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271 lines
12 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 5 StR 435/14
  5. vom
  6. 13. Januar 2015
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. 1.
  10. 2.
  11. wegen versuchten Mordes
  12. -2-
  13. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 13. Januar 2015, an der teilgenommen haben:
  14. Richter Prof. Dr. Sander
  15. als Vorsitzender,
  16. Richterin Dr. Schneider,
  17. Richter Dölp,
  18. Richter Dr. Berger,
  19. Richter Bellay
  20. als beisitzende Richter,
  21. Bundesanwalt
  22. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  23. Rechtsanwältin F.
  24. als Verteidigerin des Angeklagten K.
  25. ,
  26. Rechtsanwalt R.
  27. als Verteidiger des Angeklagten L.
  28. Rechtsanwältin G.
  29. als Vertreterin des Nebenklägers,
  30. Justizangestellte
  31. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  32. ,
  33. -3-
  34. für Recht erkannt:
  35. Auf die Revisionen des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 18. März 2014 mit den Feststellungen, mit
  36. Ausnahme derjenigen zum äußeren Tatgeschehen, aufgehoben.
  37. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
  38. über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  39. - Von Rechts wegen -
  40. Gründe:
  41. 1
  42. Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.
  43. Mit seinen auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen beanstandet der Nebenkläger, dass das Landgericht bedingten Tötungsvorsatz der Angeklagten nicht festgestellt hat. Die Rechtsmittel haben Erfolg.
  44. 2
  45. 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hielten sich die aus Polen
  46. stammenden, alkoholisierten und unter dem Einfluss von Cannabis stehenden,
  47. zur Tatzeit 23 Jahre (K.
  48. ) und 33 Jahre (L.
  49. ) alten Angeklagten am
  50. Nachmittag des 9. Juli 2013 auf dem Platz am Neptunbrunnen nahe dem Berliner Alexanderplatz auf und baten andere Personen um Zigaretten. Dabei trat
  51. -4-
  52. der Angeklagte L.
  53. te K.
  54. 3
  55. zog L.
  56. bedrohlich dicht an einen Zeugen heran. Der Angeklagbeiseite.
  57. – bewusst in einem be-
  58. Wenig später ging der muskulöse K.
  59. drohlich geringen Abstand – an dem auf einer Parkbank sitzenden schmächtigen, dunkelhäutigen Nebenkläger vorbei, dem er körperlich deutlich überlegen
  60. war. Dabei strahlte K.
  61. eine solche Aggressivität aus, dass er einem
  62. Zeugen auffiel, der eine Bank vom Nebenkläger entfernt saß und den Angeklagten als „potentielle Gefahr“ im Auge behielt. K.
  63. , der nach eigener
  64. Aussage „keine Neger mag“, störte sich an der dunklen Hautfarbe des Nebenklägers. Im Vorbeigehen beleidigte er ihn mit einem dem deutschen Wort „Neger“ vergleichbaren Wort in polnischer Sprache. Der Nebenkläger, der der russischen Sprache mächtig ist, verstand dieses Wort. Er reagierte, indem er
  65. K.
  66. auf Russisch fragte, was er getan habe. K.
  67. blieb ruckartig
  68. stehen und wandte sich dem Nebenkläger zu; er ergriff ihn, zog ihn von der
  69. Parkbank hoch und begann, ihn zu schubsen. Auf erfolglose Versuche des Nebenklägers, den Angeklagten K.
  70. abzuwehren, schlug dieser den Ne-
  71. benkläger mit drei wuchtigen Faustschlägen ins Gesicht zu Boden. K.
  72. versuchte, den benommen am Boden liegenden – sehr leichten – Nebenkläger
  73. an dessen Gürtel in die Luft zu heben und zu Boden fallen zu lassen. Dies verhinderte der Nebenkläger zunächst, indem er sich an der Hose des Angeklagten festkrallte. Als er jedoch das Bewusstsein verlor, nutzte K.
  74. dies
  75. aus, um den Nebenkläger an seinem Gürtel aufzuheben, sein Knie in das Gesicht des Nebenklägers zu stoßen und ihn schließlich mit dem Gesicht voran
  76. auf den Steinboden des Platzes fallen zu lassen. K.
  77. versetzte dem
  78. bewusstlos auf dem Boden liegenden Nebenkläger noch mindestens einen
  79. Faustschlag ins Gesicht, ließ dann aber von ihm ab, als L.
  80. gegen den Kopf des Nebenklägers trat. L.
  81. eingriff und
  82. erkannte, dass der Nebenklä-
  83. -5-
  84. ger nicht unerheblich verletzt, ohne Bewusstsein und deshalb wehrlos war, trat
  85. aber aus fremdenfeindlicher Verachtung ein zweites Mal gegen dessen Kopf.
  86. Bevor er dem Nebenkläger einen weiteren Tritt versetzen konnte, näherten sich
  87. von verschiedenen Seiten Passanten und forderten die Angeklagten lautstark
  88. auf, vom Nebenkläger abzulassen. Daraufhin entfernten sich die Angeklagten
  89. vom Tatort.
  90. 4
  91. Passanten kümmerten sich um den verletzten Nebenkläger und sorgten
  92. dafür, dass er in eine Klinik gebracht wurde, in der er bis zum 23. Juli 2013 stationär behandelt wurde. Er hatte unter anderem einen Bruch der rechten Augenhöhlenwand und des Nasenbeins, ein Schädelhirntrauma sowie eine dünne
  93. Blutung unter die weiche Hirnhaut (Subarachnoidalblutung) und eine minimale
  94. Einblutung ins Hirngewebe (Kontusionsblutung) erlitten. Seine Verletzungen
  95. waren potentiell, nicht aber konkret lebensgefährlich.
  96. 5
  97. 2. Das Landgericht hat die Tat als gefährliche Körperverletzung – mittels
  98. einer das Leben gefährdenden Behandlung sowie gemeinschaftlich begangen –
  99. gewürdigt und ausgeführt, es habe sich nicht die Überzeugung verschaffen
  100. können, dass die Angeklagten den Tod des Nebenklägers billigend in Kauf
  101. nahmen. Dagegen spreche, dass es sich um eine „spontane, unüberlegte und
  102. sehr kurz andauernde Tat“ gehandelt habe. Die Angeklagten hätten aufgrund
  103. einer mehrjährigen Erfahrung als Kickboxer (K.
  104. grund verschiedener Schlägereien als Fußballfan (L.
  105. ) beziehungsweise auf) möglicherweise ihre
  106. Kräfte besser als andere Täter einschätzen können, so dass der Nebenkläger
  107. nicht noch schwerer verletzt worden sei. Zudem hätten die Angeklagten in einer
  108. „(gruppen-)dynamischen Situation“ gestanden sowie unter erheblichem Einfluss
  109. von Alkohol und Cannabis, deren Wirkung sie möglicherweise leichtfertig darauf
  110. vertrauen ließ, ein tödlicher Erfolg werde nicht eintreten. Die Gewalthandlungen
  111. -6-
  112. der Angeklagten hätten „keine schwersten Kopfverletzungen, insbesondere keinen Bruch des Schädels,“ herbeigeführt. Der Umstand, dass die Tat auf öffentlichem Straßenland vor zahlreichen Zeugen stattgefunden habe, weise darauf
  113. hin, „dass eine Schlägerei – auf für den Geschädigten schreckliche Art – ‚aus
  114. dem Ruder lief', die Angeklagten aber den Tod des Nebenklägers jedenfalls
  115. nicht billigend in Kauf nahmen“ (UA S. 25). Dass ihre tatmotivierende Fremdenfeindlichkeit so weit gegangen sei, auch den Tod eines Menschen billigend in
  116. Kauf zu nehmen, lasse sich nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen.
  117. Die Strafkammer hat nicht ausschließen können, dass sich die Angeklagten bei
  118. Tatbegehung in einem Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit
  119. (§ 21 StGB) befanden.
  120. 6
  121. 3. Die Beweiswürdigung des Landgerichts zum Tötungsvorsatz hält
  122. – auch eingedenk des beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs
  123. (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2008 – 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401) –
  124. sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand, da sie lückenhaft ist.
  125. 7
  126. a) Das Landgericht hat im Ausgangspunkt nicht verkannt, dass die auf
  127. der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive
  128. Gefährlichkeit der Tathandlung ein wesentlicher Indikator für das Vorliegen eines bedingten Vorsatzes ist (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 23. Februar 2012 – 4 StR 608/11, NStZ 2012, 443). Bei dessen Prüfung ist es aus revisionsrechtlicher Sicht erforderlich, aber auch ausreichend, sämtliche objektiven
  129. und subjektiven, für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände des
  130. Einzelfalles in eine individuelle Gesamtschau einzubeziehen und zu bewerten.
  131. Dem genügt die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht, da mehrere wesentlich für einen bedingten Tötungsvorsatz der Angeklagten sprechende tatsächliche Umstände nicht bedacht werden.
  132. -7-
  133. 8
  134. b) Soweit die Strafkammer gegen das Vorliegen des voluntativen Elements eines Tötungsvorsatzes ausführt, es habe sich um eine „spontane, unüberlegte und sehr kurz andauernde“ Tat gehandelt, berücksichtigt sie nicht,
  135. dass beide Angeklagte gegen den bereits bewusstlosen Nebenkläger mehrere
  136. gefährliche Gewalthandlungen ausführten und mit diesen erst aufhörten, als
  137. sich Passanten näherten und sie lautstark aufforderten, vom Nebenkläger abzulassen. Der Tatsache, dass die Angeklagten nicht freiwillig mit der Misshandlung des Nebenklägers aufhörten, kann ein hoher Indizwert für ihre innere Einstellung gegenüber einer möglichen Tötung des Nebenklägers zukommen (vgl.
  138. BGH, Urteil vom 25. Mai 2007 – 1 StR 126/07, NStZ 2007, 639, 640). Das gewollte weitere Tun kann den Schluss nahelegen, dass ihnen die Folgen ihrer
  139. Tat bis hin zum möglichen Tod des Nebenklägers gleichgültig waren. Dies würde für die Annahme von bedingtem Tötungsvorsatz genügen und war mithin
  140. erörterungsbedürftig.
  141. 9
  142. Zudem sprechen die Urteilsfeststellungen zum Verhalten der – berauschten – Angeklagten vor der Tat gegen ein spontanes und unüberlegtes Handeln,
  143. sondern eher dafür, dass sie bewusst Streit suchten. Dass es sich bei der
  144. Misshandlung des Nebenklägers um eine aus dem Ruder gelaufene „Schlägerei“ (UA S. 25) gehandelt haben könnte, wird durch die Feststellungen widerlegt. Danach beschränkte sich der zunächst vom Angeklagten K.
  145. – grundlos – körperlich angegriffene Nebenkläger auf Schutzwehr, zu der er
  146. wegen eintretender Bewusstlosigkeit alsbald schon nicht mehr in der Lage war.
  147. Er hatte in keiner Weise zu einer Eskalation des Geschehens über ein von den
  148. Angeklagten möglicherweise ursprünglich gewolltes begrenztes Maß hinaus
  149. beigetragen. Es ist auch nicht belegt oder sonst ersichtlich, dass eine von der
  150. Schwurgerichtskammer angenommene „gruppendynamische Situation“ vorlag,
  151. bei der sich die Entstehung oder zumindest das Ausmaß der Gewalttätigkeit der
  152. -8-
  153. Angeklagten ausschließlich aus ihrer Interaktion untereinander oder mit dem
  154. Nebenkläger oder den Umstehenden ergab. Abgesehen davon stünden stattgehabte gruppendynamische Prozesse der Entwicklung eines – anfangs nicht
  155. vorhandenen – bedingten Tötungsvorsatzes in ihrem Verlauf auch keineswegs
  156. entgegen, sondern könnten sie im Gegenteil gerade gefördert haben.
  157. 10
  158. c) Soweit die Strafkammer meint, aus der – rechtsfehlerfrei festgestellten – fremdenfeindlichen Motivation der Angeklagten keinen Tötungsvorsatz
  159. schlussfolgern zu können, berücksichtigt sie nicht, dass die Angeklagten noch
  160. in der Hauptverhandlung ihre anhaltende Missachtung für den anwesenden
  161. Nebenkläger durch höhnisches Lachen über ein Foto des schwer im Gesicht
  162. Verletzten sowie „demonstratives Gähnen, Lümmeln und Lachen“ während der
  163. Beweisaufnahme (UA S. 14) zum Ausdruck gebracht haben. Dieses Verhalten
  164. kann darauf schließen lassen, dass sie das Leiden des – in ihren Augen „minderwertigen“ (UA S. 11) – Nebenklägers und die ihm zugefügten erheblichen
  165. Verletzungen bagatellisierten. Dieses auf einer „tief dissozialen Prägung“ beruhende Verhalten (UA S. 14) der Angeklagten kann ein Indiz dafür sein, dass sie
  166. auch weitergehende Verletzungen des Nebenklägers bis hin zu seinem Tod
  167. billigend in Kauf genommen hätten, und wäre mithin zu erörtern gewesen.
  168. 11
  169. d) Wenn die Strafkammer eine gefährliche Körperverletzung mittels einer
  170. das Leben gefährdenden Behandlung bejaht, so geht sie davon aus, dass die
  171. Tat in der Vorstellung der Angeklagten auf eine Lebensgefährdung „angelegt”
  172. war (vgl. BGH, Urteil vom 12. Oktober 1989 – 4 StR 318/89, BGHSt 36, 262,
  173. 265). Demnach erkannten die Angeklagten trotz ihrer Beeinflussung durch Alkohol und Cannabis die Lebensgefährlichkeit ihrer Gewalthandlungen. Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass sie dennoch darauf vertraut haben könnten, der
  174. Nebenkläger werde nicht zu Tode kommen, hat das Landgericht nicht festge-
  175. -9-
  176. stellt. Soweit es zugunsten der Angeklagten davon ausgeht, dass sie aufgrund
  177. ihrer Gewalterfahrenheit die Wirkung ihrer Verletzungshandlungen möglicherweise besser als andere Täter einschätzen konnten, weist die Revision zu
  178. Recht darauf hin, dass es nach Vornahme einer potentiell lebensgefährlichen
  179. Handlung grundsätzlich dem Zufall anheim gegeben bleibt, ob die Lebensgefahr sich konkretisiert und letztlich zum Tod führt.
  180. 12
  181. 4. Der aufgezeigte Rechtsmangel führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den Feststellungen; jedoch können die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen bestehen bleiben. Ergänzende,
  182. ihnen nicht widersprechende Feststellungen durch das neue Tatgericht sind
  183. zulässig.
  184. Sander
  185. Schneider
  186. Berger
  187. Dölp
  188. Bellay