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  1. 5 StR 181/12
  2. BUNDESGERICHTSHOF
  3. BESCHLUSS
  4. vom 19. Juni 2012
  5. in der Strafsache
  6. gegen
  7. wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
  8. -2-
  9. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Juni 2012
  10. beschlossen:
  11. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 15. Dezember 2011 nach § 349
  12. Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der
  13. Angeklagte verurteilt worden ist.
  14. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
  15. auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  16. G r ü n d e
  17. 1
  18. Das Landgericht hat den Angeklagten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen
  19. schuldig gesprochen und ihn unter Einbeziehung der durch das Urteil des
  20. Amtsgerichts Saarbrücken vom 2. November 2010 wegen Unterhaltspflichtverletzung in zwei Fällen verhängten Einzelfreiheitsstrafen von jeweils zwei
  21. Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten
  22. verurteilt sowie angeordnet, dass von der Gesamtfreiheitsstrafe drei Monate
  23. als vollstreckt gelten. Vom Vorwurf weiterer sechs Fälle des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen hat es den Angeklagten freigesprochen. Die auf die Sachrüge
  24. gestützte Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung des Urteils, soweit
  25. er verurteilt worden ist.
  26. 2
  27. 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts besuchte die am 6. Juni 1997 geborene Nebenklägerin, Tochter aus der ersten Ehe des Angeklagten, diesen an einem Wochenende im September 2008 gemeinsam mit ih-
  28. -3-
  29. rem Bruder in seiner Wohnung. Zu dieser Zeit befand sich die zweite Ehefrau
  30. des Angeklagten in Marokko. Während der Junge im Wohnzimmer an seinem Computer beschäftigt war, legten sich der Angeklagte und seine Tochter
  31. im Elternschlafzimmer im Doppelbett schlafen. Als diese bereits eingeschlafen war, schob der Angeklagte seine Hand unter ihre Unterwäsche und berührte sie mit seinen Fingern im Scheidenbereich. Als sie wach wurde, zog er
  32. seine Hand schnell zurück.
  33. 3
  34. Von dem Vorwurf, die Nebenklägerin im Tatzeitraum Juni 2006 bis
  35. Februar 2010 in mindestens fünf weiteren Fällen in seinen jeweiligen Wohnungen unter ihrer Oberbekleidung an den Brüsten berührt zu haben, wobei
  36. sie in mindestens drei dieser Fälle das erigierte Glied des Angeklagten an
  37. ihren Schenkeln spürte, hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen, da es unter Berücksichtigung der grundsätzlich für glaubhaft erachteten Angaben der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung „nicht die erforderliche Konkretisierung vornehmen“ konnte (UA S. 25). Darüber hinaus hat die
  38. Jugendschutzkammer den Angeklagten auch von dem weiteren Vorwurf freigesprochen, im Tatzeitraum Januar 2008 bis Januar 2010 anlässlich eines
  39. spielerischen Gerangels sein bedecktes Geschlechtsteil an der Scheide der
  40. ebenfalls bekleideten Geschädigten gerieben zu haben, da sie sich aufgrund
  41. der Hauptverhandlung nicht mit hinreichender Sicherheit überzeugen konnte,
  42. „dass dieser Vorfall so stattgefunden hat. Zugunsten des Angeklagten konnte
  43. nicht ausgeschlossen werden, dass die Nebenklägerin dieses Verhalten des
  44. Angeklagten falsch interpretiert haben kann“ (UA S. 9).
  45. 4
  46. Im Ergebnis seiner Prüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin hat das Landgericht „keinerlei Zweifel daran, dass sich die Tathandlung sowie die übrigen sexuellen Übergriffe des Angeklagten zum Nachteil der Nebenklägerin so abspielten wie im Sachverhalt festgestellt“ (UA
  47. S. 18). Es weicht damit von der Beurteilung der aussagepsychologischen
  48. Gutachterin ab, die – entgegen ihrem schriftlichen Gutachten – „im Hinblick
  49. auf das Aussagematerial der Nebenklägerin im Rahmen der Hauptverhand-
  50. -4-
  51. lung“ (UA S. 18) nicht mehr zu dem Ergebnis gelangte, dass deren Bekundungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert seien. In der
  52. Hauptverhandlung habe sich die „Qualität des Aussagematerials“ reduziert.
  53. 5
  54. 2. Die Beweiswürdigung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht
  55. stand. Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tathergang und der Täterschaft des die Taten bestreitenden Angeklagten alleine auf die Angaben
  56. der Nebenklägerin gestützt. Es weist zwar auf die besonderen, an diese Beweiskonstellation zu stellenden Anforderungen hin (vgl. BGH, Beschlüsse
  57. vom 22. April 1987 – 3 StR 141/87 – und vom 18. Juni 1997 – 2 StR 140/97,
  58. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1 und 14); gleichwohl genügen die Urteilsgründe diesen Anforderungen nicht. Sie machen vielmehr nicht in einer
  59. für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise deutlich, dass die Jugendschutzkammer alle zur Beeinflussung der Entscheidung geeigneten Umstände in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise in die Überzeugungsbildung einbezogen hat.
  60. 6
  61. a) Zwar ist das Tatgericht nicht gehalten, einem Sachverständigen zu
  62. folgen. Kommt es aber zu einem anderen Ergebnis, so muss es sich konkret
  63. mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen, um zu belegen, dass es über das bessere Fachwissen verfügt (vgl. BGH, Urteil vom
  64. 12. Juni 2001 – 1 StR 190/01). Es muss insbesondere auch dessen Stellungnahme zu den Gesichtspunkten wiedergeben, auf die es seine abweichende Auffassung stützt (BGH, Urteil vom 20. Juni 2000 – 5 StR 173/00,
  65. NStZ 2000, 550). Aus den im Urteil wiedergegebenen Ausführungen der
  66. Sachverständigen wird deutlich, weshalb sie von einer Reduzierung der
  67. „Qualität des Aussagematerials“ in der Hauptverhandlung ausgegangen ist,
  68. aufgrund derer sie nicht mehr an ihrer Einschätzung im schriftlichen Gutachten festhalten könne (UA S. 19). Die Mutmaßung der Sachverständigen, das
  69. Aussageverhalten der Nebenklägerin könne „aufgrund des großen Zeitintervalls“ zwischen polizeilicher Vernehmung und Exploration einerseits und
  70. Hauptverhandlung andererseits oder mit dem schwierigen Lebensabschnitt
  71. -5-
  72. erklärbar sein, in dem sich die Nebenklägerin befinde, ändert nichts an der
  73. – in einem unaufgelösten Widerspruch zitierten – Wertung der Sachverständigen, dass die Reduktion des Aussagematerials mit gutachterlichen Methoden nicht durch Vergessensprozesse erklärt werden könne.
  74. 7
  75. Die Jugendschutzkammer stellt dieser Würdigung der Sachverständigen eine eigene Beweiswürdigung gegenüber, ohne sich dabei aber mit der
  76. von der Sachverständigen festgestellten Reduzierung der Aussagequalität
  77. der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung auseinanderzusetzen. Jedenfalls
  78. in den Fällen, in denen die Aussage des Tatopfers das einzige Beweismittel
  79. ist, hat das Tatgericht eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung unter
  80. Berücksichtigung der aussagepsychologischen Glaubwürdigkeitskriterien
  81. vorzunehmen (Brause, NStZ 2007, 505, 506). Das Landgericht beruft sich
  82. insoweit darauf, dass es anders als die Sachverständige die Frage der
  83. Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin nicht aufgrund aussagepsychologischer
  84. Instrumentarien zu entscheiden habe, sondern nach dem Grundsatz der
  85. freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Indes hatte das Landgericht dabei
  86. aussagepsychologische Glaubwürdigkeitskriterien zu beachten; es hat diese
  87. in verschiedenen Bereichen auch selbst angewendet. Bei seiner Prüfung, die
  88. demnach substantiell denselben Kriterien zu folgen hatte wie diejenige der
  89. Sachverständigen, musste es sich mit deren Einwänden auseinandersetzen.
  90. 8
  91. b) Das Landgericht stützt seine Beweiswürdigung vor allem auf das
  92. sachliche und keine überschießende Belastungstendenz zeigende Aussageverhalten der Geschädigten, das Fehlen von Falschbelastungsmotiven, die
  93. spontane Offenbarung des Geschehens zunächst gegenüber Freundinnen
  94. und die Schilderung „sehr origineller Details“ (UA S. 21, 23). Insoweit werden
  95. allerdings nur zwei Details genannt, die gerade nicht den Verurteilungsfall
  96. betreffen. Überdies bezieht sich eines dieser Details (der Angeklagte habe
  97. anlässlich eines sexuellen Übergriffs ihr gegenüber geäußert, nicht er, sondern der Fuß der zwischen den beiden im Bett liegenden kleinen Halbschwester habe sie im Genitalbereich berührt) auf einen Vorfall, bei dem sich
  98. -6-
  99. – jedenfalls nach der nachvollziehbaren Auffassung der Sachverständigen,
  100. der das Landgericht insoweit nicht widerspricht – nicht ausschließen lässt,
  101. dass es hier zu einer Fehlinterpretation der Nebenklägerin gekommen ist.
  102. Darüber hinaus sind die Schilderungen der Nebenklägerin zu diesem Vorfall
  103. an verschiedenen Stellen des Urteils unterschiedlich wiedergegeben („sie
  104. habe dann bemerkt, dass ihr Vater mit seinem Penis sie in ihrem Genitalbereich berührt habe“, UA S. 16; anlässlich eines Vorfalls, bei dem sie mit dem
  105. Angeklagten und ihrer kleinen Halbschwester im Ehebett lag, habe sie „etwas festes“ an ihrem Oberschenkel gespürt, was sie als den Penis des Angeklagten interpretierte, UA S. 25). Ob insoweit eine Inkonstanz der Angaben
  106. der Nebenklägerin vorlag, mit der sich das Urteil hätte auseinandersetzen
  107. müssen, bleibt unklar.
  108. 9
  109. c) Die Jugendschutzkammer befasst sich mit verschiedenen Mängeln
  110. der Zeugenaussage (Probleme bei der zeitlichen Einordnung der Taten, Widersprüche hinsichtlich des Tatorts) und erklärt diese – ohne Rücksicht auf
  111. die Einschätzung der Sachverständigen – im Ergebnis mit Vergessens- und
  112. Verschmelzungsprozessen. Die von der Nebenklägerin abgegebene inkonstante Schilderung hinsichtlich eines Eindringens des Angeklagten mit dem
  113. Finger in ihre Scheide führt die Jugendschutzkammer auf Schwierigkeiten
  114. der Nebenklägerin hinsichtlich sexueller Begrifflichkeiten zurück. Indes befasst sich das Urteil in keiner Weise mit der Bekundung der Mutter der Nebenklägerin, diese habe ihr unter anderem mitgeteilt, der Angeklagte habe
  115. „sein ‚Ding‘ bei ihr reingemacht“ (UA S. 13). Eine solche Darstellung der Nebenklägerin gegenüber ihrer Mutter wäre kaum mit mangelnden Begrifflichkeiten zu erklären. Die Beweiswürdigung der Jugendschutzkammer ist mithin
  116. auch insoweit lückenhaft.
  117. 10
  118. d) Ohne dass dies den Angeklagten für sich beschwert, bleibt die Beweiswürdigung auch in ihrer Gesamtheit widersprüchlich, weil kaum erklärlich
  119. ist, weshalb das Landgericht bei seiner insgesamt positiven Beurteilung der
  120. Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin hinsichtlich der weiteren
  121. -7-
  122. Tatvorwürfe nicht zu Mindestfeststellungen gelangt ist, die insoweit einer umfassenden Freisprechung entgegengestanden hätten.
  123. 11
  124. 3. Das angefochtene Urteil war demnach insgesamt aufzuheben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Wenngleich der Teilfreispruch Bestand hat, wird das neue Tatgericht allein zur Überprüfung des einzigen verbleibenden Anklagevorwurfs den Wahrheitsgehalt der belastenden Angaben
  125. der Nebenklägerin in ihrer Gesamtheit zu überprüfen haben. Die Aufhebung
  126. umfasst notwendigerweise auch die Kompensationsentscheidung, für die das
  127. Urteil keinerlei Begründung gibt.
  128. Basdorf
  129. Schaal
  130. Dölp
  131. Schneider
  132. Bellay