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34 KiB

  1. BGHSt
  2. : ja
  3. Veröffentlichung: ja
  4. StGB §§ 30, 211
  5. Befehl zur Tötung eines Demonteurs von Selbstschußanlagen an der innerdeutschen Grenze.
  6. BGH, Urt. v. 16. Februar 2005
  7. 5 StR 14/04
  8. SchwG Berlin
  9. 5 StR 14/04
  10. BUNDESGERICHTSHOF
  11. IM NAMEN DES VOLKES
  12. URTEIL
  13. vom 16. Februar 2005
  14. in der Strafsache
  15. gegen
  16. wegen Totschlags
  17. -2-
  18. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 16. Februar 2005, an der teilgenommen haben:
  19. Richter Basdorf als Vorsitzender,
  20. Richter Häger,
  21. Richter Dr. Raum,
  22. Richter Dr. Brause,
  23. Richter Schaal
  24. als beisitzende Richter,
  25. Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
  26. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  27. Rechtsanwältin K
  28. als Verteidigerin,
  29. Rechtsanwalt H
  30. als Vertreter der Nebenklägerin,
  31. Justizangestellte
  32. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  33. -3-
  34. für Recht erkannt:
  35. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des
  36. Landgerichts Berlin vom 10. April 2003 wird mit der Maßgabe
  37. verworfen, daß der Angeklagte freigesprochen wird.
  38. Die Staatskasse trägt die Kosten des gesamten Verfahrens
  39. und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.
  40. – Von Rechts wegen –
  41. Gründe
  42. Die zugelassene Anklage wirft dem Angeklagten einen Totschlag vor:
  43. Er habe in der Zeit vom 26. bis 30. April 1976 – gemeinschaftlich und durch
  44. andere handelnd – die Tötung des
  45. G
  46. an der innerdeut-
  47. schen Grenze organisiert und herbeigeführt. Das Landgericht hat durch das
  48. angefochtene Urteil das Verfahren gegen den Angeklagten wegen eingetretener Verfolgungsverjährung eingestellt. Die hiergegen gerichtete, auf die
  49. Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft bleibt ohne Erfolg, soweit das Rechtsmittel zuungunsten des Angeklagten eingelegt ist, führt vielmehr nach § 301 StPO zur Änderung des angefochtenen Urteils dahin, daß
  50. der Angeklagte freigesprochen wird.
  51. -4-
  52. I.
  53. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
  54. Zur Perfektionierung der am 13. August 1961 begonnenen Absperrmaßnahmen hatte die Regierung der DDR im Herbst 1961 damit begonnen,
  55. weite Teile der innerdeutschen Grenze mit Minensperren zu versehen, um
  56. Flüchtlinge noch wirksamer von einer Flucht in die Bundesrepublik Deutschland abzuhalten. Nachdem anfangs hierzu Erdminen installiert worden waren, wurden zur Erhöhung der Wirksamkeit dieser Minensperren ab 1970
  57. zunächst vereinzelt, ab Anfang 1972 systematisch bis zu ihrem Abbau ab
  58. dem Jahre 1983 Splitterminen des Typs SM-70 als sogenannte Anlage 501
  59. zur Grenzsicherung installiert. Dabei handelte es sich um Selbstschußanlagen, die auf der der DDR zugekehrten Seite des Metallgitterzauns angebracht waren und bei Belastung von verspannten Drähten auf mechanischelektrischem Weg eine Detonation auslösten. Darauf breitete sich eine kegelförmige Salve von etwa 90 scharfkantigen Metallsplittern parallel zum Metallgitterzaun aus, wobei die kinetische Energie ausreichte, um Menschen mit
  60. Sicherheit schwer zur verletzen oder auch zu töten. Viele Flüchtlinge erlitten
  61. durch diese Minen schwerste Verletzungen oder wurden getötet. Die Regierung der DDR bestritt damals die Existenz derartiger Anlagen.
  62. G
  63. , der im Alter von 17 Jahren in der DDR wegen
  64. „Diversion im schweren Fall, staatsgefährdender Gewaltakte, staatsgefährdender Propaganda sowie Hetze im schweren Fall“ zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, nach Verbüßung von neun Jahren und zehn Monaten dieser
  65. Strafe von der Bundesregierung „freigekauft“ und 1971 in die Bundesrepublik
  66. Deutschland entlassen worden war, sann, geprägt von den in der DDR herrschenden unmenschlichen Haftbedingungen, darauf, die DDR durch Präsentation der Selbstschußanlagen in der Weltöffentlichkeit bloßzustellen. In Verfolgung dieses Ziels montierte G
  67. in der Nacht zum
  68. 1. April 1976 und in der Nacht zum 23. April 1976 jeweils in der Nähe zum
  69. -5-
  70. späteren Tatort eine Splittermine ab. Die abgebauten Splitterminen präsentierte G
  71. verschiedenen Behörden der Bundesrepublik Deutsch-
  72. land, zwei Zeitschriften und der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“. Diese
  73. Vorgänge versetzten die Dienststellen der DDR bis hin zur ministeriellen
  74. Spitze in helle Aufregung. Die DDR, die 1972 den Grundlagenvertrag mit der
  75. Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen und 1975 an der Konferenz in
  76. Helsinki teilgenommen hatte und um internationale Anerkennung bemüht
  77. war, war durch den Abbau und die Verbringung der Minen in die Bundesrepublik Deutschland in aller Welt bloßgestellt und der Lüge überführt. Deshalb
  78. sollten weitere derartige Aktionen mit allen Mitteln unterbunden und der oder
  79. die Täter unter allen Umständen ein für allemal ausgeschaltet werden. Spätestens durch einen am 16. April 1976 in dem Magazin „Der Spiegel“ erschienenen Artikel wurde dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR bekannt, daß es
  80. G
  81. war, der in der Nacht zum
  82. 1. April 1976 die erste der beiden Minen abgebaut hatte. Spätestens daraufhin gab der Minister für Staatssicherheit Mielke den Befehl, weitere Minendemontagen um jeden Preis zu verhindern und G
  83. bei einem
  84. neuerlichen Versuch, eine Mine SM-70 abzubauen, nicht nur möglichst festzunehmen, sondern ihn ein für allemal endgültig auszuschalten und, wenn
  85. eine Festnahme, die vorrangig bezweckt war, um Informationen über mögliche Mittäter, Hintermänner oder Auftraggeber zu erhalten, nicht möglich sein
  86. würde, G
  87. keinesfalls entkommen zu lassen, sondern ihn not-
  88. falls zu „vernichten“, also zu töten. Die Einzelheiten der Umsetzung dieser
  89. Anordnung überließ Mielke seinen Untergebenen.
  90. Der Angeklagte war Kompaniechef einer speziellen Einsatzkompanie
  91. des Ministeriums für Staatssicherheit. Deren Hauptaufgabe bestand in der
  92. „Wahrnehmung politisch-operativer und operativ-militärischer Einsätze“, insbesondere an der innerdeutschen Grenze. Die Kompanie wurde vor allem in
  93. sogenannten „provokationsgefährdeten Abschnitten“ der Grenze eingesetzt,
  94. so bei Fahnenfluchten, zur Beobachtung innerhalb und außerhalb militärischer Objekte in den Streitkräften, zu Fotodokumentationen an der Grenze,
  95. -6-
  96. bei spektakulären Grenzzwischenfällen oder zur Beseitigung von „pioniertechnischen Anlagen“ an der Grenze, wobei häufig in dem der Grenzbefestigung vorgelagerten, aber noch zur DDR gehörenden – als „feindwärts“ bezeichneten – Gelände, etwa bei Schleusungsmaßnahmen, unter konspirativen Bedingungen Öffnungen im Metallgitterzaun geschaffen werden mußten.
  97. Die Kompanie wurde konspirativ geführt. Jeder Angehörige dieser Einheit,
  98. als „Kämpfer“ bezeichnet, hatte zur Tarnung einen Decknamen und eine individuelle Legende. Die Einsatzkompanie galt nach außen als selbständige
  99. Einheit der Grenztruppen, war wie eine solche uniformiert, strukturiert und
  100. bewaffnet, jedoch in Wahrheit der Abteilung Äußere Abwehr, einer Unterabteilung der Abteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit, unterstellt. Deren Leiter war der rechtskräftig – aus tatsächlichen Gründen mangels effektiver Mitwirkung an dem Tötungsbefehl – freigesprochene Mitangeklagte He
  101. . Leiter der Hauptabteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit und
  102. damit unmittelbarer Vorgesetzter He
  103. s war Generalleutnant Kl
  104. . Die
  105. Hauptabteilung I war direkt dem Stellvertreter des Ministers Mielke unterstellt. Während im Ministerium für Staatssicherheit noch die vorhandenen
  106. Unterlagen über
  107. G
  108. ausgewertet wurden, erhielt man
  109. dort Kenntnis vom zweiten Minenabbau, der in der Nacht zum 23. April 1976
  110. erfolgt war. Namentlich aufgrund eines Hinweises ging man davon aus, daß
  111. wiederum G
  112. gehandelt habe und daß er vorhabe, im gleichen
  113. Bereich der Grenze weitere Minen abzubauen. Generalleutnant Kl
  114. berichtete dem Minister Mielke und beauftragte den Oberstleutnant T
  115. , den
  116. Leiter des Bereichs Abwehr der Hauptabteilung I im Grenzkommando Nord,
  117. mit der Leitung des „Einsatzes SM-70“. Hierbei gab Kl
  118. erteilte Weisung weiter, G
  119. die von Mielke
  120. bei einem neuerlichen Versuch, eine
  121. Mine abzubauen, unter allen Umständen möglichst festzunehmen und
  122. – wenn dies nicht gelingen sollte – ihn keinesfalls entkommen zu lassen,
  123. sondern ihn dann gegebenenfalls zu „vernichten“. Die Befehlskette verlief
  124. mithin vom Minister Mielke über Generalleutnant Kl
  125. an Oberstleutnant
  126. T . Letzterer war damit nach dem im Ministerium für Staatssicherheit gel-
  127. -7-
  128. tenden Prinzip der Einzelleitung am Ort verantwortlich für diesen Einsatz und
  129. hatte dort das Kommando.
  130. Am 24. April 1976 erteilte der frühere Mitangeklagte He
  131. ordnung Kl
  132. s – dem Angeklagten S
  133. – auf An-
  134. den Befehl, mit von ihm aus-
  135. zuwählenden Kräften seiner Einsatzkompanie sofort zum Grenzregiment 6
  136. nach Schönberg zu Oberstleutnant T
  137. zu fahren, um dort entsprechend
  138. dem vorgegebenen Einsatzziel, „Grenzprovokationen“ unter allen Umständen
  139. zu verhindern und den oder die Täter unbedingt festzunehmen und – wenn
  140. dies nicht gelingen würde – diese notfalls zu töten, sofort zum Einsatz zu
  141. kommen. Der Angeklagte wurde auch in groben Zügen darüber informiert,
  142. daß im Sicherungsabschnitt XII des Grenzregiments 6 zuvor Splitterminen
  143. SM-70 abgebaut und entwendet worden waren und daß mit Hilfe der
  144. Einsatzkompanie „feindwärts“ ein Hinterhalt angelegt werden sollte. Ob ihm
  145. dabei auch der Name G
  146. genannt wurde, hat das Landgericht
  147. nicht feststellen können. Die vom Minister Mielke gegebene Anordnung wurde dem Angeklagten im Kern vom früheren Mitangeklagten He
  148. als Ziel-
  149. vorgabe mitgeteilt. Der Angeklagte wählte daraufhin aus seiner Einsatzkompanie die nach seiner Einschätzung für das vorgegebene Einsatzziel am besten geeigneten elf „Kämpfer“ aus und begab sich mit ihnen sogleich nach
  150. Schönberg. Jeder „Kämpfer“ war mit einer Maschinenpistole der Marke „Kalaschnikow“ ausgerüstet, die Gruppe zudem mit zwei leichten Maschinengewehren. Noch am 24. April 1976 fanden zunächst eine Ortsbesichtigung des
  151. in Betracht kommenden Grenzabschnitts, an der auch der Angeklagte teilnahm, sowie eine anschließende Besprechung, an der sowohl der Angeklagte als auch Oberstleutnant T
  152. teilnahmen, statt. Bei dieser Besprechung
  153. wurden die Maßnahmen festgelegt, die getroffen werden sollten, um den von
  154. Minister Mielke über Generalleutnant Kl
  155. an Oberstleutnant T
  156. ge-
  157. gebenen Befehl zu erfüllen. Die bei dieser Besprechung beschlossenen
  158. Maßnahmen wurden Grundlage des folgenden Einsatzes am Ort. Dies war
  159. der „Große Grenzknick“ bei der Grenzsäule 231 der Bundesrepublik
  160. Deutschland. Hier verlief die Grenze in einem rechten Winkel, dessen inne-
  161. -8-
  162. res Viertel – südöstlich – zur DDR gehörte. Gegenüber der im Westen und
  163. Norden verlaufenden Grenze war der Metallgitterzaun mit den Selbstschußanlagen um 30 Meter rückwärts gebaut, so daß sich vor diesem Zaun ein
  164. 30 Meter breiter Streifen von DDR-Gebiet erstreckte. Man rechnete damit,
  165. daß G
  166. in den nächsten Tagen wieder versuchen würde, mit
  167. Hilfe einer Anlegeleiter an eine Mine heranzukommen, um diese abzubauen.
  168. Man rechnete mit zwei bis drei Begleitern G
  169. s und einer Bewaff-
  170. nung aller Personen. Deshalb sollte „feindwärts“ des Metallgitterzauns ein
  171. Hinterhalt gelegt werden, um G
  172. dort zu überraschen, festzu-
  173. nehmen und an einer eventuellen Flucht zurück auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland zu hindern, wobei als letzte Möglichkeit seine Tötung ins Auge gefaßt war. Sollte die Staatsgrenze der DDR durch „provokatorische Handlungen“ an den „pioniertechnischen Anlagen“ verletzt oder sollten
  174. diese sichtbar angegriffen werden, waren die Personen festzunehmen; die
  175. Schußwaffe war anzuwenden, wenn keine andere Möglichkeit zur Realisierung der vorgenannten Zielstellung vorhanden sein würde. Die Feuerführung
  176. sollte parallel zur Staatsgrenze erfolgen.
  177. Der Angeklagte akzeptierte bei dieser Besprechung das vorgegebene
  178. Ziel „festzunehmen bzw. zu vernichten“, also gegebenenfalls „zu töten“. Als
  179. Chef der Einsatzkompanie hatte er bei der Besprechung einen gewichtigen
  180. und für die Ausgestaltung der Einzelheiten des Einsatzes maßgeblichen
  181. Einfluß, wenngleich Oberstleutnant T
  182. den Einsatz am Ort leitete. Der An-
  183. geklagte war am Ort der „Mann der Praxis“, der seinen Sachverstand einbrachte und wußte, wie man am besten Hinterhalte legte. Er brachte bei der
  184. Besprechung auch eigene Verbesserungsvorschläge ein. Wie in der Besprechung beauftragt, rekrutierte er aus seiner Einsatzkompanie einen weiteren
  185. Zugführer und sieben weitere „Kämpfer“.
  186. In einer „Information“ vom 25. April 1976 teilte Oberstleutnant T
  187. dem Generalleutnant Kl
  188. das Ergebnis der Beratung vom Vortage mit.
  189. Auch darin ist die „Festnahme bzw. Vernichtung der Täter“ genannt. Kl
  190. -9-
  191. war mit diesen Maßnahmen einverstanden. Der Angeklagte diktierte am
  192. 25. April 1976 einen internen „Maßnahmeplan“, der zu Dokumentationszwecken gefertigt wurde und den am Ort eingesetzten „Kämpfern“ nicht im Wortlaut mitgeteilt wurde. Darin ist als Einsatzziel benannt, „den oder die Täter
  193. festzunehmen bzw. zu vernichten“. Ferner heißt es dort: „Die Anwendung der
  194. Schußwaffe erfolgt, wenn keine andere Möglichkeit zur Realisierung der vorgenannten Zielstellung vorhanden ist. Die Feuerführung erfolgt parallel zur
  195. Staatsgrenze.“
  196. Am 26. April 1976 verdichteten sich die Hinweise, daß ein neuerlicher
  197. Versuch G
  198. s, im relevanten Grenzbereich erneut eine Splitter-
  199. mine abzubauen, unmittelbar bevorstand. Oberstleutnant T
  200. aufhin an Generalleutnant Kl
  201. sandte dar-
  202. zwei chiffrierte Telegramme, in denen
  203. die „Festnahme oder Vernichtung des zu erwartenden Täters“ als Ziel der
  204. Operation genannt ist.
  205. G
  206. beobachtete am 29. April 1976 nachmittags in der Nä-
  207. he der Grenzsäule 231 das Gelände mit einem Fernglas und wurde dabei
  208. von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit beobachtet und fotografiert.
  209. In der Tatnacht zum 1. Mai 1976, einer dunklen Neumondnacht, waren
  210. die Splitterminen im Bereich des Grenzknicks abgeschaltet, um eine Gefährdung der „Kämpfer“ auszuschließen. Der Metallgitterzaun war „freundwärts“
  211. durch zwei am Grenzknick angebrachte Scheinwerfer erleuchtet, die parallel
  212. zum Zaun ausgerichtet waren und den „freundwärts“ befindlichen Geländestreifen am Zaun erleuchteten. Das vorgelagerte Gelände lag völlig im Dunkeln. „Feindwärts“ des Zaunes, etwa fünf Meter von diesem entfernt, lagen
  213. vier Mitglieder der Einsatzkompanie im Gras, nämlich die Zeugen L
  214. ,R
  215. , Wi
  216. und Li
  217. . „Freundwärts“ waren zahlreiche Kräfte
  218. eingesetzt, die über einen zentralen Führungspunkt durch eine Telefonverbindung mit Oberstleutnant T
  219. verbunden waren.
  220. - 10 -
  221. G
  222. hatte zwei Helfer gewonnen, um mit ihnen zum dritten
  223. Mal eine Splittermine abzubauen, die Zeugen Lie
  224. und U
  225. . Sie bega-
  226. ben sich zu dritt am 30. April 1976 gegen 22.30 Uhr zur Grenzsäule 231. Alle
  227. drei waren mit scharfen Schußwaffen ausgerüstet, G
  228. jeweils mit einer geladenen Pistole, U
  229. ten Schrotflinte. G
  230. und Lie
  231. mit einer geladenen abgesäg-
  232. führte ferner diverses Werkzeug zum Abbau
  233. einer Mine mit und war mit einem langen schwarzen Mantel bekleidet. Alle
  234. drei hatten sich ihre Gesichter, Hände und Turnschuhe mit Schuhcreme geschwärzt. Bei Beobachtung der Grenzsicherungsanlagen fiel ihnen als Veränderung auf, daß Scheinwerfer installiert worden waren, die das Gelände
  235. hinter dem Zaun ausleuchteten, während das vorgelagerte Gelände zwischen Grenze und Zaun völlig im Dunkeln lag. U
  236. wollte zudem verdächti-
  237. ge Geräusche wie ein metallisches Klicken oder Schritte gehört haben. Lie
  238. und U
  239. konnten mit der Äußerung ihrer Bedenken angesichts der ih-
  240. nen „unheimlich“ erscheinenden Situation G
  241. nicht zur Aufgabe
  242. des Plans, sondern lediglich zu dessen Modifizierung bewegen. G
  243. hatte nunmehr die Idee, die Mine an der Ecke des Zaunes – statt
  244. sie abzubauen – wenigstens zu zünden, um der DDR zu signalisieren, „daß
  245. er wieder einmal zugeschlagen“ habe. Damit, daß sich in dem DDR-Gelände
  246. vor dem Zaun Grenzposten aufhalten oder dort gar einen Hinterhalt gelegt
  247. haben würden, rechnete keiner der drei Männer. Lie
  248. und U
  249. postier-
  250. ten sich in der Nähe zur Grenzsäule 231, voneinander getrennt. Zwischen
  251. G
  252. und ihnen war abgesprochen, daß sie beide beim Erschei-
  253. nen von Grenzsoldaten „Halt! Grenzschutz!“ oder etwas ähnliches rufen und
  254. notfalls G
  255. s Rückzug durch den Einsatz ihrer Waffen sichern
  256. sollten. G
  257. schlich sich nun gebückt auf den Grenzknick und die
  258. Ecke des Zaunes zu. „Da man wegen der zuvor wahrgenommenen Geräusche Argwohn geschöpft hatte“ und das Vorhaben nun wegen der Nähe zum
  259. Zaun ganz besonders gefährlich wurde, zog G
  260. ladene Pistole hervor.
  261. seine durchge-
  262. - 11 -
  263. Der Zeuge Li , der seine Maschinenpistole befehlswidrig neben sich
  264. gelegt hatte, möglicherweise zwischenzeitlich auch eingeschlafen war, bemerkte als erster der „feindwärts“ eingesetzten Posten G
  265. , der
  266. sich in gebückter Haltung bis auf etwa fünf bis zehn Meter der Ecke des Metallgitterzaunes genähert hatte. Li
  267. griff daraufhin nach seiner abgelegten
  268. Maschinenpistole, wobei er ein metallisches Geräusch, möglicherweise
  269. durch Anstoßen der Waffe gegen einen Stein, verursachte. Das Landgericht
  270. hat nicht ausschließen können, daß G
  271. das metallische Ge-
  272. räusch, dessen Ursache nur wenige Meter entfernt war, wahrnahm und ihm
  273. nun klar war, daß er in einen Hinterhalt der Grenzposten geraten war. Das
  274. Landgericht hat weiterhin nicht ausschließen können, daß G
  275. in
  276. dieser Situation jedenfalls als erster mindestens einen, nicht ausschließbar
  277. aber auch einen zweiten Schuß in Richtung des Geräusches und damit der
  278. Posten abgab. Wie weiterhin nicht ausschließbar, werteten die vier „feindwärts“ eingesetzten Posten diesen Schuß – möglicherweise auch zwei
  279. Schüsse – G
  280. s als Angriff auf ihr Leben; sie schossen daraufhin
  281. zurück. Als erster schoß – nahezu zur gleichen Zeit wie G
  282. Li
  283. mit seiner Maschinenpistole auf G
  284. , wobei der zeitliche Ab-
  285. stand so gering war, daß sich die Schußgeräusche der Pistole und der Maschinenpistole akustisch überlagerten. Auch die drei anderen Posten eröffneten nun sofort das Feuer auf G
  286. feuer. G
  287. . Alle vier schossen mit Dauer-
  288. wurde noch in aufrechter oder gebückter Haltung von
  289. drei Kugeln im Oberkörper getroffen, wobei ein Geschoß Herz, Lunge und
  290. Rückenmark durchschlug, was zum Zusammenbruch des Kreislaufs und zum
  291. Herztod führte, so daß G
  292. sofort zusammensackte. Danach ga-
  293. ben die vier Posten weitere, mehrere Sekunden dauernde Feuerstöße in
  294. Richtung des liegenden G
  295. ab, der von zahlreichen Schüssen
  296. getroffen wurde. Nach dieser ersten Schußfolge trat eine kurze Pause ein.
  297. Ein Scheinwerfer an der Ecke des Zaunes wurde auf das vorgelagerte Gelände geschwenkt.
  298. - 12 -
  299. Bei Beginn der Schießerei waren Lie
  300. und U
  301. aus Angst, selbst
  302. beschossen zu werden, in das Hinterland geflüchtet. Lie
  303. trat dabei auf
  304. einen Ast und verursachte ein knackendes Geräusch. Das Landgericht hat
  305. nicht ausschließen können, daß der Posten L
  306. dieses Knacken
  307. wahrnahm und befürchtete, auf westlichem Gebiet könnten sich bewaffnete
  308. Komplizen G
  309. s befinden. Möglicherweise rief L
  310. , um im
  311. Scheinwerferlicht nicht selbst ein leichtes Ziel abzugeben und ein freies
  312. Schußfeld zu haben: „Licht aus! Weg da vorne!“ Währenddessen hatte U
  313. den Eindruck, von Seiten der DDR kämen zwei Scheinwerfer, die er für Autoscheinwerfer hielt, auf ihn zu. Er gab daher mit der abgesägten Schrotflinte
  314. einen Schuß in Richtung dieser vermeintlichen Autoscheinwerfer ab. Möglicherweise als Reaktion auf diesen Schuß gab der Posten L
  315. Richtung des Standorts U
  316. in
  317. s einen oder zwei kurze Feuerstöße ab. Mehre-
  318. re Geschosse schlugen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im
  319. Baumwerk ein. Lie
  320. und U
  321. flüchteten.
  322. Sofort nach dem Tatgeschehen setzten von höchster Stelle angeordnete Vertuschungsmaßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit ein.
  323. Insbesondere wurde die Leiche G
  324. s anonym und ohne Eintra-
  325. gung in das Sektionsbuch obduziert. Alle Schützen wurden mit dem „Kampforden in Silber“ ausgezeichnet, den sie jedoch nicht tragen durften.
  326. Das Landgericht hat das festgestellte Geschehen im wesentlichen folgendermaßen rechtlich gewürdigt:
  327. Es ist sowohl hinsichtlich der ersten als auch hinsichtlich der zweiten
  328. Schußfolge der DDR-Schützen zur Annahme von Notwehr gelangt, weil zum
  329. ersten Handlungsteil nicht auszuschließen sei, daß G
  330. als erster
  331. schoß, und die zweite Schußfolge eine Reaktion auf den Schuß des Zeugen
  332. U
  333. gewesen sei. Deshalb hat das Landgericht unter dem Gesichtspunkt
  334. der „überholenden Kausalität“ angenommen, daß eine vom Angeklagten
  335. nicht geplante Kausalkette in Gang gesetzt worden sei, weshalb ein vollen-
  336. - 13 -
  337. detes Tötungsdelikt (Mord nach § 112 StGB-DDR) nicht vorliege. Der Angeklagte habe lediglich eine erfolglose Aufforderung zur Begehung eines Mordes (nach § 227 Abs. 1 i.V. mit § 112 StGB-DDR) begangen. Da die Verfolgung dieses Deliktes verjährt sei, sei das Verfahren nach § 260 Abs. 3 StPO
  338. einzustellen.
  339. Eine etwa fortbestehende Verfolgbarkeit der Tat nach dem Recht der
  340. Bundesrepublik Deutschland ist im Urteil nicht erörtert.
  341. II.
  342. Die Revision der Staatsanwaltschaft führt allein zu einer Änderung des
  343. Urteils zugunsten des Angeklagten.
  344. 1. Das angefochtene Urteil enthält keinen sachlichrechtlichen Fehler
  345. zum Vorteil des Angeklagten, soweit es die Beweiswürdigung und die Subsumtion der getroffenen Feststellungen unter das sachliche Recht betrifft.
  346. a) Die Beweiswürdigung ist rechtsfehlerfrei.
  347. Namentlich geht die Einzelbeanstandung der Beschwerdeführerin fehl:
  348. Die sachlichrechtlichen Einwände gehen allein dahin, daß die Feststellung,
  349. der Zeuge U
  350. habe nach der ersten Schußfolge mit der abgesägten
  351. Schrotflinte einen Schuß in Richtung der Scheinwerfer abgegeben (UA
  352. S. 51), einzig auf die Bekundungen dieses Zeugen gestützt wird (UA S. 99 f.,
  353. 108), während sich aus der schriftlichen Erklärung des Zeugen L
  354. ,
  355. die dieser als Beschuldigter in dem Verfahren vor dem Landgericht Schwerin
  356. unter dem 9. November 1999 abgegeben hat (UA S. 83 bis 86), die Wahrnehmung eines solchen Schusses nicht ergebe. Der Zeuge U
  357. hat einen
  358. solchen von ihm abgegebenen Schuß kontinuierlich – in der polizeilichen
  359. Vernehmung vom 1. Mai 1976, in der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung
  360. vom 20. Oktober 1992 sowie in der Hauptverhandlung – und jeweils detail-
  361. - 14 -
  362. reich geschildert. Es begründet keinen sachlichrechtlichen Fehler, daß das
  363. Landgericht diesem substantiierten Eingeständnis des Schützen U
  364. ge-
  365. folgt ist, ohne in diesem Zusammenhang darauf Bezug zu nehmen, daß der
  366. Zeuge L
  367. diesen Schuß in einer früheren Erklärung nicht geschildert
  368. hat. Soweit die Revision darüber hinaus an das Protokoll der landgerichtlichen Hauptverhandlung anknüpft, ist dies – angesichts der allein erhobenen
  369. Sachrüge – unbeachtlich.
  370. b) Auch die rechtliche Würdigung enthält keinen Rechtsfehler zum
  371. Vorteil des Angeklagten.
  372. aa) Das gilt zunächst für die Würdigung nach dem Recht der DDR.
  373. Eine Strafbarkeit des Angeklagten würde (auch) voraussetzen, daß er
  374. sich mit der in der DDR begangenen Tat nach dem dort zur Tatzeit geltenden
  375. Recht strafbar gemacht hätte (§ 2 StGB i.V. mit Art. 315 Abs. 1 EGStGB).
  376. Eine Beteiligung an einem Tötungsdelikt gegen G
  377. oder
  378. seine Begleiter in Form der Täterschaft, Anstiftung oder Beihilfe liegt nach
  379. den Feststellungen nicht vor: Die vier Schützen schossen zunächst – nicht
  380. ausschließbar – in der ersten Schußfolge als Reaktion auf den einen Schuß
  381. oder die zwei von G
  382. möglicherweise zuerst auf sie selbst abge-
  383. gebenen Schüsse. Die in der zweiten Schußfolge von L
  384. tung des Standorts U
  385. in Rich-
  386. s abgegebenen Schüsse waren – nicht ausschließ-
  387. bar – eine Reaktion auf den Schuß U
  388. s mit der Schrotflinte. Danach kann
  389. in allen Schüssen der DDR-Schützen, weil in Notwehr nach § 17 Abs. 1
  390. StGB-DDR begangen, „keine Straftat“ gefunden werden. Dies hat zur Folge,
  391. daß der Angeklagte an diesen Taten weder als Täter (§ 22 Abs. 1 StGBDDR), noch als Mittäter (§ 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR), noch als Anstifter
  392. (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR) oder als Gehilfe (§ 22 Abs. 2 Nr. 3 StGB-DDR)
  393. beteiligt sein kann.
  394. - 15 -
  395. Vielmehr liegt im Verhalten des Angeklagten lediglich eine erfolglose
  396. Aufforderung zur Begehung eines Mordes nach § 227 Abs. 1 i.V. mit § 112
  397. StGB-DDR. Es sei angemerkt, daß das Landgericht Schwerin unter dem Gesichtspunkt der Notwehr oder der Putativnotwehr drei der Schützen vom
  398. Vorwurf des versuchten Mordes rechtskräftig (vgl. BGH, Beschluß nach
  399. § 349 Abs. 2 StPO vom 24. April 2001 – 4 StR 410/00) freigesprochen hat,
  400. nachdem das Verfahren gegen den vierten Schützen nach § 170 Abs. 2
  401. StPO eingestellt worden war.
  402. Die Tat des Angeklagten war nicht gerechtfertigt.
  403. Zur Tatzeit war der Schußwaffengebrauch der hier tätig gewordenen
  404. speziellen Einsatzkompanie des Ministeriums für Staatssicherheit allein
  405. durch die vom Minister für Staatssicherheit erlassene Ordnung über den
  406. Gebrauch von Schußwaffen für die Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit – Schußwaffengebrauchsordnung – vom 5. Februar 1976 geregelt.
  407. Diese entsprach in den hier in Betracht kommenden Teilen nahezu gleichlautend der für die regelmäßig den Dienst an der Grenze versehenden Grenztruppen geltenden Dienstvorschrift DV 018/0/008 „Einsatz der Grenztruppen
  408. zur Sicherung der Staatsgrenze – Grenzkompanie“ vom 5. August 1974.
  409. Diese allein internen Verwaltungsvorschriften waren schon als solche nicht
  410. geeignet, vorsätzliches tödliches Schießen an der innerdeutschen Grenze zu
  411. rechtfertigen. Entsprechend hat der Senat bereits im Urteil BGHSt 39, 353,
  412. 366 f. – zu der „Vorschrift über die Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie“ (DV – 30/10) vom 8. Februar 1964 – entschieden. Eine anderweitige Rechtfertigung ergibt sich aus dem Recht der
  413. DDR nicht.
  414. Vielmehr gilt folgendes: Die Staatspraxis der DDR, die die vorsätzliche
  415. Tötung von Flüchtlingen durch Schußwaffen, insbesondere auch durch
  416. Selbstschußanlagen und Minen zur Vermeidung einer Flucht aus der DDR in
  417. Kauf nahm, war wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen
  418. - 16 -
  419. elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte
  420. Menschenrechte nicht geeignet, die Täter zu rechtfertigen (BGHSt 40, 218,
  421. 232 m.w.N.). Diese für die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen entwickelten
  422. Grundsätze müssen auch auf den vorliegenden Fall Anwendung finden, in
  423. dem versucht wurde, eine Selbstschußanlage zu demontieren. Wenngleich
  424. es hier nicht um die Verhinderung einer Flucht aus der DDR im Einzelfall
  425. geht, steht das Tun des Angeklagten im Gesamtzusammenhang der Sicherung der eben beschriebenen Staatspraxis der DDR. Es muß daher der entsprechenden rechtlichen Bewertung unterfallen.
  426. Die Verfolgung des Deliktes nach § 227 Abs. 1 i.V. mit § 112 StGBDDR, das mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht war und für das
  427. nach § 82 Abs. 1 Nr. 2 StGB-DDR eine Verjährungsfrist von fünf Jahren galt,
  428. ist jedoch mit Ablauf des 2. Oktober 2000 verjährt (§ 315a Abs. 2 EGStGB
  429. i.d.F. des 3. Verjährungsgesetzes vom 22. Dezember 1997, BGBl I 3223).
  430. Gleichzeitig ist die absolute Verjährung eingetreten (§ 78c Abs. 3 Satz 2
  431. StGB i.V. mit Art. 315a Abs. 1 Satz 3 letzter Halbsatz EGStGB).
  432. bb) Auch begründet es keinen durchgreifenden Rechtsfehler, daß das
  433. Landgericht nicht erörtert hat, ob die Tat im Hinblick auf einen etwaigen
  434. Strafanspruch der Bundesrepublik Deutschland noch geahndet werden kann.
  435. Im Ausgangspunkt zutreffend hat der Generalbundesanwalt darauf
  436. hingewiesen, daß ein Strafanspruch der Bundesrepublik Deutschland entstanden ist, der möglicherweise nicht verjährt sei. Indes greift dieser Gesichtspunkt im Ergebnis nicht durch.
  437. (1) Allerdings findet auf die Tat das Strafrecht der Bundesrepublik
  438. Deutschland schon deshalb Anwendung, weil das Tatopfer ein Bürger der
  439. Bundesrepublik Deutschland sein sollte (§ 7 Abs. 1 StGB).
  440. - 17 -
  441. Danach kommt es auf die weiterhin vom Generalbundesanwalt angestellte Erwägung im Ergebnis nicht an, daß sich die Anwendung des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland auch aus §§ 3, 9 Abs. 1 StGB etwa
  442. daraus ergeben könnte, daß der Angeklagte die Vorstellung gehabt hätte, es
  443. würde über die Grenze der DDR hinaus geschossen werden, so daß der
  444. Tatort (auch) in der Bundesrepublik Deutschland liegen sollte. Hierzu ist zu
  445. bemerken: Es liegt fern, daß der Angeklagte mit der Möglichkeit rechnete, die
  446. Tötung G
  447. s oder seiner Helfer würde auf dem Gebiet der Bun-
  448. desrepublik Deutschland erfolgen. Vor dem Metallgitterzaun lag ein 30 Meter
  449. breiter zum Territorium der DDR gehöriger Geländestreifen. Die Planung
  450. ging dahin, G
  451. und seine Begleiter unmittelbar vor dem Zaun,
  452. also auf dem Gelände der DDR zu stellen. Dabei wollte man – offenbar zur
  453. Vermeidung politischer Komplikationen – Schüsse auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vermeiden. So wurde schon in der Besprechung am
  454. 24. April 1976 beschlossen, daß die Feuerführung parallel zur Staatsgrenze
  455. erfolgen sollte (UA S. 26). Ebenso heißt es im „Maßnahmeplan“ vom
  456. 26. April 1976: „Die Feuerführung erfolgt parallel zur Staatsgrenze“ (UA
  457. S. 35). Daß schließlich gleichwohl Schüsse auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einschlugen, kann einen entsprechenden Vorsatz des Angeklagten nicht näherliegend erscheinen lassen.
  458. (2) Eine nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland strafbare Tat wäre hier nur dann noch verfolgbar, wenn es sich um eine versuchte
  459. Anstiftung zu einem Mord (§ 30 Abs. 1 i.V. mit § 211 StGB) handeln würde
  460. (§ 78 Abs. 2 StGB). Indes ergibt sich aus den Feststellungen die versuchte
  461. Anstiftung zu einem Mord, zu dessen Begründung allein das Merkmal der
  462. Heimtücke in Betracht kommt, nicht.
  463. Heimtückisch handelt, wer eine zum Zeitpunkt des Angriffs bestehende Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewußt zur Tat ausnutzt (Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 211 Rdn. 16 m.N. der st. Rspr.). Jedoch entfällt
  464. die Arglosigkeit des Opfers dann, wenn es im Tatzeitpunkt mit einem schwe-
  465. - 18 -
  466. ren oder doch erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit
  467. rechnet (BGHSt 33, 363, 365; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 13, 27,
  468. 29; BGH NStZ-RR 2004, 14, 15). So liegt es hier. G
  469. und seine
  470. Helfer, die nach dem vorangegangenen zweimaligen Abbau von Minen eine
  471. höchste Wachsamkeit der DDR-Organe voraussetzten, rechneten – auf realer Grundlage und konkret – mit einem Angriff, als sie sich zu dritt scharf bewaffnet und mit geschwärzten Gesichtern, Händen und Turnschuhen der
  472. Grenze näherten. Ihre Skepsis steigerte sich, als U
  473. „verdächtige Geräu-
  474. sche wie ein metallisches Klicken oder Schritte gehört haben wollte“ (UA
  475. S. 45). Daher hebt das Landgericht zu Recht ausdrücklich hervor, daß sie
  476. „Argwohn“ hegten, gar als G
  477. gebückt mit gezogener und
  478. durchgeladener Pistole auf den Grenzknick zuschlich (UA S. 47). Nichts
  479. spricht für hiervon abweichende Vorstellungen des Angeklagten bei seinen
  480. Befehlen.
  481. Die Verfolgung wegen versuchter Anstiftung zum Totschlag (§ 30
  482. Abs. 1 i.V. mit § 212 StGB) ist verjährt. Die am 30. April 1976 beginnende
  483. Verjährungsfrist von 20 Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB) endete am
  484. 29. April 1996. Diejenigen Vorschriften, die die Verjährung von nach dem
  485. Strafrecht der DDR begangenen Straftaten ergänzend regeln ([1.] Verjährungsgesetz vom 26. März 1993, BGBl I 392; 2. Verjährungsgesetz vom
  486. 27. September 1993, BGBl I 1657, und 3. Verjährungsgesetz vom 22. Dezember 1997, BGBl I 3223), berühren den nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland entstandenen Strafanspruch nicht, dessen Verjährung unter
  487. keinem Gesichtspunkt gehemmt ist. Die erste etwa unterbrechungstaugliche
  488. Handlung erfolgte mit der Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen den Angeklagten am 8. Juli 1996 (Sachakten Bd. V Bl. 464 ff.).
  489. 2. Die Überprüfung des angefochtenen Urteils nach § 301 StPO führt
  490. jedoch zur Freisprechung des Angeklagten.
  491. - 19 -
  492. a) Allerdings hat das Landgericht ohne einen den Angeklagten benachteiligenden sachlichrechtlichen Fehler zu den getroffenen Feststellungen
  493. und zu der rechtlichen Würdigung gefunden. Dabei hat es insbesondere die
  494. Planungen und organisatorischen Vorkehrungen der Organe der DDR und
  495. die dazu beitragenden Handlungen des Angeklagten rechtsfehlerfrei festgestellt. Namentlich ist es dabei ohne Rechtsfehler zu der Feststellung gelangt,
  496. daß die beteiligten Führungskräfte der DDR einschließlich des Angeklagten
  497. die – in den Dokumenten hinter dem Wort „vernichten“ kaum verborgene –
  498. Tötung G
  499. diese
  500. Personen
  501. s und seiner Helfer für den Fall geplant hatten, daß
  502. nicht
  503. würden
  504. festgenommen
  505. werden
  506. können
  507. (vgl.
  508. BVerfGE 95, 96, 139; BGHSt 40, 218, 223 f. und 241, 242).
  509. b) Indes war nicht, wie geschehen, das Verfahren einzustellen, sondern auf Freispruch zu erkennen. Dies holt der Senat – mit der geänderten
  510. Kostenfolge nach § 467 Abs. 1 StPO (vgl. BGH, Beschluß vom 4. Mai 2004
  511. – 3 StR 126/04) – nach.
  512. Kann bei tateinheitlichem oder sonst rechtlichem Zusammentreffen
  513. eines schwereren und eines leichteren Tatvorwurfs der schwerere nicht
  514. nachgewiesen werden und ist der leichtere wegen Vorliegens eines unbehebbaren Verfahrenshindernisses nicht mehr verfolgbar, so hat die Sachentscheidung Vorrang vor der Verfahrensentscheidung, weil der schwerer wiegende Vorwurf den Urteilsausspruch bestimmt (st. Rspr.: BGHSt 1, 231, 235;
  515. 7, 256, 261 und 13, 268; BGH GA 1959, 17; BGH bei Pfeiffer/Miebach
  516. NStZ 1985, 495; BGH, Beschluß vom 4. Mai 2004 – 3 StR 126/04; ebenso
  517. schon RGSt 66, 51; zustimmend das Schrifttum: Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 260 Rdn. 103 bis 105; Schoreit in KK 5. Aufl.
  518. § 260 Rdn. 51; Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl. § 260 Rdn. 46). So liegt es
  519. hier. Die dem Angeklagten durch die Anklage vorgeworfene vorsätzliche Tötung G
  520. s, Mord nach § 112 StGB-DDR, Totschlag nach § 212
  521. StGB, die nicht verjährt wäre (vgl. nur BGHSt 42, 332, 336 m.w.N.), konnte
  522. nicht festgestellt werden. Die allein festgestellte erfolglose Aufforde-
  523. - 20 -
  524. rung zur Begehung einer Tat nach § 227 Abs. 1 i.V. mit § 112 StGB-DDR ist
  525. verjährt.
  526. Basdorf
  527. Brause
  528. Häger
  529. Schaal
  530. Raum