versperrt, die Kosten über eine Erledigungserklärung auf den Beklagten abzuwälzen.
  172. 14
  173. d) Selbst unter der Annahme, Art. 29 EuGVVO nF regle auch den Zeitpunkt, ab dem die Klage beim später angerufenen Gericht unzulässig ist, träfe
  174. die Ansicht des Berufungsgerichts, die spätere Klage sei bis zur Feststellung
  175. -9-
  176. der Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts zulässig, nicht zu. Eine solche vorübergehende Zulässigkeit der später erhobenen Klage kann nicht aus
  177. dem Umstand abgeleitet werden, dass Art. 29 Abs. 1 EuGVVO nF eine Aussetzung des Verfahrens vorschreibt, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen
  178. Gerichts feststeht. Das Aussetzungsgebot betrifft ausschließlich das vom
  179. Zweitgericht einzuhaltende Verfahren.
  180. 15
  181. aa) Nach der ursprünglichen Regelung in Art. 21 EuGVÜ hatte sich,
  182. wenn bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben
  183. Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht wurden, das später
  184. angerufene Gericht von Amts wegen zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären. Falls die Unzuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geltend gemacht wurde, konnte das Gericht, das sich für unzuständig zu erklären hätte, die Entscheidung aussetzen. Diese Regelung brachte
  185. zum Ausdruck, dass eine zweite Klage unzulässig war, wenn in einem anderen
  186. Vertragsstaat bereits eine Klage über denselben Anspruch vor einem international zuständigen Gericht anhängig war. Durch Art. 8 des Übereinkommens
  187. über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik
  188. von 1989 (ABl. EG 1989 Nr. L 285, S. 1) wurde die Regelung dahin geändert,
  189. dass die bisher fakultative Aussetzung obligatorisch wurde. Eine sofortige Prozessabweisung durch das Zweitgericht wurde in den Fällen als zu radikal angesehen, in denen die Erhebung der zweiten identischen Klage zur Fristwahrung
  190. oder Verjährungsunterbrechung erfolgte (vgl. hierzu für das Lugano-Übereinkommen Jenard/Möller, ABl. EG 1990 Nr. C 189 S. 57, 78 Nr. 64; übernommen
  191. für das EuGVÜ nF, vgl. Cruz/Real/Jenard-Bericht zum Beitrittsübereinkommen
  192. 1989, ABl. EG 1990 Nr. C 189 S. 35, 48 Nr. 28). Der Ausgangspunkt, dass die
  193. zweite Klage angesichts der bereits bei einem anderen, international zuständigen Gericht anhängigen Klage unzulässig ist, änderte sich dadurch nicht. Es
  194. - 10 -
  195. sollte lediglich vermieden werden, dass nach sofortiger Abweisung der zweiten
  196. Klage ein neues Verfahren eingeleitet werden musste, sofern sich später die
  197. Unzuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts herausstellte (vgl. Bäumer,
  198. Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Zivilverfahrensrecht, 1999, S. 192).
  199. 16
  200. bb) Die Regelung in Art. 29 Abs. 1 und 3 EuGVVO nF entspricht, wie
  201. schon die Vorgängerregelung in Art. 27 EuGVVO aF, im Wesentlichen derjenigen in Art. 21 EuGVÜ nF. Auch sie schiebt lediglich die Befugnis des Zweitgerichts, sich im Hinblick auf die doppelte Rechtshängigkeit für unzuständig zu
  202. erklären, zeitlich hinaus (vgl. Stein/Jonas/Wagner, ZPO, 22. Aufl., Art. 27
  203. EuGVVO Rn. 58; Nieroba, Die europäische Rechtshängigkeit nach der
  204. EuGVVO an der Schnittstelle zum nationalen Zivilprozessrecht, 2006, S. 156).
  205. Das Zweitgericht hat die Entscheidung des Erstgerichts zur internationalen Zuständigkeit abzuwarten und im Verfahren bis dahin innezuhalten. Hierdurch sollen negative Kompetenzkonflikte vermieden werden, die im Falle einer sofortigen Abweisung der zweiten Klage wegen der anderweitigen Rechtshängigkeit
  206. drohten, wenn sich das erste Verfahren letztlich doch mangels internationaler
  207. Zuständigkeit als unzulässig erweist (für Art. 21 Abs. 2 EuGVÜ aF JenardBericht, aaO, S. 41; MünchKomm-ZPO/Gottwald, 4. Aufl., Art. 27 EuGVVO
  208. Rn. 21). Die Parteien sollen in einem solchen Fall nicht mit ihrem Prozess von
  209. neuem beginnen müssen (für Art. 21 Abs. 2 EuGVÜ aF Jenard-Bericht, aaO; für
  210. die EuGVVO nF Rauscher/Leible, aaO, Art. 29 Brüssel Ia-VO Rn. 38; Zöller/
  211. Geimer, ZPO, 32. Aufl., Art. 29 EuGVVO Rn. 1). Damit ist den Interessen des
  212. Klägers im Rahmen des von Art. 29 EuGVVO nF verfolgten Regelungszwecks
  213. hinreichend Rechnung getragen. Eine weitergehende Bevorzugung seiner Interessen gebietet Art. 29 EuGVVO nF nicht. Insbesondere bezweckt die Bestimmung entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht, dass ein Kläger gegen
  214. - 11 -
  215. ein und denselben Beklagten wegen desselben Streitgegenstandes bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten ohne Kostenrisiko gerichtlich vorgehen kann.
  216. Art. 29 EuGVVO nF dient auch dem Schutz des Beklagten vor der Gefahr, sich
  217. einer doppelten Verurteilung und entsprechenden Kostenfolgen ausgesetzt zu
  218. sehen (zu Art. 21 EuGVÜ BGH, Beschluss vom 28. November 1985 - III ZR
  219. 3/85, RIW 1986, 217 f).
  220. 17
  221. 3. Der Senat erachtet ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267
  222. AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union im Streitfall nicht für erforderlich. Der Regelungsumfang des Art. 29 EuGVVO nF ist angesichts der Gesetzgebungsmaterialien derart offenkundig, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel bleibt. Der Senat ist davon überzeugt, dass diese Gewissheit
  223. auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof besteht
  224. (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81, Cilfit, Slg. 1982, 3415
  225. Rn. 16). Das Verfahren der Aussetzung und die prozessualen Folgen der Unzuständigkeit des später angerufenen Gerichts richten sich hingegen nach nationalem Recht.
  226. - 12 -
  227. III.
  228. 18
  229. Das Urteil des Berufungsgerichts kann deshalb keinen Bestand haben
  230. und ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Aufhebung nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis
  231. erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist, kann der Senat selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO).
  232. Kayser
  233. Gehrlein
  234. Schoppmeyer
  235. Grupp
  236. Meyberg
  237. Vorinstanzen:
  238. AG Groß-Gerau, Entscheidung vom 03.02.2016 - 62 C 85/15 (16) LG Darmstadt, Entscheidung vom 10.03.2017 - 24 S 24/16 -