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212 lines
12 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. IV ZR 66/05
  5. Verkündet am:
  6. 11. Oktober 2006
  7. Heinekamp
  8. Justizhauptsekretär
  9. als Urkundsbeamter
  10. der Geschäftsstelle
  11. in dem Rechtsstreit
  12. -2-
  13. Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Richter
  14. Seiffert als Vorsitzenden und die Richter Dr. Schlichting, Wendt, die
  15. Richterin Dr. Kessal-Wulf und den Richter Dr. Franke auf die mündliche
  16. Verhandlung vom 11. Oktober 2006
  17. für Recht erkannt:
  18. Die Revision gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des
  19. Saarländischen Oberlandesgerichts vom 26. Januar
  20. 2005 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
  21. Von Rechts wegen
  22. Tatbestand:
  23. 1
  24. Der Kläger, von Beruf Betonmaurer, nimmt die Beklagte auf Leistungen aus einer bei ihr gehaltenen Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung in Anspruch, der ihre Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZ) zugrunde liegen.
  25. 2
  26. Am 21. Dezember 2001 verletzte sich der Kläger bei einem Arbeitsunfall am rechten Fuß und ist seitdem arbeitsunfähig krank geschrieben. Er erlitt eine so genannte Maisonneuve-Fraktur, die komplizierte Sonderform einer Sprunggelenkfraktur. Diese inzwischen unstreitige Diagnose wurde jedoch erst im April 2002 gestellt. Die Verletzung
  27. wurde konservativ behandelt. Einen Arbeitsversuch am 27. Juni 2002
  28. musste der Kläger wegen anhaltender Schmerzen beim Gehen und
  29. -3-
  30. Schwellneigung im Sprunggelenk abbrechen. Während der behandelnde
  31. Arzt noch Ende Mai 2002 einen Termin für die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit nicht abzuschätzen vermochte, stellte er nach dem fehlgeschlagenen Arbeitsversuch Anfang Juli 2002 einen deutlich diskrepanten
  32. Unterschied zwischen dem objektiv erhobenen Befund und den subjektiven Beschwerden des Klägers fest. Die Beklagte erkannte ihre Leistungspflicht mit Schreiben vom 14. Januar 2003 an und gewährte dem
  33. Kläger rückwirkend ab dem 1. Juli 2002 eine monatliche Rente sowie die
  34. vertraglich vereinbarte Beitragsbefreiung. Der Kläger ist der Ansicht, er
  35. sei bereits am Tag des Unfalls bedingungsgemäß berufsunfähig geworden, und begehrt von der Beklagten auch für die ersten sechs Monate
  36. seit dem Unfallereignis die Zahlung einer Rente sowie die Erstattung geleisteter Beiträge.
  37. 3
  38. Das Landgericht hat seine Klage auf Zahlung von insgesamt
  39. 6.586,80 € abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter.
  40. Entscheidungsgründe:
  41. 4
  42. Die Revision hat keinen Erfolg.
  43. 5
  44. I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt:
  45. -4-
  46. 6
  47. Der Kläger habe nicht bewiesen, dass er bereits ab Unfalleintritt
  48. berufsunfähig gewesen sei. Vollständige Berufsunfähigkeit im Sinne des
  49. § 2 Abs. 1 BUZ setze voraus, dass der Versicherungsnehmer infolge
  50. Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen seien, voraussichtlich dauernd außer Stande sei, seinen Beruf oder
  51. eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden könne und seiner bisherigen Lebensstellung
  52. entspreche. Entscheidend sei daher der Zeitpunkt, zu dem erstmals die
  53. Prognose gestellt werden könne, dass der Zustand des Versicherten
  54. nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft keine Erwartungen auf
  55. eine Besserung mehr rechtfertige. Dieser Zeitpunkt sei rückschauend zu
  56. ermitteln. Dabei sei weder auf frühere Prognosen der den Versicherungsnehmer behandelnden Ärzte abzustellen noch auf den Zustand des
  57. Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
  58. Vielmehr sei maßgebend, wann nach sachverständiger Einschätzung ein
  59. gut ausgebildeter, wohl informierter und sorgfältig handelnder Arzt nach
  60. dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft erstmals einen
  61. Zustand des Versicherungsnehmers als gegeben ansehe, der keine Besserung mehr erwarten lasse.
  62. 7
  63. Die Formulierung "voraussichtlich dauernd" in § 2 Abs. 1 BUZ sei
  64. entgegen der Auffassung des Klägers nicht dahin auszulegen, dass es
  65. darauf ankomme, ob mit einer Wiedereingliederung des Versicherungsnehmers in das Arbeitsleben zu mehr als der Hälfte seiner Arbeitskraft
  66. binnen sechs Monaten zu rechnen sei. Vielmehr komme es schon unter
  67. Berücksichtigung des Wortlauts der Klausel darauf an, ob eine Veränderung des aktuellen, die Berufsunfähigkeit begründenden Zustands nicht
  68. absehbar sei. Zu Unrecht stütze sich der Kläger für seine Ansicht auf ei-
  69. -5-
  70. nen Umkehrschluss aus der in § 2 Abs. 3 BUZ enthaltenen Fiktion, wonach die Fortdauer eines Zustandes im Sinne des § 2 Abs. 1 BUZ über
  71. einen Zeitraum von sechs Monaten als (vollständige oder teilweise) Berufsunfähigkeit gelte. Die Fiktion des § 2 Abs. 3 BUZ mache im Gegenteil
  72. deutlich, dass "an sich" auch nach sechsmonatiger Berufsunfähigkeit
  73. grundsätzlich noch nicht von ihrer Dauerhaftigkeit ausgegangen werden
  74. könne.
  75. 8
  76. Der Sachverständige habe in seinem Gutachten vom 22. November 2003 und in seiner schriftlichen Stellungnahme zur Nachfrage des
  77. Senats überzeugend dargelegt, dass erstmals nach dem gescheiterten
  78. Arbeitsversuch des Klägers am 27. Juni 2002 davon ausgegangen werden konnte, dieser würde auf absehbare Zeit nicht wieder in seinem Beruf arbeiten können. Zwar ergebe sich aus dem Gutachten, dass dem
  79. Kläger, wäre das Ausmaß seiner Verletzung von Anfang an zutreffend
  80. erkannt worden, zu einem operativen Eingriff geraten worden wäre, dem
  81. dieser sich entgegen seinem früheren Sachvortrag auch unterzogen hätte. Gleichwohl hätte bis zum 27. Juni 2002 sowohl bei Durchführung einer Operation als auch einer konservativen Behandlung die Möglichkeit
  82. einer vollständigen Genesung bestanden. Selbst bei einer Operation im
  83. April 2002 hätte die Heilungschance noch 40% betragen. Ausgehend
  84. vom Stand der Wissenschaft zum jeweiligen Untersuchungszeitpunkt
  85. hätte daher vor Durchführung des Arbeitsversuchs kein Mediziner die
  86. Prognose bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit gestellt.
  87. 9
  88. II. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand. Das Berufungsgericht
  89. hat die Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1
  90. -6-
  91. BUZ beim Kläger für die ersten sechs Monate seit dem Unfallereignis im
  92. Ergebnis zutreffend verneint.
  93. 10
  94. 1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit weder allein die zu diesem Zustand führende Krankheit maßgebend noch die mit dem Krankheitsprozess verbundene Unfähigkeit zur Berufsausübung. Damit diese
  95. Beeinträchtigungen zu bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit werden,
  96. muss der körperlich-geistige Gesamtzustand des Versicherten derart beschaffen sein, dass eine günstige Prognose für die Wiederherstellung
  97. der verloren gegangenen Fähigkeiten in einem überschaubaren Zeitraum
  98. nicht gestellt werden kann; es muss demnach ein Zustand erreicht sein,
  99. dessen Besserung zumindest bis zur Wiederherstellung der halben Arbeitskraft nicht mehr zu erwarten ist (Senatsurteile vom 22. Februar 1984
  100. - IVa ZR 63/82 - VersR 1984, 630 unter III; vom 21. März 1990 - IV ZR
  101. 39/89 - VersR 1990, 729 unter I 1). Wann erstmals ein solcher Zustand
  102. gegeben war, der nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft keine
  103. Erwartungen mehr auf eine Besserung rechtfertigte, ist danach rückschauend festzustellen bzw. zu ermitteln (Senatsurteile vom 22. Februar
  104. 1984 und vom 21. März 1990, jeweils aaO; Senatsurteil vom 27. September 1995 - IV ZR 319/94 - VersR 1995, 1431 unter 2 a). Der hier in
  105. der Rechtsprechung des Senats verwendete Begriff der rückschauenden
  106. Feststellung trägt dem Umstand Rechnung, dass der Versicherungsnehmer den Vollbeweis dafür führen muss, dass und wann die nach § 2
  107. Abs. 1 BUZ erforderliche ärztliche Prognose möglich war und er diesen
  108. Beweis regelmäßig nur mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen
  109. führen kann (Senatsurteil vom 14. Juni 1989 - IVa ZR 74/88 - VersR
  110. 1989, 903 unter 3 c; vgl. auch Voit/Knappmann in Prölss/Martin, VVG
  111. -7-
  112. VVG 27. Aufl. § 2 BUZ Rdn. 57). Der Sachverständige aber wird auch als
  113. Mediziner des einschlägigen Fachgebietes meist erst in nachträglicher
  114. Auswertung der jeweiligen Krankengeschichte feststellen können, ab
  115. wann bei dem Versicherungsnehmer ein nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg therapierbarer Zustand mit Krankheitswert eingetreten war, dies
  116. nicht zuletzt auch deshalb, weil die Medizin in ständiger Fortentwicklung
  117. begriffen ist und neue Heilmethoden gefunden werden (Senatsurteil vom
  118. 27. September 1995 aaO unter 2 b). Damit betrifft der Gesichtspunkt der
  119. rückschauenden Feststellung bzw. Ermittlung, der das Berufungsgericht
  120. zur Zulassung der Revision veranlasst hat, nicht die materiellen Voraussetzungen des Anspruchs auf die Versicherungsleistung in der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung, sondern, wie die Beklagte in ihrer Revisionserwiderung zutreffend hervorgehoben hat, allein die Frage, ob und ab
  121. welchem Zeitpunkt der Versicherungsnehmer das Vorliegen der Voraussetzungen bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit hat nachweisen können.
  122. 11
  123. a) Das Berufungsgericht hat daher den Ausführungen des Sachverständigen zutreffend die nach der Senatsrechtsprechung erforderliche
  124. rückschauende Feststellung entnommen, wonach beim Kläger erstmals
  125. nach dem gescheiterten Versuch der Arbeitsaufnahme am 27. Juni 2002
  126. von einem Zustand ausgegangen werden konnte, der eine Wiederherstellung seiner Arbeitskraft zu mindestens 50% in absehbarer Zeit nicht
  127. mehr erwarten ließ. Denn in dem davor liegenden Zeitraum seit dem Unfallereignis bestand nach Einschätzung des Sachverständigen bei einer
  128. - im Fall der Maisonneuve-Fraktur vorzugswürdigen - operativen Therapie je nach Zeitpunkt der Durchführung eine Heilungschance von 90%
  129. bis 40%; wäre die Verletzung unmittelbar nach dem Unfall erkannt wor-
  130. -8-
  131. den, hätte der Kläger bei komplikationslosem Verlauf einer langfristigen
  132. konservativen Gipsbehandlung nach etwa vier bis fünf Monaten in seinem Beruf wieder arbeiten können. Schon deshalb ist dem Kläger der
  133. Nachweis bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit für den Zeitraum zwischen seinem Unfall und dem gescheiterten Arbeitsversuch misslungen.
  134. Der Rückgriff des Berufungsgerichts auf die Beurteilung des betreffenden Zeitpunktes durch einen gut informierten, sorgfältigen, wohl ausgebildeten Arzt kann in Fällen der vorliegenden Art neben den oben näher
  135. dargelegten Gesichtspunkten keine eigenständige Bedeutung erlangen.
  136. Ebenso unerheblich sind die Einschätzung sowie die Erkenntnisse der
  137. zum damaligen Zeitpunkt behandelnden Ärzte, die durchgeführten Therapien oder der Befund zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung
  138. (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 1984 aaO). Den Eintritt des Versicherungsfalles bestimmt - auch unabhängig vom jeweiligen Kenntnisstand
  139. des Versicherungsnehmers - allein der oben näher dargelegte Zeitpunkt.
  140. Dass die Ausführungen des Sachverständigen dazu dem Stand der medizinischen Wissenschaft im vorliegenden Fall nicht entsprochen haben,
  141. hat der Kläger hier nicht gerügt.
  142. 12
  143. b) Der Auffassung des Klägers, bei der nach § 2 Abs. 1 BUZ zu
  144. treffenden Prognoseentscheidung ("voraussichtlich dauernd") sei unter
  145. Berücksichtigung der in § 2 Abs. 3 BUZ enthaltenen Fiktion lediglich darauf abzustellen, ob mit einer Wiedereingliederung in das Arbeitsleben zu
  146. mehr als der Hälfte der Arbeitskraft binnen sechs Monaten zu rechnen
  147. sei, ist das Berufungsgericht zu Recht nicht gefolgt. In den erwähnten
  148. Entscheidungen hat der Senat ausgesprochen, die Voraussetzung "voraussichtlich dauernd" sei jedenfalls dann erfüllt, wenn eine günstige
  149. Prognose für die Wiederherstellung der verloren gegangenen Fähigkei-
  150. -9-
  151. ten in einem überschaubaren Zeitraum bzw. in absehbarer Zeit nicht gestellt werden könne. Eine genaue Eingrenzung dieses Zeitraums kann im
  152. vorliegenden Fall dahinstehen (vgl. dazu OLG Hamm VersR 1995, 84
  153. sowie 1995, 1039). Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat,
  154. lässt sich der Standpunkt des Klägers weder im Wege der Auslegung
  155. des § 2 Abs. 1 BUZ begründen noch aus Absatz 3 der Klausel herleiten,
  156. der den Versicherungsnehmer auf Dauer vor Nachteilen schützen soll,
  157. die daraus entstehen, dass sich die für § 2 Abs. 1 BUZ erforderliche
  158. Prognose gerade nicht stellen lässt (vgl. dazu Voit/Knappmann, aaO
  159. Rdn. 63 m.w.N.).
  160. - 10 -
  161. 13
  162. 2. Die Verfahrensrüge hat der Senat geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet.
  163. Seiffert
  164. Dr. Schlichting
  165. Dr. Kessal-Wulf
  166. Wendt
  167. Dr. Franke
  168. Vorinstanzen:
  169. LG Saarbrücken, Entscheidung vom 19.05.2004 - 12 O 133/03 OLG Saarbrücken, Entscheidung vom 26.01.2005 - 5 U 356/04-42- -