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281 lines
12 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 4 StR 364/08
  4. vom
  5. 21. Oktober 2008
  6. in der Strafsache
  7. gegen
  8. Nachschlagewerk: ja
  9. BGHSt:
  10. nein
  11. Veröffentlichung: ja
  12. StPO § 357
  13. § 357 StPO findet im Zusammenhang mit der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen nach dem sog. Vollstreckungsmodell keine Anwendung.
  14. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2008 - 4 StR 364/08 - Landgericht
  15. Saarbrücken
  16. -21.
  17. 2.
  18. zu 1.: wegen besonders schwerer sexueller Nötigung u.a.
  19. zu 2.: wegen Freiheitsberaubung
  20. -3-
  21. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführer am 21. Oktober 2008 gemäß § 349
  22. Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
  23. I.
  24. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des
  25. Landgerichts Saarbrücken vom 14. März 2008
  26. 1.
  27. im Schuldspruch zur Klarstellung dahin geändert,
  28. dass der Angeklagte Y.
  29. der besonders schwe-
  30. ren sexuellen Nötigung und der Freiheitsberaubung
  31. schuldig ist;
  32. 2.
  33. aufgehoben,
  34. a)
  35. soweit bezüglich der Angeklagten Y.
  36. E.
  37. und
  38. eine Kompensation des Verstoßes gegen
  39. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK nicht vorgenommen
  40. worden ist und
  41. b)
  42. soweit bezüglich des Angeklagten Y.
  43. eine
  44. Entscheidung gemäß § 67 Abs. 2 StGB über
  45. die Vollstreckungsreihenfolge unterblieben ist.
  46. II.
  47. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der
  48. Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  49. III.
  50. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.
  51. Gründe:
  52. -4-
  53. Das Landgericht hat den Angeklagten Y.
  54. 1
  55. wegen "sexueller Nötigung,
  56. tatmehrheitlich begangen mit Freiheitsberaubung", unter Einbeziehung der Strafen aus zwei Vorverurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren
  57. verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Den
  58. Angeklagten E.
  59. hat es wegen Freiheitsberaubung unter Einbeziehung der
  60. Strafen aus drei Vorverurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem
  61. Jahr verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Im Übrigen
  62. hat es den Angeklagten E.
  63. freigesprochen.
  64. Mit ihren Revisionen rügen die Angeklagten die Verletzung sachlichen
  65. 2
  66. Rechts. Die Rechtsmittel haben in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen
  67. Umfang Erfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2
  68. StPO.
  69. 1. Das Landgericht hat bezüglich der vom Angeklagten Y.
  70. 3
  71. begangenen
  72. sexuellen Nötigung zu Recht die Qualifikation des § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB als
  73. verwirklicht angesehen. Dies ist in der Urteilsformel durch Verurteilung wegen
  74. besonders schwerer sexueller Nötigung kenntlich zu machen (vgl. BGH
  75. StraFo 2005, 516 m.N.). Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geändert.
  76. 4
  77. 2. Die Revisionen der Angeklagten Y.
  78. und E.
  79. führen zur Aufhebung
  80. des Urteils, soweit das Landgericht hinsichtlich der Beschwerdeführer davon
  81. abgesehen hat, die nach den bisherigen Feststellungen vorliegenden Verfahrensverzögerungen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 MRK nach den Grundsätzen des
  82. Beschlusses des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom
  83. -5-
  84. 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 (BGHSt 52, 124 = NStZ 2008, 234) zu kompensieren.
  85. 5
  86. a) Der zeitliche Abstand zwischen den Taten und dem Urteil des Landgerichts beträgt mehr als vier Jahre und sechs Monate. Der Angeklagte E.
  87. ist
  88. am 20. Juli 2005 verantwortlich vernommen worden, der Angeklagte Y.
  89. am
  90. 30. August 2005. Das Landgericht hat die Anklage vom 23. November 2005 mit
  91. Beschluss vom 6. April 2006 zugelassen und Termine für die Hauptverhandlung
  92. für die Zeit vom 8. November bis zum 12. November 2006 bestimmt. Am
  93. 10. November 2006 hat das Landgericht die Hauptverhandlung ausgesetzt und
  94. die psychiatrische Begutachtung des Angeklagten Y. , des früheren Mitangeklagten W.
  95. sowie des Geschädigten Q.
  96. angeordnet. Die am 12. Dezember
  97. 2007 auf den 13. Februar 2008 anberaumte Hauptverhandlung dauerte bis zum
  98. 14. März 2008. Das Landgericht hat hierzu unter anderem ausgeführt, die Anhängigkeit des Verfahrens bis zum Beginn der ersten Hauptverhandlung am 8.
  99. November 2006 sei auch unter Berücksichtigung der Überlastung der Kammer
  100. unangemessen lang gewesen. Die Dauer der Unterbrechung der Hauptverhandlung sei auch unter Berücksichtigung der Einholung der psychiatrischen
  101. Sachverständigengutachten ebenfalls zu lang gewesen, zumal jedenfalls die
  102. Begutachtung der Angeklagten auch in der Zeit zwischen dem Eingang der Anklageschrift und dem ersten Hauptverhandlungstermin hätte durchgeführt werden können und Gerichte zudem gehalten seien, auf eine zügige Mitwirkung
  103. von Sachverständigen hinzuwirken. Das Landgericht hat zwar bei der Bemessung sowohl der Einzel- als auch der Gesamtstrafen die "lange Dauer des Verfahrens" strafmildernd berücksichtigt. Es hat aber eine über die "im Rahmen der
  104. Strafzumessung vorgenommene mildernde Anrechnung" hinausgehende Kompensation der "bisherigen Verfahrensdauer" nach den Grundsätzen des Be-
  105. -6-
  106. schlusses des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs (BGHSt
  107. aaO) für nicht geboten erachtet. Dies ist hier rechtsfehlerhaft.
  108. 6
  109. Nach der Aufgabe der bisher praktizierten Strafabschlagslösung zur
  110. Kompensation einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes ist nach dem
  111. nunmehr anzuwendenden Vollstreckungsmodell die Bemessung der unrechtsund schuldangemessenen Strafe von der als Entschädigung für die Verletzung
  112. des Beschleunigungsgebotes des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK vorzunehmenden
  113. Kompensation zu trennen (vgl. BGHSt aaO S. 146 f.). Danach dienen die Feststellungen zu Art und Ausmaß der Verzögerung sowie zu ihren Ursachen zwar
  114. wie bisher (vgl. dazu BGH NStZ 1999, 181) zunächst als Grundlage für die
  115. Strafzumessung. Insofern hat der Tatrichter in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und
  116. Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der
  117. überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den
  118. Grenzen des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen
  119. sind (vgl. BGHSt 52, 124, 146). Wenn aber – wie hier – der Justiz anzulastende
  120. Verfahrensverzögerungen festgestellt sind, ist neben der Berücksichtigung der
  121. vorgenannten Milderungsgründe bei der Strafzumessung und davon unabhängig eine Kompensation der Verletzung des Beschleunigungsgebotes des Art. 6
  122. Abs. 1 Satz 1 MRK im Wege der Vollstreckungslösung vorzunehmen (vgl.
  123. BGHSt aaO; BGH, Urteil vom 7. August 2008 – 3 StR 201/08 Rdn. 9).
  124. 7
  125. Soweit das Landgericht hinsichtlich der Beschwerdeführer von einer
  126. Kompensation der sie betreffenden Verletzung des Beschleunigungsgebotes
  127. abgesehen und zum konkreten Ausmaß der sie betreffenden Verfahrensverzögerungen keine hinreichenden Feststellungen getroffen hat (vgl. dazu BGHSt
  128. aaO S. 146), bedarf die Sache daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
  129. -7-
  130. Einer Aufhebung der Feststellungen bedarf es hier aber nicht, weil der neue
  131. Tatrichter zusätzliche Feststellungen zur Verfahrensverzögerung wird treffen
  132. können, ohne sich zu den bisherigen in Widerspruch zu setzen.
  133. 8
  134. Er wird zunächst zu prüfen haben, ob vor dem Hintergrund der vorgenommenen Strafmilderung zur Kompensation die ausdrückliche Feststellung
  135. der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung genügt; ist dies der Fall, so
  136. muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar hervortreten (vgl. BGHSt 52,
  137. 124, 146). Reicht sie als Entschädigung nicht aus, so ist festzulegen, welcher
  138. bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt
  139. (zu den Kriterien für die Bemessung vgl. BGHSt aaO S. 146).
  140. 9
  141. b) Für eine Erstreckung der hinsichtlich der Beschwerdeführer insoweit
  142. gebotenen Aufhebung des Urteils auf den früheren Mitangeklagten W.
  143. , der
  144. keine Revision eingelegt hat, ist kein Raum. § 357 StPO findet keine Anwendung, weil die Aufhebung nicht wegen einer Gesetzesverletzung bei der Anwendung des Strafgesetzes erfolgt. Die Aufhebung erfolgt vielmehr, weil das
  145. Landgericht rechtsfehlerhaft von der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen nach dem so genannten Vollstreckungsmodell abgesehen
  146. hat, das sich inhaltlich an den nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6
  147. Abs. 1, Art. 13, Art. 34 MRK hierfür maßgeblichen Kriterien ausrichtet (vgl.
  148. BGHSt aaO S. 136 f.). Grundlage dieser von Fragen des Unrechts, der Schuldund Strafhöhe abgekoppelten Kompensation (vgl. BGHSt aaO S. 129 und 138;
  149. BGH, Urteil vom 7. August 2008 – 3 StR 201/08 Rdn. 9) ist ein Verstoß gegen
  150. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK bzw. gegen das auch verfassungsrechtliche Gebot
  151. der Gewährung eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3
  152. GG; vgl. Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. Einl. Rdn. 19 m. N.), mithin die Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren im Sinne des § 344 Abs. 2 StPO
  153. -8-
  154. (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2004 – 1 ARs 5/04; zur Abgrenzung zum
  155. materiellen Recht vgl. Meyer-Goßner aaO § 337 Rdn. 8; Frisch in SK-StPO §
  156. 337 Rdn. 61, jew. m.w.N.). Die Verletzung solcher Normen ist aber keine Gesetzesverletzung im Sinne des § 357 StPO (vgl. Meyer-Goßner aaO § 357 Rdn.
  157. 11; Wohlers in SK-StPO § 357 Rdn. 22 m.N.).
  158. 10
  159. Dass die Aufhebung hier auf die Sachrüge erfolgt und nicht auf eine, soweit es sich um Verzögerungen vor Urteilserlass handelt, grundsätzlich erforderliche Verfahrensrüge (vgl. BGHSt 49, 342, 343 f.; Meyer-Goßner aaO Art. 6
  160. MRK Rdn. 9 e m.N.), führt nicht zur (analogen) Anwendung der nach allgemeiner Meinung (vgl. BGHR StPO § 357 Erstreckung 9; Kuckein in KK-StPO
  161. 6. Aufl. § 357 Rdn. 23; Wohlers aaO Rdn. 52) als Ausnahmevorschrift eng auszulegenden Vorschrift des § 357 StPO. Zwar hat das Revisionsgericht auf
  162. Grund der Sachrüge einzugreifen, wenn sich – wie hier – bereits aus den Urteilsgründen ergibt, dass eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, oder wenn insoweit ein sachlich-rechtlicher Erörterungsmangel gegeben
  163. ist (vgl. BGHSt 49, 342). Der sachlich-rechtliche Mangel, der in einem solchen
  164. Fall zur Aufhebung führt, liegt nach der Aufgabe der früher praktizierten Strafabschlagslösung, bei der die Anwendung des § 357 StPO in Betracht gezogen
  165. worden ist (vgl. BGH NStZ 1996, 328; BGH, Beschluss vom 11. November
  166. 2004 – 5 StR 376/03, insoweit in BGHSt 49, 342 nicht abgedruckt), aber nicht
  167. (auch) in einer Gesetzesverletzung bei der Anwendung des materiellen Strafrechts. Durch die Kompensation nach dem so genannten Vollstreckungsmodell,
  168. die allein der Wiedergutmachung des durch die Verletzung des Art. 6 Abs. 1
  169. Satz 1 MRK entstandenen objektiven Verfahrensunrechts dient, auf die der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch hat, wird vielmehr eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, wie er in gleicher Weise einer Partei eines Zivilprozesses
  170. -9-
  171. oder einem an einem Verwaltungsrechtsstreit beteiligten Bürger erwachsen
  172. kann (vgl. BGHSt 52, 124, 137 f.).
  173. 11
  174. Eine analoge Anwendung des § 357 StPO kommt im Übrigen schon
  175. deshalb nicht in Betracht, weil die Frage, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, nach den individuellen Umständen des Einzelfalles
  176. für jeden Angeklagten eigenständig zu beurteilen ist (vgl. dazu BGH, Urteil vom
  177. 9. Oktober 2008 – 1 StR 238/08 Rdn. 14).
  178. 12
  179. 3. Die Revision des Angeklagten Y.
  180. beanstandet ferner zu Recht,
  181. dass das Landgericht es unterlassen hat, gemäß § 67 StGB die Vollstreckungsreihenfolge festzulegen. Nach § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB n.F. soll das Gericht mit
  182. der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben einer zeitlichen Freiheitsstrafe von über drei Jahren bestimmen, dass ein Teil der Strafe
  183. vor der Maßregel zu vollziehen ist. Die Sache bedarf daher auch insoweit neuer
  184. Verhandlung und Entscheidung. Einer Aufhebung der Feststellungen bedarf es
  185. insoweit nicht. Der neue Tatrichter wird gegebenenfalls hinsichtlich der Dauer
  186. des Vorwegvollzugs ergänzende Feststellungen für die zu treffende Prognose
  187. - 10 -
  188. zu treffen haben, mit welcher konkreten Verweildauer des Angeklagten im Maßregelvollzug zu rechnen ist.
  189. Maatz
  190. Kuckein
  191. Ernemann
  192. Athing
  193. Mutzbauer