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372 lines
17 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. IX ZR 228/03
  5. Verkündet am:
  6. 12. Oktober 2006
  7. Preuß
  8. Justizangestellte
  9. als Urkundsbeamtin
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. Nachschlagewerk:
  13. ja
  14. BGHZ:
  15. nein
  16. BGHR:
  17. ja
  18. InsO §§ 17, 130 Abs. 1
  19. Zu den Anforderungen an die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit durch den Tatrichter bei Insolvenzanfechtung.
  20. BGH, Urteil vom 12. Oktober 2006 - IX ZR 228/03 - OLG Hamburg
  21. LG Hamburg
  22. -2-
  23. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  24. vom 12. Oktober 2006 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Gero Fischer und die
  25. Richter Dr. Ganter, Dr. Kayser, Vill und Dr. Detlev Fischer
  26. für Recht erkannt:
  27. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 9. Zivilsenats des
  28. Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 26. September
  29. 2003 aufgehoben.
  30. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
  31. über die Kosten des Revisionsverfahrens, an den 11. Zivilsenat
  32. des Berufungsgerichts zurückverwiesen.
  33. Von Rechts wegen
  34. Tatbestand:
  35. Der Kläger ist Verwalter im Insolvenzverfahren über das Vermögen der
  36. 1
  37. L.
  38. GmbH & Co. Das Insolvenzverfahren
  39. wurde am 26. Juni 2000 auf Antrag der Schuldnerin vom 1. Juni 2000 wegen
  40. Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung eröffnet.
  41. 2
  42. Die Beklagte, die für die Schuldnerin als Wirtschaftsprüferin tätig war,
  43. erhielt von der Schuldnerin am 3. Dezember 1999 den Auftrag, ein von ihr erstelltes Effizienzsteigerungsprogramm zu prüfen. Die Beklagte erstattete den
  44. -3-
  45. Prüfbericht unter dem 17. Januar 2000. Am 12. Januar 2000 stellte sie der
  46. Schuldnerin hierfür 114.450,48 DM in Rechnung.
  47. Die Schuldnerin stellte der Beklagten am 7. April 2000 und 28. April 2000
  48. 3
  49. Schecks über 57.000 DM und 57.450,48 DM aus, die am 20. April 2000 und
  50. 4. Mai 2000 dem Konto der Schuldnerin belastet wurden.
  51. Der Kläger hat die Zahlung gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO ange-
  52. 4
  53. fochten und Rückzahlung verlangt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
  54. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Anspruch in vollem Umfang weiter.
  55. Entscheidungsgründe:
  56. 5
  57. Die Revision hat Erfolg; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
  58. I.
  59. 6
  60. Das Berufungsgericht meint, der Kläger habe die Voraussetzungen des
  61. § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO nicht substantiiert vorgetragen. Eine Zahlungseinstellung liege nicht vor. Soweit der Kläger sich auf die Schreiben vom
  62. 12. April 2000 beziehe, mit denen die Schuldnerin die Krankenkassen mit der
  63. Bitte um Stundung der Sozialversicherungsbeiträge für März 2000 angeschrie-
  64. -4-
  65. ben habe, lasse sich hieraus nicht die Erklärung ableiten, zu Zahlungen endgültig unvermögend zu sein, da ausdrücklich mitgeteilt worden sei, es werde auf
  66. einige Zahlungseingänge gewartet. Dem Umstand, dass die Schuldnerin nach
  67. Behauptung des Klägers die Löhne der gewerblichen Mitarbeiter für April 2000
  68. nicht mehr ordnungsgemäß habe zahlen können, komme bereits deshalb nicht
  69. die Bedeutung einer Zahlungseinstellung zu, weil die Schuldnerin die Gehälter
  70. ihrer Angestellten unstreitig gezahlt habe.
  71. 7
  72. Die Feststellung einer Zahlungsunfähigkeit habe auf der Grundlage eines
  73. Finanzstatuts zu erfolgen, das aus dem Rechnungswesen abzuleiten sei und
  74. das verfügbare Finanzmittelpotential des Unternehmens sowie dessen Verbindlichkeiten inventarmäßig erfasse. Der Kläger sei seiner Pflicht zu substantiiertem Vortrag unzureichend nachgekommen, weil er zwar den Stand der Verbindlichkeiten, bezogen auf den 20. April und 4. Mai 2000, mitgeteilt und auch angegeben habe, dass der Kreditspielraum fast vollständig ausgeschöpft gewesen
  75. sei. Diese Angaben reichten aber nicht aus. Es fehlten Angaben zu dem Bestand an fälligen Forderungen der Schuldnerin. Deren Kenntnis sei unverzichtbar, um die Zahlungsunfähigkeit feststellen zu können. Insoweit müsse auszuschließen sein, dass sich die Schuldnerin kurzfristig, innerhalb von zwei bis drei
  76. Wochen, die erforderlichen flüssigen Mittel habe beschaffen können, um die
  77. Verbindlichkeiten zu begleichen. Erforderlich seien deshalb Liquiditätsbilanzen
  78. zum 20. April 2000 und zum 4. Mai 2000.
  79. II.
  80. 8
  81. Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
  82. -5-
  83. 9
  84. Das Berufungsgericht ist, von der Revision unangegriffen, von einer kongruenten Deckung ausgegangen. Dies ist zutreffend, weil die Bezahlung einer
  85. Schuld durch eigenen Scheck verkehrsüblich ist (BGHZ 123, 320, 324; v.
  86. 2. Februar 2006 - IX ZR 67/02, ZIP 2006, 578, z.V.b. in BGHZ 166, 125;
  87. MünchKomm-InsO/Kirchhof, § 131 Rn. 35; Kübler/Prütting/Paulus, InsO § 131
  88. Rn. 13).
  89. 10
  90. Beide Scheckeinlösungen lagen innerhalb der 3-Monatsfrist vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Anwendbar ist deshalb § 130
  91. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO. Ein Bargeschäft liegt nicht vor, weil der erforderliche
  92. enge zeitliche - unmittelbare - Zusammenhang zwischen Leistung (Annahme
  93. des Auftrags oder Beginn der Tätigkeit) und Gegenleistung (vgl. BGH, Urt. v.
  94. 13. April 2006 - IX ZR 158/05, ZIP 2006, 1261, 1264) nicht bestand. Der Bericht
  95. der Beklagten wurde ab 3. Dezember 1999 erstellt. Die Scheckhingabe und die
  96. Scheckeinlösung lagen über 4 Monate später.
  97. 11
  98. Entscheidend ist daher, ob zu dem gemäß § 140 Abs. 1 InsO maßgeblichen Zeitpunkt der jeweiligen Scheckeinlösung (vgl. BGHZ 118, 171, 176 f;
  99. MünchKomm-InsO/Kirchhof, § 140 Rn. 11) Zahlungsunfähigkeit vorlag und die
  100. Beklagte zu dieser Zeit die Zahlungsunfähigkeit kannte.
  101. 12
  102. 1. Das Berufungsgericht hat zutreffend zunächst gemäß § 17 Abs. 2
  103. Satz 2 InsO geprüft, ob die Schuldnerin im Zeitpunkt der Scheckeinlösung die
  104. Zahlungen eingestellt hatte. Die in dieser Vorschrift formulierte Vermutung gilt
  105. auch im Rahmen des § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO (BGHZ 149, 178, 184; BGH, Urt.
  106. v. 9. Januar 2003 - IX ZR 175/02, ZIP 2003, 410, 411). Liegt Zahlungseinstellung vor, begründet dies eine gesetzliche Vermutung für die Zahlungsunfähig-
  107. -6-
  108. keit (HK-InsO/Kirchhof, aaO § 17 Rn. 24), die vom Prozessgegner zu widerlegen wäre.
  109. Zahlungseinstellung ist dasjenige äußere Verhalten des Schuldners, in
  110. 13
  111. dem sich typischerweise eine Zahlungsunfähigkeit ausdrückt. Es muss sich also
  112. mindestens für die beteiligten Verkehrskreise der berechtigte Eindruck aufdrängen, dass der Schuldner nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten
  113. zu erfüllen (BGHZ 149, 178, 184 f; BGH, Urt. v. 9. Januar 2003 - IX ZR 175/02,
  114. ZIP
  115. 2003,
  116. 410,
  117. 411;
  118. HK-InsO/Kirchhof,
  119. aaO
  120. § 17
  121. Rn. 25;
  122. zur
  123. 3-Wochen-Frist vgl. nunmehr BGHZ 163, 134, 139 f).
  124. 14
  125. Die Zahlungseinstellung hat das Berufungsgericht mit unzutreffenden
  126. Gründen abgelehnt.
  127. 15
  128. a) Eigene Erklärungen des Schuldners, eine fällige Verbindlichkeit nicht
  129. begleichen zu können, deuten auf eine Zahlungseinstellung hin, auch wenn sie
  130. mit einer Stundungsbitte versehen sind (vgl. BGH, Urt. v. 4. Oktober 2001
  131. - IX ZR 81/99, ZIP 2001, 2097, 2098; HK-InsO/Kirchhof, aaO § 17 Rn. 30).
  132. 16
  133. Eine solche Erklärung kommt in den Schreiben der Schuldnerin vom
  134. 12. April 2000 an die Sozialversicherungsträger zum Ausdruck. In den Schreiben ist zwar ausgeführt, dass die Schuldnerin auf Zahlungseingänge warte. Es
  135. wird aber auch klar zum Ausdruck gebracht, dass die Eingänge jedenfalls nicht
  136. bis zur Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge am 15. April 2000 zu erwarten
  137. seien, eine Zahlung bei Fälligkeit also keinesfalls erfolgen könne, sondern nur
  138. drei monatliche Raten jeweils zum Monatsende angeboten werden könnten. Die
  139. Schuldnerin war demzufolge gerade nicht in der Lage, ihren Verpflichtungen zur
  140. Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge binnen drei Wochen nachzukommen.
  141. -7-
  142. 17
  143. Allerdings wurden die Anträge auf Stundung noch vor Fälligkeit gestellt.
  144. Wurde ihnen rechtzeitig stattgegeben, fehlte es an der Fälligkeit der Forderungen. Hierzu und zu der Frage, ob es sich um einen erheblichen Teil der Verbindlichkeiten der Schuldnerin handelte, hat das Berufungsgericht jedoch keine
  145. Feststellungen getroffen.
  146. 18
  147. b) Das Berufungsgericht hat auch dem Umstand keine Bedeutung beigemessen, dass nach Behauptung des Klägers die Schuldnerin zum 30. April
  148. 2000 die Löhne der gewerblichen Mitarbeiter nicht ordnungsgemäß gezahlt hat.
  149. Dies sei unerheblich, weil sie gleichzeitig die Gehälter der Angestellten weitergezahlt habe.
  150. 19
  151. Das Berufungsgericht hat offenbar angenommen, einzelne beträchtliche
  152. Zahlungen schlössen die Zahlungseinstellung aus. Dies ist unzutreffend. Die
  153. tatsächliche Nichtzahlung eines erheblichen Teils der fälligen Verbindlichkeiten
  154. reicht für eine Zahlungseinstellung aus (BGH, Urt. v. 8. Oktober 1998 - IX ZR
  155. 337/97, ZIP 1998, 2008, 2009; v. 13. April 2000 - IX ZR 144/99, ZIP 2000,
  156. 1016, 1017; v. 4. Oktober 2001 - IX ZR 81/99, ZIP 2001, 2097, 2098). Dies gilt
  157. auch dann, wenn tatsächlich noch geleistete Zahlungen beträchtlich sind, aber
  158. im Verhältnis zu den fälligen Gesamtschulden nicht den wesentlichen Teil ausmachen (BGH, Urt. v. 25. Januar 2001 - IX ZR 6/00, ZIP 2001, 524, 525; v.
  159. 17. Mai 2001 - IX ZR 188/98, ZIP 2001, 1155; v. 4. Oktober 2001, aaO; v.
  160. 19. Dezember 2002 - IX ZR 377/99, ZIP 2003, 488, 491; v. 10. Juli 2003 - IX ZR
  161. 89/02, ZIP 2003, 1666, 1668).
  162. -8-
  163. 20
  164. c) Das Berufungsgericht hat nicht geprüft, ob unter dem Gesichtspunkt
  165. der bis zuletzt nicht beglichenen Verbindlichkeiten der Schuldnerin eine Zahlungseinstellung im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO vorliegt.
  166. 21
  167. Nach den Behauptungen des Klägers hatte die Schuldnerin am 31. März
  168. 2000 fällige Verbindlichkeiten in Höhe von 4,92 Mio. DM aus Lieferungen und
  169. Leistungen offen stehen, die bis zuletzt unbedient blieben und deshalb zur Tabelle angemeldet wurden. Zum 7. April 2000 soll der Betrag dieser Forderungen
  170. auf 5,13 Mio. DM, zum 20. April 2000 auf 5,45 Mio. DM, zum 28. April 2000 auf
  171. 5,65 Mio. DM und zum 4. Mai 2000 auf 5,78 Mio. DM angestiegen sein.
  172. 22
  173. Danach wäre die Schuldnerin bei Einlösung des ersten Schecks bereits
  174. seit einer Frist von knapp drei Wochen ab dem 31. März 2000 nicht in der Lage
  175. gewesen, fällige Verbindlichkeiten in Höhe von mindestens 4,92 Mio. DM zu
  176. begleichen. Sie konnte sie auch in der Folgezeit nicht tilgen. Sofern es sich
  177. hierbei nicht nur um einen unerheblichen Teil der Verbindlichkeiten der Schuldnerin gehandelt hat, lag deshalb bereits seit 31. März 2000 Zahlungseinstellung
  178. vor (vgl. BGHZ 163, 134, 144 ff).
  179. 23
  180. Eine einmal eingetretene Zahlungseinstellung hätte danach nur dadurch
  181. wieder beseitigt werden können, dass die Schuldnerin ihre Zahlungen allgemein
  182. wieder aufgenommen hätte (BGHZ 149, 100, 101; 149, 178, 188). Das hätte
  183. derjenige zu beweisen, der sich hierauf beruft (BGHZ 149, 100, 101).
  184. 24
  185. d) Das Berufungsurteil hat eine Zahlungseinstellung vor allem auch deshalb abgelehnt hat, weil die Nichtbegleichung der Verbindlichkeiten nicht nach
  186. außen in Erscheinung getreten sei. Auch dies ist indessen unzutreffend. Durch
  187. die Nichtzahlung der Sozialversicherungsbeiträge, der Löhne und der sonst fäl-
  188. -9-
  189. ligen Verbindlichkeiten über einen Zeitraum von mehr als drei Wochen nach
  190. Fälligkeit ist für die beteiligten Verkehrskreise hinreichend erkennbar geworden,
  191. dass die Nichtzahlung auf einem objektiven Mangel an Geldmitteln beruhte.
  192. Gerade Sozialversicherungsbeiträge und Löhne werden typischerweise nur
  193. dann nicht bei Fälligkeit bezahlt, wenn die erforderlichen Geldmittel hierfür nicht
  194. vorhanden sind (zu den Sozialversicherungsbeiträgen vgl. etwa BGH, Beschl. v.
  195. 13. Juni 2006 - IX ZB 238/05, ZIP 2006, 1457, 1458). Einer ausdrücklichen Zahlungsverweigerung bedarf es nicht (BGH, Urt. v. 22. November 1990 - IX ZR
  196. 103/90, ZIP 1991, 39, 40).
  197. III.
  198. 25
  199. Das angefochtene Urteil ist danach aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO); die
  200. Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht
  201. zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dabei macht der Senat von der
  202. Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch. Das Berufungsgericht wird
  203. die Voraussetzungen eines Anfechtungsanspruchs nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO erneut zu prüfen und die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen hierfür
  204. zu treffen haben.
  205. 26
  206. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
  207. 27
  208. 1. Sofern eine Zahlungseinstellung gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO nicht
  209. festgestellt werden kann, ist zu prüfen, ob die Schuldnerin zahlungsunfähig war,
  210. § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO. Ist die Schuldnerin nicht in der Lage, sich innerhalb
  211. von drei Wochen die zur Begleichung der fälligen Forderungen benötigten finanziellen Mittel zu beschaffen, handelt es sich nicht mehr um eine rechtlich
  212. - 10 -
  213. unerhebliche Zahlungsstockung (BGHZ 163, 134, 139 f). Beträgt die innerhalb
  214. von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke der Schuldnerin weniger
  215. als 10 % ihrer fälligen Gesamtverbindlichkeiten, ist regelmäßig von Zahlungsfähigkeit auszugehen, es sei denn, es ist bereits absehbar, dass die
  216. Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen wird. Beträgt die Liquiditätslücke der
  217. Schuldnerin 10 % oder mehr, ist dagegen regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit
  218. auszugehen, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig
  219. oder fast vollständig geschlossen wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach
  220. den besonderen Umständen des Einzelfalles zuzumuten ist (BGHZ 163, 134,
  221. 142 f).
  222. 28
  223. a) Die Frage, ob noch von einer vorübergehenden Zahlungsstockung
  224. oder schon von einer (endgültigen) Zahlungsunfähigkeit auszugehen ist, muss
  225. allein aufgrund der objektiven Umstände beantwortet werden (BGHZ 163, 134,
  226. 140; MünchKomm-InsO/Eilenberger, § 17 Rn. 6; HK-InsO/Kirchhof, aaO § 17
  227. Rn. 5). Zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit im Sinne des § 17 Abs. 2
  228. Satz 1 InsO kann eine Liquiditätsbilanz aufzustellen sein. Dabei sind die im
  229. maßgeblichen Zeitpunkt verfügbaren und innerhalb von drei Wochen flüssig zu
  230. machenden Mittel in Beziehung zu setzen zu den am selben Stichtag fälligen
  231. und eingeforderten Verbindlichkeiten (vgl. BGHZ 163, 134, 138; HKInsO/Kirchhof, aaO § 17 Rn. 24; MünchKomm-InsO/Eilenberger, § 17 Rn. 10;
  232. Uhlenbruck, InsO 12. Aufl. § 17 Rn. 18). Eine solche Liquiditätsbilanz ist jedoch
  233. nicht erforderlich, wenn anderweitig festgestellt werden kann, dass der Schuldner einen wesentlichen Teil seiner fälligen Verbindlichkeiten nicht bezahlen
  234. konnte. Die vom Berufungsgericht geforderte Liquiditätsbilanz ist nötig, wenn
  235. eine Prognose erforderlich ist, also etwa im Rahmen der Frage, ob Insolvenzantrag zu stellen oder ein Insolvenzverfahren zu eröffnen ist (vgl. BGHZ 163, 134,
  236. - 11 -
  237. 140). Im Anfechtungsprozess lässt sich auch auf andere Weise feststellen, ob
  238. und was der Schuldner zahlen konnte. Haben im fraglichen Zeitpunkt fällige
  239. Verbindlichkeiten bestanden, die bis zur Verfahrenseröffnung nicht mehr beglichen worden sind, ist regelmäßig von der Zahlungsunfähigkeit zu diesem Zeitpunkt auszugehen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn auf Grund konkreter
  240. Umstände, die sich nachträglich geändert haben, damals angenommen werden
  241. konnte, der Schuldner werde rechtzeitig in der Lage sein, die Verbindlichkeiten
  242. zu erfüllen. Dass nicht lediglich eine Zahlungsstockung vorlag, ist im Nachhinein
  243. ohne weiteres feststellbar. Es bedarf insoweit keiner Prognose.
  244. 29
  245. b) Der Kläger hat behauptet, dass im Zeitpunkt der Einlösung des ersten
  246. Schecks am 20. April 2000 bei der Schuldnerin Verbindlichkeiten aus Lieferung
  247. und Leistung in Höhe von ca. 5,45 Mio. DM fällig gewesen seien, die von den
  248. Gläubigern hätten zur Tabelle angemeldet werden müssen, und die trotz aller
  249. Einnahmen, die die Schuldnerin erzielt habe, nicht mehr hätten bedient werden
  250. können. Bei Einlösung des zweiten Schecks am 4. Mai 2000 seien ca.
  251. 5,78 Mio. DM aus Verbindlichkeiten aus Lieferung und Leistung fällig gewesen,
  252. die bis zuletzt trotz der Eingänge unbedient geblieben seien. Trifft dies zu, lag in
  253. den genannten Zeitpunkten Zahlungsunfähigkeit vor.
  254. 30
  255. 2. Anfechtungsvoraussetzung ist gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO, dass
  256. die Beklagte die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin kannte. Hierzu hat der
  257. Kläger vorgetragen, das Berufungsgericht aber keine Feststellungen getroffen.
  258. Für die Kenntnis genügt es, wenn die Beklagte aus den ihr bekannten Tatsachen und dem Verhalten der Schuldnerin bei natürlicher Betrachtungsweise den
  259. zutreffenden Schluss gezogen hat, dass die Schuldnerin wesentliche Teile, d.h.
  260. 10 % und mehr, ihrer fällig gestellten Verbindlichkeiten in einem Zeitraum von
  261. drei Wochen nicht wird tilgen können (HK-InsO/Kreft, aaO § 130 Rn. 23). Dieser
  262. - 12 -
  263. Kenntnis steht nach § 130 Abs. 2 InsO die Kenntnis von Umständen gleich, die
  264. zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit schließen lassen.
  265. 31
  266. 3. Das Berufungsgericht wird bei der Prüfung dieser Fragen auch das
  267. von der Beklagten erstattete Gutachten zu berücksichtigen haben, in dem aus
  268. deren Sicht ausgeführt ist, unter welchen Voraussetzungen Zahlungsunfähigkeit
  269. der Schuldnerin gegeben war.
  270. Dr. Gero Fischer
  271. Vill
  272. Dr. Ganter
  273. Dr. Kayser
  274. Dr. Detlev Fischer
  275. Vorinstanzen:
  276. LG Hamburg, Entscheidung vom 17.12.2002 - 327 O 206/02 OLG Hamburg, Entscheidung vom 26.09.2003 - 9 U 39/03 -