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298 lines
18 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. I ZR 170/10
  4. Verkündet am:
  5. 18. Januar 2012
  6. Führinger
  7. Justizangestellte
  8. als Urkundsbeamtin
  9. der Geschäftsstelle
  10. in dem Rechtsstreit
  11. Nachschlagewerk:
  12. ja
  13. BGHZ:
  14. nein
  15. BGHR:
  16. ja
  17. Betriebskrankenkasse
  18. Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. d; UWG §§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 7
  19. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung der Richtlinie
  20. 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005
  21. über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr
  22. zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie
  23. 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004
  24. des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. EG Nr. L 149 vom 11. Juni
  25. 2005, S. 22) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
  26. Ist Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2005/29/EG
  27. über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen, dass eine sich als Geschäftspraxis eines Unternehmens gegenüber Verbrauchern darstellende
  28. Handlung eines Gewerbetreibenden auch darin liegen kann, dass eine gesetzliche Krankenkasse gegenüber ihren Mitgliedern (irreführende) Angaben darüber
  29. macht, welche Nachteile den Mitgliedern im Falle eines Wechsels zu einer anderen gesetzlichen Krankenkasse entstehen?
  30. BGH, Beschluss vom 18. Januar 2012 - I ZR 170/10 - OLG Celle
  31. LG Lüneburg
  32. -2-
  33. Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
  34. vom 30. November 2011 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und
  35. die Richter Pokrant, Dr. Schaffert, Dr. Koch und Dr. Löffler
  36. beschlossen:
  37. I.
  38. Das Verfahren wird ausgesetzt.
  39. II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung
  40. der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und
  41. des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie
  42. 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG und
  43. 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen
  44. Parlaments und des Rates (ABl. EG Nr. L 149 vom 11. Juni
  45. 2005, S. 22) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
  46. Ist Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen, dass eine - sich als Geschäftspraxis eines Unternehmens gegenüber Verbrauchern darstellende - Handlung
  47. eines Gewerbetreibenden auch darin liegen kann, dass eine
  48. gesetzliche Krankenkasse gegenüber ihren Mitgliedern (irreführende) Angaben darüber macht, welche Nachteile den Mitgliedern im Falle eines Wechsels zu einer anderen gesetzlichen Krankenkasse entstehen?
  49. Gründe:
  50. 1
  51. I. Die Klägerin, die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs,
  52. nimmt die Beklagte, eine als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisierte
  53. gesetzliche Krankenkasse, hauptsächlich auf Unterlassung der folgenden im
  54. Dezember 2008 auf ihrer Internetseite erschienenen Aussagen in Anspruch:
  55. -3-
  56. Wer die BKK M.
  57. jetzt verlässt, bindet sich an die Neue für die nächsten
  58. 18 Monate. Somit entgehen Ihnen attraktive Angebote, die Ihnen die BKK M.
  59. im nächsten Jahr bietet und Sie müssen am Ende möglicherweise drauf
  60. zahlen, wenn Ihre neue Kasse mit dem ihr zugeteilten Geld nicht auskommt und
  61. deswegen einen Zusatzbeitrag erhebt.
  62. 2
  63. Die Klägerin ist der Auffassung, die beanstandeten Informationen seien
  64. irreführend und daher wettbewerbsrechtlich unzulässig. Die Beklagte verschweige, dass im Falle der Erhebung eines Zusatzbeitrags für die Versicherungsnehmer ein gesetzliches Sonderkündigungsrecht bestehe. Die Klägerin
  65. mahnte die Beklagte deshalb mit Schreiben vom 17. Dezember 2008 ab und
  66. forderte sie zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung sowie zur
  67. Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten auf. Die Beklagte entfernte
  68. die beanstandeten Aussagen daraufhin von ihrer Internetseite. Mit Schreiben
  69. vom 6. Januar 2009 teilte sie der Klägerin mit, sie räume ein, auf ihre Internetseite eine fehlerhafte Information eingestellt zu haben, und sage zu, zukünftig
  70. nicht mehr mit den beanstandeten Aussagen zu werben. Zur Abgabe einer
  71. strafbewehrten Unterlassungserklärung und zur Übernahme von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten war die Beklagte nicht bereit.
  72. 3
  73. Die Beklagte ist der Ansicht aufgrund der Ausstrahlungswirkung der
  74. Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken seien die Vorschriften
  75. des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb auf den Streitfall nicht anwendbar. Die Richtlinie erfordere nach ihrem Art. 2 Buchst. d die "Geschäftspraktik" eines "Gewerbetreibenden" im Sinne von Art. 2 Buchst. b der
  76. Richtlinie. Daran fehle es im vorliegenden Fall, weil sie als Körperschaft des
  77. öffentlichen Rechts nicht mit Gewinnerzielungsabsicht handele.
  78. 4
  79. Das Landgericht hat die Beklagte unter Androhung von Ordnungsmitteln
  80. verurteilt, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbszwecken mit den beanstandeten Aussagen zu werben und an die Klägerin 208,65 €
  81. -4-
  82. nebst Zinsen zu zahlen. Die dagegen gerichtete Berufung ist erfolglos geblieben (OLG Celle, WRP 2010, 1548 = GRUR-RR 2011, 111). Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.
  83. 5
  84. II. Der Erfolg der Revision hängt, soweit die Verurteilung zur Unterlassung in Rede steht, von der Auslegung des Art. 3 Abs. 1 und des Art. 2
  85. Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und
  86. des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und
  87. zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG,
  88. 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie
  89. der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des
  90. Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken - ABl. EG Nr. L 149 vom
  91. 11. Juni 2005, S. 22) ab. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel der Beklagten ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1
  92. Buchst. b, Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
  93. 6
  94. Der Senat möchte in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht einen
  95. Verstoß gegen §§ 3, 5 Abs. 1 UWG aF, § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7
  96. UWG bejahen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die angegriffene Werbemaßnahme überhaupt nach den Vorschriften des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb beurteilt werden kann.
  97. 7
  98. 1. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG handelt unlauter, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt. Eine "geschäftliche Handlung" ist nach
  99. § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG jedes Verhalten einer Person zugunsten des eigenen
  100. oder eines fremden Unternehmens vor, bei oder nach einem Geschäftsab-
  101. -5-
  102. schluss, das mit der Förderung des Absatzes oder des Bezugs von Waren oder
  103. Dienstleistungen oder mit dem Abschluss oder der Durchführung eines Vertrags
  104. über Waren und Dienstleistungen objektiv zusammenhängt. "Unternehmer" im
  105. Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 6 UWG ist jede natürliche oder juristische Person, die
  106. geschäftliche Handlungen im Rahmen einer gewerblichen, handwerklichen oder
  107. beruflichen Tätigkeit vornimmt. Die genannten Vorschriften dienen der Umsetzung der Art. 5 und 6 Abs. 1 Buchst. g, Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie
  108. 2005/29/EG. Sie sind daher im Lichte des Wortlauts und der Ziele dieser Richtlinie auszulegen (EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004 - C-397/01 bis C-403/01,
  109. Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 f. = EuZW 2004, 691 - Pfeiffer u.A./Deutsches Rotes
  110. Kreuz, Kreisverband Waldshut e.V.; BGH, Urteil vom 26. November 2008
  111. - VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 Rn. 19 ff.).
  112. 8
  113. a) Als nicht geklärt kann angesehen werden, ob Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG eine Auslegung von
  114. § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 6 UWG erlaubt, nach der die beanstandete Handlung als
  115. Geschäftspraktik im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern anzusehen ist und die Beklagte, die als Körperschaft des öffentlichen
  116. Rechts die Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung erfüllt, bei Vornahme der beanstandeten Maßnahme als Gewerbetreibende gehandelt hat.
  117. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat diese Frage bislang - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden.
  118. 9
  119. b) Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29/EG findet die Richtlinie Anwendung auf unlautere Geschäftspraktiken zwischen Unternehmen und Verbrauchern. Als "Geschäftspraktik zwischen Unternehmen und Verbrauchern"
  120. wird in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und
  121. Marketing eines Gewerbetreibenden bezeichnet, die unmittelbar mit der Absatz-
  122. -6-
  123. förderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt. Gemäß Art. 2 Buchst. b der Richtlinie ist "Gewerbetreibender"
  124. jede natürliche oder juristische Person, die im Geschäftsverkehr im Sinne dieser Richtlinie im Rahmen ihrer gewerblichen, handwerklichen oder beruflichen
  125. Tätigkeit handelt.
  126. 10
  127. Die von der Richtlinie verwendeten Rechtsbegriffe "Geschäftspraktik von
  128. Unternehmen gegenüber Verbrauchern" und "Gewerbetreibender" sind als Begriffe des Gemeinschaftsrechts autonom auszulegen (EuGH, Urteil vom
  129. 11. März 2003 - C-40/01, Slg. 2003, I-2439 Rn. 26 = GRUR 2003, 425 - Ansul
  130. BV/Ajax Brandbeveiliging BV; Köhler in Köhler/Bornkamm, UWG, 30. Aufl., Einl.
  131. UWG Rn. 3.11 ff.) und setzen eine marktbezogene, wirtschaftliche Tätigkeit eines Unternehmens voraus.
  132. 11
  133. Ein Unternehmen ist jede Einheit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung (EuGH,
  134. Urteil vom 11. Dezember 2007 - C-280/06, Slg. 2007, I-10893 Rn. 38 = WuW/E
  135. EU-R 1353 - ETI u.a.; Urteil vom 3. März 2011 - C-437/09, WuW/E EU-R 1929
  136. Rn. 41 - AG2R Prévoyance). Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist jede Tätigkeit, die
  137. im Anbieten von Gütern oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt besteht (EuGH, Urteil vom 11. Juli 2006 - C-205/03 P, Slg. 2006, I-6295 Rn. 25
  138. = WuW/E
  139. EU-R
  140. 1213
  141. - FENIN/Kommission;
  142. Urteil
  143. vom
  144. 3. März
  145. 2011
  146. - C-437/09, WuW/E EU-R 1929 Rn. 42 - AG2R Prévoyance).
  147. 12
  148. Im Zusammenhang mit der Anwendung der Art. 81, 82 und 86 EG (jetzt:
  149. Art. 101, 102 und 106 AEUV) auf soziale Sicherungssysteme hat der Gerichtshof entschieden, dass die deutschen gesetzlichen Krankenkassen bei der Festsetzung der Festbeträge für Arzneimittel weder als Unternehmen noch deren
  150. Zusammenschlüsse als Unternehmensvereinigungen im Sinne der genannten
  151. -7-
  152. Vorschriften tätig werden (EuGH, Urteil vom 16. März 2004 - C-264/01 u.a., Slg.
  153. 2004, I-2493 Rn. 47 ff. = WuW/E EU-R 801 - AOK Bundesverband u.a./IchthyolGesellschaft Cordes Hermani & Co u.a.; siehe auch für Sozialversicherungssysteme anderer Mitgliedstaaten EuGH, Urteil vom 17. Februar 1993 - C-159/91,
  154. C-160/91, Slg. 1993, I-637 Rn. 15, 18 = EuZW 1993, 355 - Poucet und Pistre).
  155. Danach verfolgen Einrichtungen, die mit der Verwaltung gesetzlicher Krankenund Rentenversicherungssysteme betraut sind und dabei der staatlichen Aufsicht unterliegen, einen rein sozialen Zweck und üben insoweit keine wirtschaftliche Tätigkeit aus, wenn sie nur Gesetze anwenden und keine Möglichkeit haben, auf die Höhe der Beiträge, die Verwendung der Mittel und die Bestimmung
  156. des Leistungsumfangs Einfluss zu nehmen. Auch die deutschen gesetzlichen
  157. Krankenkassen erbringen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Wesentlichen gleiche Pflichtleistungen, unabhängig von der Höhe der Beiträge und
  158. ohne eine Gewinnerzielungsabsicht. Ihre Tätigkeit beruhe auf dem Grundsatz
  159. der nationalen Solidarität. Aus diesem Umstand sowie aus dem zwischen den
  160. Krankenkassen bestehenden Kosten- und Risikoausgleich folge, dass die gesetzlichen Krankenkassen weder miteinander noch mit den privaten Einrichtungen hinsichtlich der Erbringung des gesetzlich vorgeschriebenen Leistungskatalogs konkurrierten. Dieser Bewertung stehe - so der Gerichtshof - nicht entgegen, dass die Krankenkassen in gewissem Umfang im Wettbewerb um Mitglieder stünden und in diesem Zusammenhang auch über einen gewissen Spielraum bei der Festsetzung der Beiträge verfügten (EuGH, Slg. 2004, I-2493
  161. Rn. 51 ff. - AOK Bundesverband u.a./Ichthyol-Gesellschaft Cordes Hermani &
  162. Co u.a.).
  163. 13
  164. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat es allerdings auch für möglich erachtet, dass die Krankenkassen und die sie vertretenden Einheiten (Kassenverbände) außerhalb ihrer Aufgabe rein sozialer Art im Rahmen der Verwaltung des deutschen Systems der sozialen Sicherheit Geschäftstätigkeiten aus-
  165. -8-
  166. üben, die keinen sozialen, sondern einen wirtschaftlichen Zweck haben. In diesem Fall wären sie im Rahmen dieser Tätigkeiten als Unternehmen anzusehen
  167. (EuGH, Slg. 2004, I-2493 Rn. 58 - AOK Bundesverband u.a./Ichthyol-Gesellschaft Cordes Hermani & Co u.a.; Urteil vom 5. März 2009 - C-350/07, Slg.
  168. 2009, I-1538 Rn. 42 = WuW/E DE-R 1543 - Kattner Stahlbau GmbH/Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft).
  169. 14
  170. 2. Der Senat hat Zweifel, ob die für die Auslegung von Art. 101 und
  171. Art. 102 AEUV entwickelten Grundsätze auch für die Auslegung von Art. 2
  172. Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG maßgeblich sind. Dagegen könnte
  173. die Zielsetzung der Richtlinie sprechen. Deren Zweck ist es, Verbraucher vor
  174. Beeinträchtigungen ihrer wirtschaftlichen Interessen durch unlautere Geschäftspraktiken im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern zu schützen (vgl. Erwägungsgrund 8 sowie Art. 1 der Richtlinie) und damit der Verwirklichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus zu dienen (Erwägungsgründe 1 und 11). Insofern könnte bei der hier in Rede stehenden Auslegung der Richtlinie von maßgeblicher Bedeutung sein, ob die beanstandete
  175. Maßnahme aus Sicht der Verbraucher, die die von der Beklagten angebotene
  176. Dienstleistung nachfragen, einen Marktbezug hat. Dafür könnte Erwägungsgrund 7 der Richtlinie sprechen, nach dem sich die Richtlinie auf Geschäftspraktiken bezieht, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Beeinflussung der geschäftlichen Entscheidungen des Verbrauchers in Bezug auf
  177. Produkte stehen.
  178. 15
  179. Jedenfalls dann, wenn irreführende Handlungen im Verhältnis zu Verbrauchern in einem Bereich ergriffen werden, der von einem Teilwettbewerb
  180. zwischen den anbietenden Einrichtungen geprägt ist, die Maßnahme gerade
  181. zum Zwecke der Ausnutzung der vom Gesetzgeber eröffneten wettbewerblichen Handlungsspielräume erfolgt und eine Beeinträchtigung der wirtschaftli-
  182. -9-
  183. chen Interessen der Verbraucher zu befürchten ist, liegt es nahe, diese Handlung als irreführende Geschäftspraktik im Sinne von Art. 6, Art. 3 Abs. 1 und
  184. Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG einzustufen. Für die Beantwortung der Vorlagefrage könnte auch von Bedeutung sein, dass der deutsche Gesetzgeber durch verschiedene gesetzgeberische Maßnahmen (vgl. Gesetz zur
  185. Sicherung und Strukturverbesserung in der gesetzlichen Krankenkasse [Gesundheitsstrukturgesetz] vom 21. Dezember 1992, BGBl. I S. 2266; Gesetz zur
  186. Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom
  187. 26. März 2007 [GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz], BGBl. I S. 378) zu Gunsten
  188. der gesetzlichen Krankenkassen gezielt Handlungsspielräume eröffnet hat, um
  189. damit einen - wenn auch eingeschränkten - Preis- und Qualitätswettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen zu ermöglichen (vgl. dazu Monopolkommission, 18. Hauptgutachten 2008/2009, BT-Drucks. 17/2600, S. 387 ff.). Gemäß den §§ 173, 175 SGB V haben Versicherungspflichtige und Versicherungsberechtigte das Recht, unter verschiedenen Anbietern den von ihnen bevorzugten Träger einer Krankenkasse zu wählen. Zwar können die Träger der
  190. gesetzlichen Krankenkassen die Beitragssätze nicht frei bestimmen; diese werden seit dem Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes nach § 241
  191. SGB V für alle Kassen einheitlich festgesetzt. Sie haben jedoch die Möglichkeit,
  192. Zusatzbeiträge zu erheben (§ 242 SGB V), Beitragsrückerstattungen zu gewähren (§ 13 Abs. 2 SGB V) und besondere Wahltarife anzubieten (§ 53 SGB V).
  193. Gemeinsames gesetzgeberisches Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Wirtschaftlichkeit des Systems der gesetzlichen Krankenkassen zu verbessern (vgl. die
  194. Regierungsbegründung zum Entwurf des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes,
  195. BT-Drucks. 16/3100, S. 85).
  196. 16
  197. Machen die Krankenkassen von diesen Handlungsmöglichkeiten Gebrauch und treten sie mit anderen Krankenkassen in einen Wettbewerb um Mitglieder, handeln sie nach dem Willen des Gesetzgebers insoweit jedenfalls un-
  198. - 10 -
  199. ternehmerisch. Denn Ziel dieser Wettbewerbshandlungen ist es, die Beiträge
  200. der Mitglieder zu vereinnahmen, um auf diese Weise ihre eigene Einnahmesituation zu verbessern. Aus der Sicht eines Verbrauchers handelt es sich bei der
  201. Wahl der von ihm bevorzugten Krankenkasse aus dem Kreis mehrerer, konkurrierender Anbieter ebenfalls um eine geschäftliche Entscheidung, deren irreführende Beeinflussung durch die gesetzliche Krankenkasse eine Beeinträchtigung
  202. seiner wirtschaftlichen Interessen zur Folge haben kann. Insofern stellt es für
  203. ihn keinen Unterschied dar, ob sich der Marktbezug der beanstandeten Handlung aus einem Wettbewerb zwischen öffentlich-rechtlich organisierten Trägern
  204. sozialer Sicherungssysteme oder zwischen privaten Anbietern ergibt.
  205. 17
  206. Vor dem Hintergrund des mit der Richtlinie 2005/29/EG erstrebten hohen
  207. Verbraucherschutzniveaus erscheint es zweifelhaft, ob eine Auslegung von
  208. Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie, wonach
  209. unlautere Handlungen der gesetzlichen Krankenkassen im Wettbewerb um ihre
  210. Mitglieder vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29/EG ausgenommen
  211. sind, diesem Schutzzweck hinreichend Rechnung trägt.
  212. Bornkamm
  213. Pokrant
  214. Koch
  215. Schaffert
  216. Löffler
  217. Vorinstanzen:
  218. LG Lüneburg, Entscheidung vom 29.10.2009 - 7 O 78/09 OLG Celle, Entscheidung vom 09.09.2010 - 13 U 173/09 -