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188 lines
9.5 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. I ZB 73/07
  4. vom
  5. 3. April 2008
  6. in der Rechtsbeschwerdesache
  7. Nachschlagewerk: ja
  8. BGHZ:
  9. nein
  10. BGHR:
  11. ja
  12. Münchner Weißwurst
  13. MarkenG § 83 Abs. 3; ZPO §§ 139, 233 A
  14. Die Anforderungen daran, was eine Partei veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, dürfen nicht überspannt werden,
  15. um den Zugang zu Gericht nicht unnötig zu erschweren. Eine Partei ist deshalb
  16. auf ersichtlich unvollständige Angaben hinzuweisen. Die Verletzung dieser
  17. Hinweispflicht kann einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs begründen.
  18. BGH, Beschl. v. 3. April 2008 - I ZB 73/07 - Bundespatentgericht
  19. -2-
  20. Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 3. April 2008 durch den
  21. Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und die Richter Pokrant, Prof.
  22. Dr. Büscher, Dr. Bergmann und Dr. Koch
  23. beschlossen:
  24. Auf die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin zu 1 wird der Beschluss des 30. Senats (Marken-Beschwerdesenats) des Bundespatentgerichts vom 9. Juli 2007 aufgehoben.
  25. Der Antragstellerin zu 1 wird Wiedereinsetzung in den vorigen
  26. Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist gewährt.
  27. Der Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde wird auf 50.000 €
  28. festgesetzt.
  29. Gründe:
  30. 1
  31. I. Der Antragstellerin zu 1 (nachfolgend: Antragstellerin) wurde am
  32. 25. November 2005 ein Beschluss des Deutschen Patent- und Markenamts
  33. vom 18. November 2005 zugestellt. Gegen diesen Beschluss legten ihre Verfahrensbevollmächtigten am 13. Dezember 2005 beim Bundespatentgericht per
  34. Telefax Beschwerde ein. Das Original der Beschwerdeschrift ging dem Bun-
  35. -3-
  36. despatentgericht am 14. Dezember 2005 zu. Weder die per Telefax übermittelte
  37. Beschwerdeschrift noch das Original waren unterzeichnet. Nachdem das Bundespatentgericht auf diesen Umstand am 16. Februar 2006 hingewiesen hatte,
  38. hat die Antragstellerin am 17. Februar 2006 Wiedereinsetzung in den vorigen
  39. Stand beantragt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat sie ausgeführt, dass die mit der Postausfertigung betraute Mitarbeiterin in der Kanzlei
  40. der Verfahrensbevollmächtigten versehentlich das unterzeichnete Exemplar der
  41. Beschwerdeschrift in die Handakte geheftet und den nicht unterschriebenen
  42. Schriftsatz dem Bundespatentgericht per Telefax und im Original übermittelt
  43. habe. Die stets zuverlässig arbeitende Mitarbeiterin sei seit 1994 in der Kanzlei
  44. tätig und in alle Aufgabenbereiche von einem Rechtsanwalt der Kanzlei eingewiesen worden.
  45. 2
  46. Das Bundespatentgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Beschwerde der Antragstellerin als unzulässig verworfen.
  47. 3
  48. Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer (nicht zugelassenen)
  49. Rechtsbeschwerde, mit der sie die Versagung des rechtlichen Gehörs rügt.
  50. 4
  51. II. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Bundespatentgericht
  52. ausgeführt:
  53. 5
  54. Die Antragstellerin habe nicht dargelegt, dass die Fristversäumung für ihre Verfahrensbevollmächtigten unverschuldet gewesen sei. Sie habe nichts dazu vorgetragen, durch welche Vorkehrungen und Kontrollen in der Büroorganisation die Verfahrensbevollmächtigten dafür Sorge getragen hätten, dass
  55. Rechtsmittelschriften nur mit Unterschrift versehen in den Versand gelangten.
  56. Damit sei die Möglichkeit nicht ausgeräumt, dass die Einreichung der nicht unterzeichneten Beschwerdeschrift auf einem Verschulden der Verfahrensbevoll-
  57. -4-
  58. mächtigten der Antragstellerin beruht habe. Deren Verschulden müsse sich die
  59. Antragstellerin zurechnen lassen.
  60. 6
  61. III. Die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin hat Erfolg.
  62. 7
  63. 1. Die Statthaftigkeit der form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde folgt daraus, dass ein im Gesetz aufgeführter, die zulassungsfreie
  64. Rechtsbeschwerde eröffnender Verfahrensmangel gerügt wird. Die Rechtsbeschwerde beruft sich auf eine Versagung des rechtlichen Gehörs und hat dies
  65. im Einzelnen begründet. Darauf, ob die Rügen durchgreifen, kommt es für die
  66. Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde nicht an (st. Rspr.; BGH, Beschl. v.
  67. 1.3.2007 - I ZB 33/06, GRUR 2007, 534 Tz. 5 = WRP 2007, 643 - WEST).
  68. 8
  69. 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Der Antragstellerin ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist zu
  70. gewähren. Sie hat die Frist weder aus eigenem Verschulden noch aus ihr zurechenbarem Verschulden ihrer Verfahrensbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO)
  71. versäumt. Die gegenteilige Entscheidung des Bundespatentgerichts beruht auf
  72. einer Verletzung des rechtlichen Gehörs der Antragstellerin (Art. 103 Abs. 1
  73. GG, § 83 Abs. 3 Nr. 3 MarkenG).
  74. 9
  75. Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, dass sie Gelegenheit haben, sich zu dem der gerichtlichen Entscheidung
  76. zugrunde liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern, und dass das
  77. Gericht das Vorbringen zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht (BVerfGE
  78. 86, 133, 144; BGH, Beschl. v. 10.4.2007 - I ZB 15/06, GRUR 2007, 628 Tz. 10
  79. = WRP 2007, 788 - MOON). Dazu gehört, dass bei der Auslegung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung die Anforderungen daran, was die Partei
  80. veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen, insbesondere beim
  81. -5-
  82. "ersten Zugang" zu Gericht nicht überspannt werden (BGHZ 151, 221, 227) und
  83. eine Partei auf ersichtlich unvollständige Angaben hingewiesen wird (BGH,
  84. Beschl. v. 10.5.2006 - XII ZB 42/05, NJW 2006, 2269 Tz. 5 und 10).
  85. 10
  86. a) Der Rechtsanwalt darf einfache Verrichtungen, die keine juristische
  87. Ausbildung verlangen, seinem geschulten und zuverlässigen Büropersonal zur
  88. selbständigen Erledigung übertragen. Hierzu rechnet die Überprüfung ausgehender Rechtsmittelschriften darauf, ob sie unterschrieben sind. Versehen des
  89. Personals bei dieser Kontrolle beruhen nicht auf einem eigenen Verschulden
  90. des Rechtsanwalts, das sich die Partei zurechnen lassen muss, wenn der
  91. Rechtsanwalt durch eine allgemeine Anweisung Vorsorge dafür getroffen hat,
  92. dass unter normalen Umständen Fristversäumnisse wegen fehlender Unterschrift vermieden werden (BGH, Beschl. v. 15.2.2006 - XII ZB 215/05, NJW
  93. 2006, 1205 Tz. 9; Beschl. v. 1.6.2006 - III ZB 134/05, NJW 2006, 2414 Tz. 5).
  94. 11
  95. b) Die Antragstellerin hat mit der Rechtsbeschwerde dargelegt und
  96. glaubhaft gemacht, dass in der Kanzlei ihrer Verfahrensbevollmächtigten die
  97. Arbeitsanweisung besteht, nur solche Schriftstücke zu versenden, die von einem Rechtsanwalt unterschrieben sind und vor der Versendung das Vorhandensein der Unterschrift zu kontrollieren.
  98. 12
  99. Zwar hat die Partei innerhalb der zweiwöchigen Antragsfrist das fehlende
  100. Verschulden darzulegen und glaubhaft zu machen (§§ 233, 234 Abs. 1, § 236
  101. Abs. 2 Satz 1 ZPO). Jedoch dürfen erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, noch
  102. nach Fristablauf erläutert und vervollständigt werden (BGH, Beschl. v.
  103. 13.6.2007 - XII ZB 232/06, NJW 2007, 3212 Tz. 8).
  104. -6-
  105. 13
  106. Das Bundespatentgericht musste der Antragstellerin danach Gelegenheit
  107. zur Ergänzung ihres Vorbringens im Wiedereinsetzungsantrag geben. Die Antragstellerin hatte mit dem Wiedereinsetzungsantrag geltend gemacht, ihr Verfahrensbevollmächtigter habe die Sekretärin persönlich in alle Aufgabenbereiche eingewiesen. Es musste sich dem Bundespatentgericht danach aufdrängen, dass weiterer Vortrag zu den Einzelheiten der Einweisung und der Büroorganisation der Verfahrensbevollmächtigten deshalb unterblieben war, weil die
  108. Antragstellerin diesen in Anbetracht der Art und Weise des Fehlers der Kanzleikraft nicht für erforderlich hielt. Nach dem Wiedereinsetzungsantrag beruhte die
  109. Fristversäumung auf einem Versehen der Sekretärin. Diese war bereits seit
  110. mehr als zehn Jahren in der Kanzlei der Verfahrensbevollmächtigten tätig und
  111. hatte bislang stets zuverlässig gearbeitet. Danach war es naheliegend, dass
  112. das Fristversäumnis auf einem einmaligen Fehlverhalten der Sekretärin und
  113. nicht auf einem Mangel der Büroorganisation der Verfahrensbevollmächtigten
  114. der Antragstellerin beruhte. Das Bundespatentgericht hätte deshalb die Antragstellerin auf fehlenden Vortrag zur Büroorganisation ihrer Verfahrensbevollmächtigten nach § 82 Abs. 1 Satz 1 MarkenG i.V. mit § 139 ZPO hinweisen
  115. müssen. Die gegenteilige Verfahrensweise des Bundespatentgerichts stellt eine
  116. Überraschungsentscheidung dar, die den Anspruch der Antragstellerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
  117. 14
  118. Nach der Vervollständigung des durch anwaltliche Versicherung glaubhaft gemachten Vortrags zum Wiedereinsetzungsantrag ist davon auszugehen,
  119. dass in der Kanzlei der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin die allgemeine Anweisung bestand, Rechtsmittelschriften auf das Vorhandensein der
  120. Unterschrift eines Rechtsanwalts zu kontrollieren. Danach fehlt es an einem der
  121. Partei zurechenbaren Fehlverhalten ihres Verfahrensbevollmächtigten nach
  122. § 82 Abs. 1 Satz 1 MarkenG i.V. mit § 85 Abs. 2 ZPO. Der Fehler der Kanzleikraft ist der Antragstellerin nicht anzulasten.
  123. -7-
  124. 15
  125. Liegen danach die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den
  126. vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist durch die Antragstellerin vor, kann der Senat die Wiedereinsetzung selbst gewähren. § 89 Abs. 4
  127. Satz 1 MarkenG steht nur abschließenden Sachentscheidungen im Rechtsbeschwerdeverfahren entgegen (Ströbele in Ströbele/Hacker, Markengesetz,
  128. 8. Aufl., § 89 Rdn. 4), zu denen die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag nicht gehört.
  129. -8-
  130. 16
  131. c) Über die Kosten des Wiedereinsetzungsverfahrens einschließlich der
  132. Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens ist erst in der Endentscheidung zu
  133. befinden.
  134. Bornkamm
  135. Pokrant
  136. Bergmann
  137. Büscher
  138. Koch
  139. Vorinstanz:
  140. Bundespatentgericht, Entscheidung vom 09.07.2007 - 30 W(pat) 22/06 -