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275 lines
12 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 3 StR 548/16
  5. vom
  6. 6. April 2017
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
  10. ECLI:DE:BGH:2017:060417U3STR548.16.0
  11. -2-
  12. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 6. April 2017,
  13. an der teilgenommen haben:
  14. Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
  15. Becker,
  16. Richter am Bundesgerichtshof
  17. Dr. Schäfer,
  18. Richterin am Bundesgerichtshof
  19. Dr. Spaniol,
  20. die Richter am Bundesgerichtshof
  21. Dr. Tiemann,
  22. Hoch
  23. als beisitzende Richter,
  24. Richterin am Amtsgericht
  25. als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
  26. Justizamtsinspektor
  27. als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
  28. für Recht erkannt:
  29. -3-
  30. I.
  31. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil
  32. des Landgerichts Hildesheim vom 12. August 2016 mit
  33. den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
  34. 1. soweit der Angeklagte in den Fällen 9 und 10 der
  35. Anklage freigesprochen worden ist;
  36. 2. im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
  37. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer
  38. Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten
  39. des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des
  40. Landgerichts zurückverwiesen.
  41. II. Die weitergehende Revision wird verworfen.
  42. Von Rechts wegen
  43. Gründe:
  44. 1
  45. Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in fünf Fällen sowie wegen
  46. sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person, zu der
  47. Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Hiergegen wendet sich die auf die Rüge der
  48. -4-
  49. Verletzung materiellen Rechts gestützte und wirksam auf den Freispruch in den
  50. Fällen 9 und 10 der Anklage sowie den Maßregelausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft.
  51. I.
  52. 2
  53. Nach den Feststellungen freundete sich die Mutter der im September
  54. 2003 und September 2008 geborenen Nebenkläger im Jahr 2012 mit dem Angeklagten an, der bald in das Familienleben einbezogen wurde. So übernahm
  55. er abwechselnd mit dem Großvater bei Abwesenheit der Mutter die Aufsicht
  56. über die Kinder. Im Sommer 2015 missbrauchte der Angeklagte in vier Fällen
  57. den damals elfjährigen Nebenkläger J.
  58. B.
  59. , indem er in drei Fällen
  60. den Oralverkehr an dem Kind durchführte und in einem Fall die Spitze eines
  61. Vibrators in dessen Anus einführte. Im Dezember 2015 und Januar 2016 drang
  62. er in einem Fall mit der Spitze eines Vibrators und gleich darauf mit der eines
  63. Dildos anal bei dem damals siebenjährigen Nebenkläger Ju.
  64. B.
  65. ein
  66. und manipulierte in zwei Fällen an dessen Glied, wobei das Kind in einem Fall
  67. schlief. Vom Vorwurf weiterer Missbrauchstaten zum Nachteil von J.
  68. Ju.
  69. B.
  70. und
  71. hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen, so
  72. auch in den Fällen 9 und 10 der Anklage, in denen dem Angeklagten vorgeworfen worden war, zur Anfertigung von Fotos den Nebenkläger J.
  73. B.
  74. in zwei Fällen veranlasst zu haben, mit entblößtem erigierten Penis auf der
  75. Couch sitzend zu posieren.
  76. II.
  77. 3
  78. 1. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg, soweit es sich
  79. gegen die Freisprüche in den Fällen 9 und 10 der Anklage wendet.
  80. -5-
  81. 4
  82. a) Die Staatsanwaltschaft hat ihre Revision wirksam auf die Freisprüche
  83. in diesen beiden Fällen beschränkt. Zwar hat sie allgemein die Verletzung
  84. materiellen Rechts gerügt und beantragt, das angefochtene Urteil hinsichtlich
  85. der Teilfreisprüche und der lediglich vorbehaltenen Sicherungsverwahrung
  86. aufzuheben. Doch setzt sich die Revisionsbegründung ausschließlich mit den
  87. Teilfreisprüchen in den Fällen 9 und 10 der Anklage auseinander. In einem
  88. solchen Fall, in dem der Umfang der Anfechtung unklar ist, ist nach ständiger
  89. Rechtsprechung das Angriffsziel des Rechtsmittels durch Auslegung zu
  90. ermitteln (vgl. etwa BGH, Urteile vom 7. Mai 2009 - 3 StR 122/09, juris Rn. 5;
  91. vom 11. Juni 2014 - 2 StR 90/14, BGHR StPO § 344 Abs. 1 Antrag 9). Diese
  92. ergibt nach dem insoweit maßgeblichen und eindeutigen Sinn der Revisionsbegründung - auch mit Blick auf Nr. 156 Abs. 2 RiStBV - eine Beschränkung
  93. des Rechtsmittels auf die genannten Freisprüche und den Maßregelausspruch,
  94. so dass die übrigen Teilfreisprüche ebenso wie die Schuldsprüche und die
  95. hierfür verhängten Einzelfreiheitsstrafen in Rechtskraft erwachsen sind.
  96. 5
  97. b) Im Umfang dieser Anfechtung halten die Teilfreisprüche der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat den festgestellten
  98. Sachverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft und damit
  99. gegen die ihm obliegende allseitige Kognitionspflicht (§ 264 StPO) verstoßen.
  100. Dies stellt auch einen sachlich-rechtlichen Mangel dar (vgl. KK-Kuckein,
  101. 7. Aufl., § 264 Rn. 25 mwN).
  102. 6
  103. Die umfassende gerichtliche Kognitionspflicht gebietet, dass der - durch
  104. die zugelassene Anklage abgegrenzte - Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird (st. Rspr.; vgl. nur BGH,
  105. Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 239/09, NStZ 2010, 222, 223 mwN). Der
  106. Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss
  107. -6-
  108. zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen
  109. Gründe entgegenstehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 264
  110. Rn. 10).
  111. 7
  112. Dies hat das Landgericht unterlassen. Nach den Urteilsgründen wurden
  113. Fotografien, die das Kind mit entblößtem Unterkörper und erigiertem Glied
  114. breitbeinig auf der Couch sitzend zeigen, aus dem Handy des Angeklagten
  115. ausgelesen. Der Angeklagte hat eingeräumt, die Aufnahmen gefertigt zu haben.
  116. Er habe den Nebenkläger aber nicht gebeten, zu posieren, sondern - nachdem
  117. er diesen in der abgelichteten Position vorgefunden habe - die Fotos aus einer
  118. spontanen Eingebung heraus gemacht, diese ihm gezeigt und dann gelöscht
  119. (UA S. 13). Das Landgericht sieht auf der Grundlage dieser Einlassung, der es
  120. gefolgt ist, den Anklagevorwurf als nicht bestätigt an. Es sei weder erwiesen,
  121. dass der Angeklagte den Nebenkläger zu dieser Pose veranlasst noch dass er
  122. zuvor am Penis des Kindes manipuliert habe (UA S. 31 f.). Auf der Grundlage
  123. dieser Feststellungen hätte die Strafkammer indes prüfen und entscheiden
  124. müssen, ob der Angeklagte den Tatbestand des Sich-Verschaffens kinderpornographischer Schriften nach § 184b Abs. 3 StGB erfüllt hat. Die Vorschrift
  125. ist als Unternehmensdelikt ausgestaltet. Das heißt, dass zur Erfüllung des
  126. Tatbestandes allein der Versuch vorausgesetzt ist (§ 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB), sich
  127. in den Besitz einer kinderpornografischen Schrift, wie sie auch die Abbildung
  128. eines in eindeutig sexualbezogener Haltung posierenden Kindes darstellt (vgl.
  129. BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 - 1 StR 485/13, BGHSt 59, 177, 178 ff.;
  130. Beschluss vom 3. Dezember 2014 - 4 StR 342/14, StV 2015, 494), zu bringen.
  131. Dies kann auch durch eigenhändiges Anfertigen entsprechender Fotoaufnahmen geschehen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1997 - 3 StR
  132. 567/97, BGHSt 43, 366, 368).
  133. -7-
  134. 8
  135. Das Urteil ist somit hinsichtlich der Teilfreisprüche in den Fällen 9 und 10
  136. aufzuheben. Daher kann auch die Gesamtfreiheitsstrafe nicht bestehen bleiben. Sie bedarf gegebenenfalls neuer Bemessung.
  137. 9
  138. 2. Der Maßregelausspruch hat hingegen - auch soweit die Anordnung
  139. der Sicherungsverwahrung lediglich vorbehalten wurde - Bestand.
  140. 10
  141. a) Das Landgericht hat zutreffend die formellen Voraussetzungen des
  142. § 66 Abs. 2 und des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB als erfüllt angesehen. Es hat aber
  143. nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen vermocht, sondern es nur für
  144. wahrscheinlich gehalten, dass die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1
  145. Nr. 4 StGB vorliegen, und deshalb die Sicherungsverwahrung lediglich vorbehalten (§ 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB). Dies begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
  146. 11
  147. Das Landgericht ist mit rechtsfehlerfreier Begründung von der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen abgewichen, der das Vorliegen einer hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten für die Allgemeinheit bejaht hatte. An einer solchen Abweichung ist der Tatrichter nicht
  148. gehindert; er muss sich dann aber bei seiner Beurteilung konkret mit den
  149. Ausführungen des Sachverständigen auseinander setzen und seine Auffassung
  150. tragfähig sowie nachvollziehbar begründen (vgl. BGH, Beschluss vom
  151. 16. September 2008 - 3 StR 302/08, StraFo 2009, 71).
  152. 12
  153. Diesen Anforderungen wird das angegriffene Urteil gerecht. Die
  154. Strafkammer hat - entgegen den Einwänden der Revision - nicht etwa ein
  155. gegenüber dem Sachverständigen besseres Fachwissen behauptet. Vielmehr
  156. ist sie den fachlichen Ausführungen des Sachverständigen gefolgt, gestützt auf
  157. -8-
  158. die von ihr in der Hauptverhandlung festgestellten Anknüpfungstatsachen aber
  159. zu einer abweichenden Einschätzung der Gefährlichkeit des Angeklagten
  160. gelangt. Der Sachverständige hatte seine Gefährlichkeitsbeurteilung unter
  161. anderem auf das fehlende Unrechtsbewusstsein des Angeklagten, die Verharmlosung seiner Taten und seine mangelnde Opferempathie gestützt. Das
  162. Landgericht konnte sich demgegenüber im Ergebnis nicht die Überzeugung
  163. verschaffen, dass der Angeklagte kein Bedauern und kein Schuldbewusstsein
  164. zeige. Vielmehr hat es in der Hauptverhandlung Reue und Mitgefühl für den
  165. Geschädigten sowie eine beginnende Reflexion seines strafbaren Verhaltens
  166. und Veränderungsbereitschaft feststellen können. Auf dieser Grundlage
  167. vermochte es sich im Ergebnis keine Überzeugung von einer hangbedingten
  168. Gefährlichkeit des Angeklagten zu verschaffen. Somit hat das Landgericht
  169. seine Prognose, dass der Angeklagte zwar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, aber nicht hinreichend sicher künftig erhebliche Straftaten begehen
  170. werde, auf tatsächlicher Ebene auf andere Anknüpfungstatsachen gestützt als
  171. die, mit denen der Sachverständige das Bestehen einer Gefährlichkeit
  172. begründet hat. Die Feststellung der Tatsachen, die der Gefährlichkeitsprognose
  173. zugrunde zu legen sind, obliegt indes dem Tatgericht im Rahmen seiner freien
  174. Beweiswürdigung. Auf dieser als Ergebnis der Hauptverhandlung gefundenen
  175. Tatsachenbasis hat das Landgericht nach Maßgabe der gutachterlichen
  176. Vorgaben des Sachverständigen, im Ergebnis aber abweichend die Gefährlichkeit des Angeklagten beurteilt. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden.
  177. 13
  178. b) Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung weist auch keinen Rechtsfehler zuungunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) auf. Das Landgericht hat die
  179. Ausübung des ihr nach § 66a Abs. 1 StGB zustehenden Ermessens zwar nicht
  180. ausdrücklich begründet. Dies führt indes vorliegend nicht zur Aufhebung des
  181. Maßregelausspruchs.
  182. -9-
  183. 14
  184. § 66a Abs. 1 StGB stellt auch bei Vorliegen aller Voraussetzungen die
  185. Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung in das Ermessen des
  186. Gerichts. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll dieses die Möglichkeit
  187. haben, sich ungeachtet der festgestellten oder wahrscheinlichen Gefährlichkeit
  188. des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die
  189. Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt (vgl. zu § 66 Abs. 2 und 3 StGB:
  190. BGH, Urteile vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172; vom
  191. 19. Februar 2013 - 1 StR 275/12, juris Rn. 34). Dass sich das Landgericht
  192. seines Ermessens bewusst war und welche Gründe für seine Ermessensausübung leitend waren (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 4. Oktober 2012 - 3 StR
  193. 207/12, juris Rn. 3; vom 21. Juli 2015 - 3 StR 170/15, juris Rn. 2, jew. mwN), ist
  194. dem Gesamtzusammenhang des Urteils vorliegend hinreichend zu entnehmen.
  195. Das Landgericht hat sich in den Urteilsgründen eingehend mit den Einwirkungsmöglichkeiten des Strafvollzugs auf den Angeklagten und seinen Therapiechancen auseinandergesetzt. Damit hat es die Umstände berücksichtigt, die
  196. regelmäßig Eingang in die Ermessensabwägung finden (vgl. etwa BGH, Urteil
  197. vom 8. Juli 2005 - 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 198; vom 11. Juli 2013 - 3 StR
  198. - 10 -
  199. 148/13, NStZ 2013, 707). Auch die Frage der Verhältnismäßigkeit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung hat es erörtert. Nach alledem ist nicht anzuzweifeln, dass das Landgericht eine fehlerfreie Ausübung seines Ermessens
  200. vorgenommen hat.
  201. Becker
  202. Schäfer
  203. Tiemann
  204. Spaniol
  205. Hoch