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26 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. Urteil
  4. 3 StR 120/03
  5. vom
  6. 11. Dezember 2003
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen Körperverletzung mit Todesfolge u. a.
  10. -2-
  11. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung
  12. vom 16. Oktober 2003 in der Sitzung am 11. Dezember 2003, an denen teilgenommen haben:
  13. Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
  14. Prof. Dr. Tolksdorf,
  15. die Richter am Bundesgerichtshof
  16. Dr. Miebach,
  17. Winkler,
  18. Becker,
  19. Hubert
  20. als beisitzende Richter,
  21. Leitender Oberstaatsanwalt
  22. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  23. Rechtsanwalt
  24. - in der Verhandlung vom 16. Oktober 2003 als Verteidiger,
  25. Justizamtsinspektorin
  26. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  27. für Recht erkannt:
  28. -3-
  29. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
  30. Kiel vom 6. Januar 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.
  31. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
  32. über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
  33. des Landgerichts zurückverwiesen.
  34. Von Rechts wegen
  35. Gründe:
  36. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Verabreichen von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen
  37. Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
  38. I. Nach den Feststellungen hatte der Angeklagte den Geschädigten
  39. M.
  40. im Jahre 1997 kennengelernt.
  41. M.
  42. war alkoholabhängig und litt
  43. unter Krampfanfällen, zu deren Vermeidung er Medikamente einnahm. Sein
  44. körperlicher Zustand war schlecht. Seine Hände zitterten und die Funktion seiner Beine war gestört, so daß er ein behindertengerechtes dreirädriges Fahrrad
  45. benutzen mußte. Nachdem der Angeklagte erfahren hatte, daß
  46. M.
  47. ge-
  48. legentlich Heroin spritzte, konsumierte er zweimal mit ihm zusammen Heroin.
  49. Während der Angeklagte dabei das Rauschgift rauchte, injizierte sich
  50. M.
  51. das Heroin. Danach machte er auf den Angeklagten in beiden Fällen einen
  52. "weggetretenen" Eindruck, reagierte jedoch auf Ansprache. Am Abend des
  53. 23. August 2001 traf der Angeklagte den
  54. M.
  55. , der sich mit Zechkumpa-
  56. -4-
  57. nen vor einem Supermarkt aufhielt und eine Dose Bier in der Hand hatte.
  58. M.
  59. hatte zu diesem Zeitpunkt bereits erhebliche Mengen Bier getrunken,
  60. zeigte wegen seiner Alkoholgewöhnung jedoch keine Ausfallerscheinungen.
  61. Der Angeklagte und
  62. M.
  63. kamen überein, gemeinsam 1 g Heroin zu kon-
  64. sumieren. Absprachegemäß besorgte der Angeklagte das Rauschgift und begab sich damit zur Wohnung des
  65. M.
  66. . Nachdem beide dort zunächst
  67. weiteren Alkohol getrunken hatten, holte der Angeklagte aus seiner nahegelegenen Wohnung ein Spritzenbesteck. Er kochte die Hälfte des erworbenen Heroins mit Ascorbinsäure und etwas Wasser auf und injizierte sich das Rauschgift. Dessen Wirkung empfand er gemessen an seiner langjährigen Erfahrung
  68. als normal; es stellte sich bei ihm ein leichter Rauschzustand ein.
  69. Nachdem die Spritze in heißem Wasser desinfiziert worden war, kochte
  70. der Angeklagte die andere Hälfte des Heroins auf.
  71. M.
  72. band sich den
  73. Arm ab, konnte sich wegen des Zitterns seiner Hände die Spritze aber nicht
  74. mehr selbst setzen. Er bat daher den Angeklagten, ihm das Heroin zu injizieren
  75. und hielt ihm hierzu seine linke Armbeuge entgegen. Der Angeklagte kam der
  76. Bitte nach. Alsbald nach der Injektion verstarb
  77. M.
  78. an einer Heroininto-
  79. xikation, die sein Atemzentrum lähmte. Der Todeseintritt wurde durch die erhebliche Alkoholisierung des
  80. M.
  81. (Blutalkoholkonzentration von
  82. 2,33 o/oo) "begünstigt".
  83. Das Landgericht ist der Ansicht, der Angeklagte habe sich der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 Abs. 1 StGB) schuldig gemacht, denn in dem
  84. Tod des Geschädigten habe sich das mit der Körperverletzung in Form der Heroininjektion typischerweise verbundene Risiko verwirklicht, was der Angeklagte, der zwar nicht leichtfertig im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG gehandelt
  85. habe, jedenfalls im Sinne einfacher Fahrlässigkeit habe vorhersehen und vermeiden können. Die Körperverletzung sei auch nicht gerechtfertigt, denn sie
  86. -5-
  87. habe trotz der Einwilligung des Geschädigten gegen die guten Sitten verstoßen
  88. (§ 228 StGB). Der Irrtum des Angeklagten über die "Wirksamkeit der Einwilligung" sei vermeidbar gewesen (§ 17 StGB).
  89. II. Der Schuldspruch hält revisionsgerichtlicher Prüfung aufgrund der erhobenen Sachrüge nicht stand.
  90. 1. a) Rechtlich nicht zu beanstanden ist allerdings, daß sich das Landgericht, nachdem es eine leichtfertige Todesverursachung im Sinne des § 30
  91. Abs. 1 Nr. 3 BtMG nicht festzustellen vermochte, nicht von vornherein daran
  92. gehindert gesehen hat, den Angeklagten der Körperverletzung mit Todesfolge
  93. nach § 227 Abs. 1 StGB schuldig zu sprechen. Denn § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG in
  94. der Tatvariante des Verabreichens von Betäubungsmitteln mit Todesfolge steht
  95. zu § 227 Abs. 1 StGB nicht im Verhältnis privilegierender Spezialität (vgl. hierzu
  96. allg. Stree in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. vor §§ 52 ff. Rdn. 136), die zur
  97. Folge hätte, daß § 227 Abs. 1 StGB nicht anwendbar ist, wenn eine Verurteilung nach § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG mangels Leichtfertigkeit der Todesverursachung nicht in Betracht kommt.
  98. Privilegierende Spezialität als besondere Form der Gesetzeskonkurrenz
  99. liegt vor, wenn ein Strafgesetz alle Merkmale einer anderen Strafvorschrift aufweist und sich nur dadurch von dieser unterscheidet, daß es wenigstens noch
  100. ein weiteres Merkmal enthält, das den in Frage kommenden Sachverhalt unter
  101. einem genaueren (spezielleren) Gesichtspunkt erfaßt (BGH NJW 1999, 1561;
  102. Rissing-van Saan in LK 11. Aufl. vor §§ 52 ff. Rdn. 73 m. w. N.) und der Täter
  103. durch die Spezialvorschrift privilegiert werden soll. In diesem Fall ist ein Rückgriff auf das allgemeinere Delikt ausgeschlossen, da hierdurch die Privilegierung beseitigt würde (vgl. BGHSt 30, 235, 236). Ob die speziellere Vorschrift
  104. den Täter begünstigen soll, ist anhand des Zwecks dieser Vorschrift, des inne-
  105. -6-
  106. ren Zusammenhangs der miteinander konkurrierenden Bestimmungen und des
  107. Willens des Gesetzgebers zu prüfen (BGHSt 19, 188, 190; 24, 262, 266; Rissing-van Saan aaO).
  108. Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen privilegierender
  109. Spezialität hier nicht vor. Zwar könnte es auf ein derartiges Konkurrenzverhältnis der beiden Vorschriften hindeuten, daß § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG die Todesfolge, die als notwendiges Durchgangsstadium zum Todeseintritt objektiv stets
  110. auch eine Körperverletzung beinhaltet (vgl. BGHSt 44, 196, 199; BGH NStZ
  111. 1995, 79, 80; 1997, 233, 234), nur bei leichtfertiger Herbeiführung des Todes
  112. zur Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes genügen läßt und hierfür lediglich Freiheitsstrafe von nicht unter zwei Jahren androht, während § 227
  113. Abs. 1 StGB Freiheitsstrafe von nicht unter drei Jahren vorsieht, obwohl hier für
  114. die Verursachung des Todes jede Form der Fahrlässigkeit zur Tatbestandserfüllung ausreicht (§ 18 StGB). Indessen steht der Annahme privilegierender
  115. Spezialität entgegen, daß die Verabreichung von Betäubungsmitteln mit Todesfolge nicht in jedem Fall alle tatbestandlichen Voraussetzungen der Körperverletzung mit Todesfolge erfüllt; denn das vorsätzliche Verabreichen von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG) beinhaltet nicht notwendig eine vorsätzliche Körperverletzung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB.
  116. Betäubungsmittel können bei ihrem Konsumenten Wirkungen hervorrufen, die sich als Gesundheitsschädigung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB darstellen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sie zu Rauschzuständen, körperlichem Unwohlsein - insbesondere nach Abklingen der Rauschwirkungen - oder
  117. zur Suchtbildung bzw. zu Entzugserscheinungen führen (BGH NJW 1970, 519;
  118. vgl. auch Lilie in LK 11. Aufl. § 223 Rdn. 14 m. w. N.). Wer Betäubungsmittel
  119. verabreicht, hierdurch derartige Wirkungen bzw. Erscheinungen bei dem Betroffenen erzielt und dies zumindest im Sinne bedingten Vorsatzes billigend in
  120. -7-
  121. Kauf nimmt, verwirklicht daher den objektiven und subjektiven Tatbestand der
  122. vorsätzlichen Körperverletzung. Jedoch muß nicht jeder Betäubungsmittelkonsum bzw. jede Betäubungsmittelgabe zu einer Gesundheitsschädigung im dargestellten Sinne führen. Insbesondere beim Konsum leichter Drogen in geringer
  123. Dosis müssen die normalen Körperfunktionen nicht derart nachteilig beeinflußt
  124. werden, daß von einem - sei es auch nur vorübergehenden - pathologischen
  125. Zustand (vgl. BGHSt 43, 346, 354 m. w. N.) gesprochen werden kann. Wer bei
  126. der Verabreichung von Betäubungsmitteln nur derartige Wirkungen hervorrufen
  127. will oder billigend in Kauf nimmt, macht sich daher nicht der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig. Dementsprechend begeht er auch keine vorsätzliche
  128. Körperverletzung mit Todesfolge, wenn aufgrund besonderer Umstände - etwa
  129. allergischer Reaktionen, gesundheitlicher Vorschädigungen des Betroffenen
  130. oder sonstiger konstellativer Faktoren - die Wirkungen des Betäubungsmittels
  131. unvorhergesehen zum Tod des Opfers führen. Konnte und mußte er diese
  132. mögliche Folge voraussehen, so kommt, wenn er insoweit leichtfertig handelte,
  133. eine Verurteilung nach § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG in Betracht. Trifft ihn lediglich
  134. der Vorwurf einfacher Fahrlässigkeit, ist nur ein Schuldspruch nach § 222 StGB
  135. möglich. Kann ihm die Todesfolge überhaupt nicht vorgeworfen werden, ist er
  136. allein nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG zu bestrafen. Eine Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge scheidet dagegen aus.
  137. Beinhaltet danach aber nicht jede Verabreichung von Betäubungsmitteln
  138. (mit Todesfolge) notwendig eine vorsätzliche Körperverletzung (mit Todesfolge), so ist trotz des im Vergleich zu § 227 Abs. 1 StGB für die Todesfolge in
  139. § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG geforderten erhöhten Grades der Fahrlässigkeit bei
  140. gleichzeitig niedrigerer Strafrahmenuntergrenze das systematische und konkurrenzrechtliche Verhältnis der beiden Vorschriften anders als im Sinne privilegierender Spezialität zu deuten: Die höhere Strafrahmenuntergrenze des § 227
  141. Abs. 1 StGB beruht darauf, daß diese Vorschrift über die tatbestandlichen Vor-
  142. -8-
  143. aussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG hinaus stets das Vorliegen einer vorsätzlichen Körperverletzung voraussetzt.
  144. b) Der Angeklagte hat sich auch nicht straflos an einer eigenverantwortlichen Selbstverletzung bzw. Selbsttötung
  145. M.
  146. s beteiligt. Seine Verurtei-
  147. lung wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts ist daher auch nicht
  148. unter diesem Gesichtspunkt ausgeschlossen.
  149. Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unterfällt die eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung
  150. grundsätzlich nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer bewußt eingegangene
  151. Risiko realisiert. Wer eine solche Gefährdung veranlaßt, ermöglicht oder fördert,
  152. kann daher nicht wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts verurteilt
  153. werden; denn er nimmt an einem Geschehen teil, welches - soweit es um die
  154. Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht - kein tatbestandsmäßiger und damit kein strafbarer Vorgang ist (grundlegend BGHSt 32, 262 ff.; siehe
  155. auch BGHSt 46, 279, 288 f.; BGH NStZ 2001, 205; BGH NJW 2003, 2326,
  156. 2327 jew. m. w. N.). Maßgebliches Abgrenzungskriterium zwischen strafloser
  157. Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung bzw. -verletzung
  158. und einer - grundsätzlich tatbestandsmäßigen - Fremdgefährdung oder -verletzung eines anderen ist damit die Trennungslinie zwischen Täterschaft und
  159. Teilnahme. Liegt die Tatherrschaft über die Gefährdungshandlung nicht allein
  160. bei dem Gefährdeten, sondern zumindest auch bei dem sich hieran Beteiligenden, begeht dieser eine eigene Tat und kann nicht aus Gründen der Akzessorietät wegen fehlender Haupttat des Geschädigten straffrei sein (s. insg., auch
  161. zu gegenteiligen Ansichten in Rechtsprechung und Schrifttum BGH NJW 2003,
  162. 2326, 2327). In diesen Fällen stellt sich vielmehr die Frage, ob der täterschaftlich Handelnde aufgrund der Einwilligung des Geschädigten gerechtfertigt ist.
  163. -9-
  164. Im Hinblick darauf, daß der Angeklagte das Injizieren des Heroins bei
  165. M.
  166. eigenhändig vornahm, und insbesondere, weil dieser sich die Sprit-
  167. ze nicht selbst setzen konnte, hat das Landgericht rechtsfehlerfrei täterschaftliches Handeln des Angeklagten angenommen. Die Tatsache, daß die Injektion
  168. auch vom Willen und der Mitwirkung
  169. M.
  170. s abhing, ändert hieran nichts.
  171. c) Es ist danach nicht zu beanstanden, daß das Landgericht die objektiven und subjektiven tatbestandlichen Voraussetzungen des § 227 Abs. 1 StGB
  172. als erfüllt angesehen hat: Der Angeklagte wollte bei
  173. M.
  174. durch die He-
  175. roininjektion einen Rauschzustand und damit eine Gesundheitsbeschädigung
  176. im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB hervorrufen. Die Wirkungen des Heroins führten indessen zum Tod des Opfers. Damit verwirklichte sich eine spezifische
  177. Gefahr, die mit der bewußt vorgenommenen Körperverletzung verbunden war.
  178. Daß diese Folge - angesichts der generellen Gefährlichkeit des Heroinkonsums, der deutlichen Alkoholisierung
  179. M.
  180. s und dessen gesundheitlicher
  181. Vorschädigung - für den Angeklagten vorhersehbar und vermeidbar war, hat
  182. das Landgericht, entgegen der Ansicht der Revision, ebenfalls rechtsfehlerfrei
  183. dargelegt.
  184. 2. Dagegen halten die Ausführungen des Landgerichts zu einer möglichen Rechtfertigung der Körperverletzungstat durch die Einwilligung
  185. M.
  186. s sowie zu der damit zusammenhängenden Irrtumsproblematik rechtlicher
  187. Prüfung nicht stand. Das Landgericht ist der Ansicht, die Körperverletzung sei
  188. rechtswidrig, weil sie trotz der Einwilligung
  189. M.
  190. s in die Heroininjektion
  191. gegen die guten Sitten verstoßen habe (§ 228 StGB). Dies trifft zwar im Ergebnis zu. Jedoch hat das Landgericht die Grundlagen dieses Sittenwidrigkeitsurteils nicht zutreffend erkannt. Damit hat es sich den Blick auf eine rechtsfehlerfreie Beurteilung der Irrtumsfragen verstellt.
  192. - 10 -
  193. a) Gemäß § 228 StGB ist die mit Einwilligung der verletzten Person vorgenommene Körperverletzung rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung
  194. gegen die guten Sitten verstößt. Das Strafgesetzbuch knüpft somit die Rechtsfolgen der Einwilligung an außerrechtliche, ethisch-moralische Kategorien. Die
  195. Prüfung der Rechtfertigung der Körperverletzungstat durch die Einwilligung des
  196. Geschädigten ist daher in diesem Punkt weniger ein Akt normativ-wertender
  197. Gesetzesauslegung als vielmehr ein solcher empirischer Feststellung bestehender Moralüberzeugungen. Der Begriff der guten Sitten ist für sich gesehen
  198. allerdings konturenlos. Wird er als strafbegründendes Element in das Strafrecht
  199. integriert, gerät er in Konflikt mit dem grundgesetzlichen Bestimmtheitsgebot
  200. (Art. 103 Abs. 2 GG). Es sind daher verfassungsrechtliche Bedenken gegen
  201. § 228 StGB erhoben worden (vgl. die Nachw. bei Stree in Schönke/Schröder
  202. aaO § 228 Rdn. 6). Diese teilt der Senat nicht. Jedoch muß der Begriff der guten Sitten auf seinen Kern beschränkt werden. Nur dann ist dem Gebot der
  203. Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens genügt. Dies bedeutet, daß ein Verstoß
  204. der Körperverletzungstat gegen die guten Sitten nur angenommen werden
  205. kann, wenn sie nach allgemein gültigen moralischen Maßstäben, die vernünftigerweise nicht in Frage gestellt werden können, mit dem eindeutigen Makel der
  206. Sittenwidrigkeit behaftet ist (Stree in Schönke/Schröder aaO). In diesem Sinne
  207. ist eine Körperverletzung trotz Einwilligung des Geschädigten nach der allgemein gebrauchten Umschreibung dann sittenwidrig, wenn sie gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt (vgl. BGHSt 4, 24, 32;
  208. 4, 88, 91; Hirsch in LK 11. Aufl. § 228 Rdn. 6 m. w. N.). Ein Verstoß gegen die
  209. Wertvorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder des mit der Tat
  210. befaßten Strafgerichts genügt daher nicht. Läßt sich nach diesen Maßstäben
  211. die Sittenwidrigkeit nicht sicher feststellen, scheidet eine Verurteilung wegen
  212. eines Körperverletzungsdelikts aus (Stree aaO und Hirsch aaO Rdn. 2 jew.
  213. m. w. N.).
  214. - 11 -
  215. Die allgemein gültigen, vernünftigerweise nicht anzweifelbaren sittlichen
  216. Wertmaßstäbe sind allgemeinkundig. Sie stehen daher der Kenntnisnahme
  217. durch das Revisionsgericht offen, ohne daß es ihrer Darlegung im tatrichterlichen Urteil bedarf (vgl. BGHSt 6, 292, 296; BayObLGSt 1987, 171, 173; OLG
  218. Düsseldorf NJW 1993, 2452, 2453; Kuckein in KK 5. Aufl. § 337 Rdn. 3; MeyerGoßner/Cierniak StV 2000, 696, 699).
  219. Nach dem Wortlaut des § 228 StGB ist entscheidend, ob die Tat gegen
  220. die guten Sitten verstößt. Unerheblich ist daher, ob dieser Makel - auch oder
  221. nur - der Einwilligung anhaftet (BGHSt 4, 88, 91; BGH NStZ 2000, 87, 88).
  222. Demgemäß kann die Prüfung der Sittenwidrigkeit der Tat nicht allein daran anknüpfen, ob mit der Tat verwerfliche Zwecke verfolgt werden, etwa weil sie der
  223. Vorbereitung, Vornahme, Verdeckung oder Vortäuschung einer Straftat (so
  224. aber Horn/Wolters in SK-StGB 57. Lfg. - August 2003 - § 228 Rdn. 9) oder anderen unlauteren Zielen dienen. Vielmehr ist immer in Betracht zu nehmen, ob
  225. die Körperverletzung wegen des besonderen Gewichts des jeweiligen tatbestandlichen Rechtsgutsangriffs, namentlich des Umfangs der vom Opfer hingenommenen körperlichen Mißhandlung oder Gesundheitsschädigung und des
  226. Grades der damit verbundenen weiteren Leibes- oder Lebensgefahr, als unvereinbar mit den guten Sitten erscheint (vgl. Hirsch aaO Rdn. 9). Ob mit der Tat
  227. verfolgte weitergehende - unlautere - Zwecke ebenfalls für das Sittenwidrigkeitsurteil relevant sind (vgl. dazu die Nachw. bei Hirsch aaO Rdn. 8 sowie
  228. Stree aaO Rdn. 7; s. aber auch BGHSt 38, 83, 87, wo die Sittenwidrigkeit der
  229. Tat wegen der Geringfügigkeit der Verletzungen trotz des mit der Körperverletzung verfolgten verwerflichen Zwecks - vorgetäuschte Geiselnahme - verneint
  230. wurde), kann der Senat in vorliegendem Fall offen lassen. Denn weder der Geschädigte
  231. M.
  232. noch der Angeklagte verfolgten mit der Heroininjektion
  233. einen weitergehenden Zweck, als bei
  234. M.
  235. einen Rauschzustand herbei-
  236. zuführen. Dieser ist aber unmittelbares Symptom der durch das Heroin bewirk-
  237. - 12 -
  238. ten Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB. Eine über die
  239. Tat hinausreichende Zwecksetzung ist daher nicht erkennbar. Der Makel der
  240. Sittenwidrigkeit kann daher der Tat allein wegen des Maßes der Rechtsgutsverletzung und der damit verbundenen weitergehenden Gefahren für dessen
  241. Leib und Leben zukommen.
  242. b) Danach gilt hier folgendes:
  243. aa) Entgegen der Ansicht des Landgerichts war die einverständliche Heroininjektion nicht schon deswegen sitten- und damit gemäß § 228 StGB
  244. rechtswidrig, weil sich der Angeklagte durch die Tat jedenfalls nach § 29 Abs. 1
  245. Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG strafbar gemacht hat. § 228 StGB beschränkt unter Heranziehung ethisch-moralischer Maßstäbe die Freiheit des einzelnen,
  246. über sein Individualrechtsgut der körperlichen Unversehrtheit nach freiem Belieben zu disponieren. Hiervon zu trennen ist der Schutz anderer, überindividueller Rechtsgüter, über die der einzelne nicht verfügen kann. Hält es der Gesetzgeber für erforderlich, eine Handlung, die die Gefahr einer Körperverletzung
  247. in sich birgt, zum Schutz derartiger Universalrechtsgüter - etwa der Sicherheit
  248. des Straßenverkehrs in § 315 c StGB oder der Volksgesundheit in § 29 BtMG in gesonderten Vorschriften unter Strafe zu stellen, ist die Einwilligung des
  249. durch eine derartige Handlung tatsächlich in seiner körperlichen Unversehrtheit
  250. oder Gesundheit Geschädigten für die Strafbarkeit des Täters nach diesen Vorschriften ohne Belang (vgl. BGHSt 6, 232, 234; 23, 261, 264). Die Einwilligung
  251. M.
  252. s hätte somit einer Verurteilung des Angeklagten nach § 30 Abs. 1
  253. Nr. 3 BtMG nicht entgegengestanden (vgl. BGHSt 37, 179, 181 ff.) und kann
  254. auch den Schuldspruch nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG nicht
  255. hindern. Andererseits läßt sich aus dem strafrechtlichen Schutz derartiger Universalrechtsgüter, auch wenn sie mittelbar den Schutz von Individualrechtsgütern mitbewirken (s. BGHSt 23, 261, 264; 37, 179, 182), nichts für die Beant-
  256. - 13 -
  257. wortung der Frage ableiten, ob im konkreten Einzelfall die Einwilligung des Geschädigten in die Verletzung des Individualrechtsguts seiner körperlichen Unversehrtheit mit allgemein anerkannten sittlichen Wertvorstellungen unvereinbar
  258. ist (vgl. BGHSt 6, 232, 234; OLG Hamm MDR 1971, 67; BayObLGSt 1977, 105,
  259. 106 f.; Endriß/Malek, Betäubungsmittelstrafrecht 2. Aufl. Rdn. 370).
  260. bb) Der Senat vermag nicht zu erkennen, daß der Konsum illegaler Drogen nach heute allgemein anerkannten, nicht anzweifelbaren Wertvorstellungen
  261. generell noch als unvereinbar mit den guten Sitten angesehen wird. Gleiches
  262. gilt für eine Körperverletzung, die durch das einverständliche Verabreichen eines illegalen Betäubungsmittels verursacht wird. Entsprechend erachten es
  263. auch verschiedene Autoren im strafrechtlichen Schrifttum für möglich, daß eine
  264. durch das Verabreichen von Betäubungsmitteln bewirkte Körperverletzung
  265. durch die Einwilligung des Betroffenen gerechtfertigt sein kann (s. etwa Hirsch
  266. aaO Rdn. 50; Weber, BtMG 2. Aufl. § 29 Rdn. 1016; Endriß/Malek aaO). Unter
  267. welchen Voraussetzungen oder Umständen eine Gesundheitsschädigung durch
  268. einvernehmliches Verabreichen von Betäubungsmitteln nach allgemein anerkannten moralischen Maßstäben sittlich verwerflich ist, entzieht sich allerdings
  269. genereller Betrachtung. Allgemein reicht hierfür allein das Verabreichen auch
  270. harter Drogen nicht aus. Maßgeblich ist vielmehr, ob und in welchem Grad
  271. durch die konkrete Tat Gesundheits- bzw. Suchtgefahren begründet oder verstärkt werden. Nach allgemeinem sittlichen Empfinden ist die Grenze moralischer Verwerflichkeit dann überschritten, wenn bei vorausschauender objektiver
  272. Betrachtung aller maßgeblichen Umstände der Betroffene durch das Verabreichen des Betäubungsmittels in konkrete Todesgefahr gebracht wird. So lag es
  273. aber hier.
  274. M.
  275. wurde wegen seiner gesundheitlichen Vorschädigung und
  276. der bereits bestehenden Alkoholintoxikation durch die Heroininjektion unmittelbar in Lebensgefahr gebracht. Tatsächlich hat sie auch seinen Tod herbeigeführt. Trotz der Einwilligung
  277. M.
  278. s in die Injektion war die vom Ange-
  279. - 14 -
  280. klagten hierdurch begangene Körperverletzung daher gemäß § 228 StGB
  281. rechtswidrig. Insoweit ist dem Landgericht im Ergebnis zu folgen.
  282. cc) Jedoch erweisen sich auf dieser Grundlage die Darlegungen des
  283. Landgerichts zu dem Irrtum des Angeklagten über "die Wirksamkeit der Einwilligung" als rechtlich nicht tragfähig. Die Sitten- und damit Rechtswidrigkeit der
  284. Körperverletzung trotz der Einwilligung des Opfers folgt hier aus der konkreten
  285. Lebensgefahr, die durch die Heroininjektion für
  286. M.
  287. entstand. Erkannte
  288. der Angeklagte diese Gefahr nicht, etwa weil er die Schwere der gesundheitlichen Vorschädigung und das Maß der - den Todeseintritt "begünstigenden" Alkoholisierung unzutreffend einschätzte und davon ausging, das Heroin könne
  289. - wie zuvor bei ihm selbst - lediglich zu einem leichten Rauschzustand führen,
  290. irrte er nicht über die sittliche und damit rechtliche Bewertung der Tat nach
  291. § 228 StGB, sondern über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes. Ein derartiger Erlaubnistatbestandsirrtum ist nicht als Verbotsirrtum (§ 17 StGB), sondern entsprechend den Regeln des Tatbestandsirrtums
  292. nach § 16 Abs. 1 StGB zu behandeln (BGHSt 31, 264, 286 f. m. w. N.; vgl. auch
  293. Stree aaO § 228 Rdn. 12). Das Vorliegen eines solchen Irrtums hat das Landgericht nicht geprüft. Positiv festgestellt hat es lediglich, daß der Angeklagte die
  294. Gefährlichkeit seines Tuns hätte erkennen können. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge kann daher keinen Bestand
  295. haben. Dies führt zur Aufhebung des gesamten Urteils, auch wenn der Schuldspruch wegen tateinheitlichen Verabreichens von Betäubungsmitteln (§ 29
  296. Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG) rechtlich nicht zu beanstanden ist.
  297. III. 1. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird vorab
  298. zu prüfen haben, ob
  299. M.
  300. angesichts seines körperlichen und geistigen
  301. Zustands überhaupt noch eine wirksame Einwilligung abgeben konnte oder ihm
  302. nicht vielmehr bereits die hierfür erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit
  303. - 15 -
  304. fehlte (vgl. BGHSt 4, 88, 90; BGH NStZ 2000, 87, 88; Lenckner in Schönke/
  305. Schröder aaO vor §§ 32 ff. Rdn. 39 f. m. w. N.). War letzteres der Fall, wird sich
  306. aber auch insoweit die Frage stellen, ob der Angeklagte dies erkannte oder sich
  307. insoweit in einem Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung befand.
  308. 2. Eine Rechtfertigung der in Betracht kommenden fahrlässigen Tötung
  309. durch die Einwilligung
  310. M.
  311. s in die sein Leben gefährdende Handlung
  312. des Angeklagten scheidet schon wegen der Sittenwidrigkeit der Körperverletzungstat aus (Lenckner aaO Rdn. 104 a. E.). Es kann daher dahinstehen, ob
  313. der Ansicht des 4. Strafsenats zu folgen wäre, bei tatsächlich eingetretenem
  314. Tod könne die Einwilligung des Opfers in die Lebensgefährdung in keinem Fall
  315. rechtfertigende Wirkung hinsichtlich der Todesfolge entfalten, obwohl dieselbe
  316. Handlung, soweit sie lediglich die Körperverletzung eines anderen Geschädigten bewirkt, durch dessen Einwilligung gerechtfertigt sein kann (BGHSt 4, 88,
  317. 93; BGH VRS 17, 277, 279; BGH, Beschl. vom 20. Juni 2000 - 4 StR 162/00,
  318. insoweit in NStZ 2000, 583 nicht abgedruckt; vgl. demgegenüber die beachtlichen Argumente bei Lenckner aaO Rdn. 104 m. w. N.).
  319. Tolksdorf
  320. Miebach
  321. Winkler
  322. Becker
  323. Hubert
  324. Nachschlagewerk: ja
  325. BGHSt:
  326. ja
  327. Veröffentlichung:
  328. StGB §§ 227, 228
  329. ja
  330. - 16 -
  331. BtMG § 30 Abs. 1 Nr. 3
  332. 1. § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG in der Tatvariante des Verabreichens von Betäubungsmitteln mit Todesfolge steht zu § 227 Abs. 1 StGB nicht im Verhältnis
  333. privilegierender Spezialität.
  334. 2. Zur Rechtswidrigkeit einer Körperverletzung, die durch das einverständliche
  335. Verabreichen illegaler Betäubungsmittel bewirkt wird.
  336. BGH, Urt. vom 11. Dezember 2003 - 3 StR 120/03 - LG Kiel