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242 lines
13 KiB

  1. Nachschlagewerk: ja
  2. BGHSt
  3. : ja
  4. Veröffentlichung: ja
  5. StGB §§ 27, 212
  6. Vergatterung von Soldaten an der innerdeutschen Grenze
  7. vor befehlsgemäßem tödlichen Schußwaffengebrauch gegen
  8. einen unbewaffneten Flüchtling ist als Beihilfe zum
  9. Totschlag strafbar.
  10. BGH, Beschluß v. 7. August 2001
  11. - 5 StR 259/01
  12. LG Berlin –
  13. 5 StR 259/01
  14. BUNDESGERICHTSHOF
  15. BESCHLUSS
  16. vom 7. August 2001
  17. in der Strafsache
  18. gegen
  19. wegen Beihilfe zum Totschlag
  20. -2-
  21. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. August 2001
  22. beschlossen:
  23. 1.
  24. Auf die Revision des Angeklagten B
  25. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. Oktober
  26. 2000 nach § 349 Abs. 4 StPO dahin geändert, daß dieser
  27. Angeklagte wegen Beihilfe zum Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.
  28. 2.
  29. Die weitergehende Revision wird nach §
  30. 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
  31. 3.
  32. Der Beschwerdeführer hat die Kosten
  33. des Rechtsmittels zu tragen, jedoch wird die Gebühr um
  34. ein Zehntel ermäßigt; die Staatskasse trägt ein Zehntel
  35. der gerichtlichen Auslagen und notwendigen Auslagen
  36. des Beschwerdeführers im Revisionsverfahren.
  37. G r ü n d e
  38. I.
  39. Das Landgericht hat den Beschwerdeführer, den Angeklagten B
  40. , wegen Anstiftung zum Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
  41. 1. Folgendes Tatgeschehen liegt dem angefochtenen Urteil zugrunde:
  42. -3-
  43. Am 10. Mai 1974 wurde der 68jährige
  44. S
  45. an der in-
  46. nerdeutschen Grenze zwischen Alt-Glienicke und Berlin-Rudow von Soldaten der Grenztruppen der DDR erschossen. Die beiden im Wachdienst an
  47. der Grenze eingesetzten Soldaten vermuteten, daß der schwerkranke, möglicherweise suizidale Rentner, der den Hinterlandsicherungszaun überstiegen hatte und sich ihrem Postenturm näherte, nach Berlin (West) flüchten
  48. wollte. Nachdem der Mann einen Zuruf, er solle stehenbleiben, unbeachtet
  49. gelassen hatte und weitergelaufen war, gab einer der Soldaten auf Befehl
  50. des als Postenführer eingesetzten anderen mit seiner Maschinenpistole
  51. “Kalaschnikow”, die auf Dauerfeuer eingestellt war, fünf Schüsse in Richtung
  52. des als “Grenzverletzer” angesehenen Rentners ab, um dessen Flucht unbedingt zu verhindern. Ein Schuß traf
  53. S
  54. tödlich. Dies hat-
  55. ten die Soldaten bei dem befehlsgemäß ausgeübten Schußwaffengebrauch
  56. zwar nicht gewollt, jedoch für möglich erachtet und gebilligt.
  57. Der Beschwerdeführer war als Oberleutnant stellvertretender Kompaniechef und als “Kommandeur Grenzsicherung” eingesetzt. Von dem Geschehen benachrichtigt, traf er alsbald am Ort ein. Der von ihm herbeigerufene Regimentsarzt stellte den Tod des Opfers fest. Die Grenzsoldaten wurden für ihr Verhalten belobigt; auch der Beschwerdeführer erhielt eine Geldprämie von 200 Mark als Auszeichnung. Auf die Vermißtenanzeige der Angehörigen des Getöteten wurde diesen auf Veranlassung des Ministeriums
  58. für Staatssicherheit der DDR vorgespiegelt, er sei zehn Tage später erhängt
  59. im Wald aufgefunden worden. Die Angehörigen erklärten sich daraufhin mit
  60. der sofortigen Feuerbestattung ohne Obduktion einverstanden.
  61. Der Beschwerdeführer war für die “Vergatterung” der Soldaten verantwortlich gewesen. Er hatte sie entweder – wie regelmäßig üblich – selbst
  62. vorgenommen oder sie – im nicht sicher ausschließbaren Fall, daß er mit
  63. vorrangigen Organisationsaufgaben befaßt gewesen war – einem anderen
  64. übertragen. Den Soldaten war bei der Vergatterung, wie üblich, vor ihrem
  65. -4-
  66. Einsatz befohlen worden, in ihrer Schicht “Grenzverletzer” an der Flucht
  67. – erforderlichenfalls durch Einsatz der Schußwaffe – zu hindern, sie festzunehmen, äußerstenfalls “zu vernichten”, da der Tod eines “Grenzverletzers”
  68. eher hingenommen werden sollte als ein gelungener Grenzdurchbruch.
  69. 2. Die Mitangeklagten – die beiden zum Grenzdienst eingesetzten,
  70. unmittelbar für den Schußwaffengebrauch verantwortlichen, zur Tatzeit erst
  71. 20jährigen Soldaten –, die das Urteil nicht angefochten haben, wurden jeweils wegen (gemeinschaftlichen) Totschlags zu neun Monaten Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt. Das Landgericht hat die Tat weder als durch
  72. die Grenzvorschriften der DDR gerechtfertigt noch trotz Handelns auf Befehl
  73. als entschuldigt angesehen. Es hat den Angeklagten einen vermeidbaren
  74. Verbotsirrtum zugebilligt und die Strafen nach dem Strafrahmen des § 213
  75. StGB a. F. als dem mildesten Recht (§ 2 Abs. 3 StGB i. V. m. Art. 315 Abs. 1
  76. Satz 1 EGStGB) gebildet.
  77. Die gegen den Beschwerdeführer verhängte elfmonatige Freiheitsstrafe hat das Landgericht demselben Strafrahmen entnommen. Es hat ihn
  78. aufgrund der selbst vorgenommenen oder angeordneten Vergatterung als
  79. Anstifter (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR, § 26 StGB) angesehen.
  80. II.
  81. Die Revision des Beschwerdeführers führt mit der Sachrüge zur Änderung des Schuldspruchs und zur Reduzierung der Strafe. Im übrigen ist
  82. das Rechtsmittel, wie vom Generalbundesanwalt zutreffend beurteilt, offensichtlich unbegründet.
  83. 1. Mit der Ausführung der konkret rechtsfehlerfrei festgestellten, mit
  84. bedingtem Tötungsvorsatz ausgeführten Tat haben die Grenzsoldaten der
  85. mittlerweile offenkundigen Befehlslage an der innerdeutschen Grenze (vgl.
  86. -5-
  87. BGHSt 40, 218, 222 ff.; 45, 270, 274 ff.) Folge geleistet. Entgegen den Einwendungen der Revision hat der Tatrichter die Haupttat entsprechend der
  88. ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur BGHSt 39, 1
  89. und 168; 40, 241), die vom Bundesverfassungericht (BVerfGE 95, 96) und
  90. vom
  91. Europäischen
  92. Gerichtshof
  93. für
  94. Menschenrechte
  95. (Urteile
  96. vom
  97. 22. März 2001, EuGRZ 2001, 210 und 219) gebilligt geworden ist, zutreffend
  98. bewertet. Für die Beurteilung der allgemeinen Befehlslage und des ihr folgenden, vom Tatrichter rechtsfehlerfrei konkret festgestellten Inhalts der
  99. Vergatterung wäre es bedeutungslos, wenn – wie die Revision geltend
  100. macht – die zur Tatzeit maßgeblichen Grenzvorschriften den Begriff “Vernichtung” ausdrücklich nur auf in die DDR eindringende bzw. bewaffnete
  101. “Grenzverletzer” bezogen hätten. Dies hat der Senat – für eine andere Tatzeit, aber mit hier unverändert geltenden Erwägungen – bereits festgestellt
  102. (BGH, Urteil vom 24. April 1996 – 5 StR 322/95 –, insoweit in BGHR WStG
  103. § 5 Abs. 1
  104. – Schuld 3 und NStZ-RR 1996, 323 nicht abgedruckt).
  105. Die Verurteilung des Beschwerdeführers auf wahldeutiger Tatsachengrundlage und seine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen der Vergatterung sowohl für den Fall, daß er sie selbst erteilt, oder auch für den Fall, daß
  106. er sie delegiert hatte, ist – auch auf der Basis des Strafrechts der DDR –
  107. rechtsfehlerfrei (vgl. zum einen BGHSt 42, 65, 67; zum anderen BGH, Urteil
  108. vom 24. April 1996 – 5 StR 322/95 –, auch insoweit in BGHR WStG § 5
  109. Abs. 1 – Schuld 3 und NStZ-RR 1996, 323 nicht abgedruckt; BGH NStZ
  110. 2001, 364).
  111. 2. Die Beurteilung der Vergatterung (vgl. dazu tatsächlich BGHSt 39,
  112. 1, 3 und 11) als Anstiftung erweist sich hingegen letztlich nicht als zutreffend. Der Beschwerdeführer ist lediglich der Beihilfe (§ 27 Abs. 1, § 22
  113. Abs. 2 Nr. 3 StGB-DDR) zum Totschlag schuldig.
  114. -6-
  115. Wer an der Durchsetzung des Grenzregimes der DDR mit der darin
  116. enthaltenen offensichtlich menschenrechtswidrigen Anweisung zu notfalls
  117. tödlichem Schußwaffengebrauch durch verantwortliche Gestaltung der maßgeblichen Befehle mitgewirkt hat, ist für den tödlichen Schußwaffengebrauch
  118. nach dem regelmäßig milderen Recht der Bundesrepublik Deutschland als
  119. mittelbarer Täter, nach dem Recht der DDR als Anstifter verantwortlich
  120. (BGHSt 40, 218; 45, 270). Der Vorgesetzte in der Grenzkompanie, der die
  121. einzelnen Soldaten zum Wachdienst an der Grenze eingeteilt und dabei
  122. vergattert hat (vgl. zu diesem militärischen Begriff Schölz/Lingens, WStG 4.
  123. Aufl. § 44 Rdn. 5; Dau, WDO 2. Aufl. § 17 Rdn. 20), hat seinerseits entsprechend befehlsgebunden nach strikten inhaltlichen Vorgaben gehandelt.
  124. Zwar hat er mit seinem Verhalten für den Fall eines anschließenden tödlichen Schußwaffengebrauchs den konkreten Einsatz des dabei unmittelbar
  125. tätig gewordenen Soldaten verursacht; er hat ihn regelmäßig – so auch hier
  126. – bewußt zu bedingt vorsätzlichem Töten für den Fall einer als möglich angesehenen nicht anders verhinderbaren Flucht eingesetzt. Indes war die
  127. Befehlslage den Soldaten – auch dem hier möglicherweise erstmals im
  128. Grenzdienst eingesetzten Schützen – im Rahmen ihrer Ausbildung vorgegeben und erläutert. Sie wurde durch die Vergatterung lediglich aktualisiert.
  129. Der Vergatterer hatte keinen inhaltlichen Spielraum. War Schußwaffengebrauch gegen Flüchtlinge ausnahmsweise aus besonderem Anlaß ausgesetzt (vgl. BGHSt 39, 168, 190; 45, 270, 303) – hierauf weist der Tatrichter
  130. im Rahmen der rechtlichen Bewertung als Anstiftung besonders hin –, war
  131. dem Vergatterer auch dies selbstverständlich vorgegeben.
  132. Der Bundesgerichtshof hat über die rechtliche Einordnung des Tatbeitrages der Vergatterung noch nicht verbindlich entschieden. Als im Rahmen der Befehlskette mitverantwortlichen mittelbaren Täter hat er den Vergatterer bislang nicht angesehen, vielmehr in einem Sonderfall, in welchem
  133. Vergatterer wie Schützen ein Tötungsvorsatz nicht nachzuweisen war, die
  134. bei anderer Beweislage anzunehmende Verantwortlichkeit des Vergatterers
  135. -7-
  136. als Anstifter oder Gehilfe offengelassen (BGHR StGB § 25 Abs. 1 – Mittelbare Täterschaft 6; vgl. auch Willnow JR 1997, 221, 226). Im vorliegenden Fall,
  137. in dem der mit dem bedingten Tötungsvorsatz der für die Schußabgabe unmittelbar verantwortlichen Grenzsoldaten korrespondierende bedingte Tötungsvorsatz des Beschwerdeführers als Vergatterer nicht in Frage steht, ist
  138. nunmehr über die Bewertung des in der Vergatterung liegenden Tatbeitrages zu entscheiden.
  139. Infolge der vorgesetzten Stellung des Beschwerdeführers und seiner
  140. konkreten Einsatzorganisation steht sein Tatbeitrag zwar an der Grenze zur
  141. mittelbaren Täterschaft bzw. Anstiftung. Dagegen stehen die eigene Befehlseinbindung des Beschwerdeführers mit strikten inhaltlichen Vorgaben und
  142. die zuvor erfolgte generelle Befehlserteilung an die eingesetzten Soldaten,
  143. deren Tatentschluß für den Fall der später tatsächlich eingetretenen (hier
  144. wohl nur vermeintlichen) Fluchtsituation damit nicht erst durch die Vergatterung geweckt wurde, sondern für den Fall der Bereitschaft der Soldaten zu
  145. unbedingter Befehlserfüllung bereits latent vorhanden und zuvor festgelegt
  146. war.
  147. Danach bewertet der Senat den in der Vergatterung liegenden Tatbeitrag des Beschwerdeführers lediglich als Beihilfe zum Totschlag. Sondernormen des Militärstrafrechts, auf die Schuldsprüche wegen täterschaftlicher
  148. Verantwortlichkeit auch in Fällen der vorliegenden Art mit klaren Befehlsstrukturen bislang nicht gestützt worden sind (vgl. lediglich den Vorbehalt in
  149. BGHSt 40, 218, 237), zwingen bei der hier gegebenen Befehlseinbindung
  150. nicht zu anderer Entscheidung. Mit der Vergatterung oder ihrer Veranlassung hat der Beschwerdeführer – in Befolgung und Förderung der allgemeinen Befehlslage – die unmittelbaren Täter in ihrem zuvor bereits anderweits
  151. geweckten Tatentschluß letztlich lediglich maßgeblich bestärkt (vgl. auch
  152. BGHR StGB § 26 – Bestimmen 3; DDR-Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrbuch 1976 S. 377 f.).
  153. -8-
  154. Einen über die bloße Vergatterung hinausgehenden konkreten Befehl
  155. in der aktuellen Situation des unmittelbar bevorstehenden Schußwaffengebrauchs, der zu abweichender Beurteilung veranlassen würde (vgl. BGHSt
  156. 42, 65, 68 ff.), hatte der Beschwerdeführer nicht erteilt. Die Entscheidung
  157. des Senats hat die Konsequenz, daß Fälle der Vergatterung ohne anschließenden tödlichen Schußwaffengebrauch nicht etwa nach Vorschriften über
  158. versuchte Anstiftung oder nach wehrstrafrechtlichen Spezialnormen (vgl.
  159. BGHR StGB § 25 Abs. 1 – Mittelbare Täterschaft 6) strafbar sind.
  160. 3. Der Senat kann den Schuldspruch selbst ändern. Der Beschwerdeführer hätte sich gegen den geänderten Schuldvorwurf nicht anders wirksamer verteidigen können.
  161. Trotz einer weiteren Herabsetzung des nach § 2 Abs. 3 StGB,
  162. Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB maßgeblichen Strafrahmens des § 213 StGB
  163. a. F. gemäß § 27 Abs. 2 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB kann der Senat jedenfalls
  164. ausschließen, daß die Strafe noch milder hätte ausfallen können als bei den
  165. unmittelbar tätig gewordenen Soldaten, die einen erheblich niedrigeren
  166. Dienstgrad hatten und deren durch Befehlsbindung und vermeidbaren Verbotsirrtum sowie affektive Anspannung geprägte aktuelle Tatsituation einer
  167. Entschuldigung erheblich näher stand (vgl. zu dieser Problematik nur BGHR
  168. WStG § 5 Abs. 1 – Schuld 4 und 6 m.w.N.; BVerfGE 95, 96, 142; EGMR
  169. EuGRZ 2001, 219, 220 f. und Sondervoten S. 222 ff.), als dies beim Beschwerdeführer der Fall war.
  170. -9-
  171. Um den angesichts eines mehr als 25 Jahre zurückliegenden Tatgeschehens gebotenen endgültigen Abschluß des Verfahrens herbeizuführen,
  172. setzt der Senat hier entsprechend § 354 Abs. 1 StPO die Strafe auf diese
  173. konkret denkbare Mindesthöhe fest.
  174. Häger
  175. Raum
  176. Basdorf
  177. Gerhardt
  178. Brause