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8.5 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 2 StR 404/10
  5. vom
  6. 20. Oktober 2010
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen schwerer Vergewaltigung u. a.
  10. -2-
  11. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 20. Oktober
  12. 2010, an der teilgenommen haben:
  13. Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
  14. Prof. Dr. Rissing-van Saan
  15. und die Richter am Bundesgerichtshof
  16. Prof. Dr. Fischer,
  17. Prof. Dr. Schmitt,
  18. Prof. Dr. Krehl,
  19. Dr. Eschelbach,
  20. Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
  21. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  22. Rechtsanwältin
  23. für den Angeklagten
  24. als Verteidigerin,
  25. Justizangestellte
  26. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  27. für Recht erkannt:
  28. -3-
  29. 1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
  30. Landgerichts Darmstadt vom 11. Januar 2010, soweit es den
  31. Angeklagten M. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben,
  32. a) soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist,
  33. b) im Strafausspruch, insoweit zugunsten des Angeklagten.
  34. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
  35. Von Rechts wegen
  36. Gründe:
  37. 1
  38. Das Landgericht hat den Angeklagten M. wegen schwerer Vergewaltigung in zwei Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit Körperverletzung,
  39. wegen Vergewaltigung in acht Fällen, wegen sexueller Nötigung sowie wegen
  40. Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Es hat
  41. dabei eine Geldstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Bensheim vom
  42. 17. November 2008 sowie unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei
  43. Jahren aus einem Urteil des Amtsgerichts Offenbach vom 12. Januar 2009 die
  44. darin gebildeten Einzelstrafen einbezogen. Außerdem hat es den Angeklagten
  45. -4-
  46. wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer weiteren Freiheitsstrafe von acht
  47. Monaten verurteilt. Die Revision der Staatsanwaltschaft richtet sich mit der
  48. Sachrüge allein dagegen, dass die Strafkammer die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht geprüft habe. Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg. Wegen der hier zu bejahenden inneren
  49. Abhängigkeit der Sicherungsverwahrung von der Strafzumessung ist es jedoch
  50. nicht auf die Entscheidung der Maßregelfrage beschränkbar, sondern erfasst
  51. zugleich zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) den Strafausspruch.
  52. 2
  53. 1. Das Landgericht hat folgendes festgestellt:
  54. 3
  55. Der Angeklagte M. weist zahlreiche Vorstrafen auf - u. a. wegen Raubes und gefährlicher Körperverletzung - und befand sich zur Tatzeit aufgrund
  56. einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung unter laufender Bewährung. Er kannte die Geschädigte bereits seit Mitte der 80er Jahre flüchtig. Nach
  57. einem Kneipenbesuch in der Zeit zwischen Mitte und Ende April 2008 ließ sich
  58. die angeheiterte Geschädigte bei einem zufälligen Zusammentreffen mit dem
  59. Angeklagten M.
  60. auf der Straße dazu überreden, mit ihm und seinem Sohn,
  61. dem Mitangeklagten H.
  62. , in seiner Wohnung weiter zu trinken. Gegen Mitter-
  63. nacht befand sich die Geschädigte aufgrund des Konsums des Alkohols und
  64. möglicherweise auch aufgrund der unbemerkten Verabreichung eines Medikamentes oder Betäubungsmittels in einem so bewusstseinsgetrübten Zustand,
  65. dass ihr Erinnerungsvermögen aussetzte. Die Angeklagten M. und H.
  66. fass-
  67. ten den Entschluss, diesen Zustand dazu auszunutzen, sich die Geschädigte
  68. sexuell gefügig zu machen. Nachdem sie wieder zu Bewusstsein gekommen
  69. war, vermittelten sie ihr glaubhaft, dass sie mit beiden Geschlechtsverkehr gehabt habe und sie kompromittierende Fotos gemacht hätten. Der Angeklagte
  70. M. drohte der stark übergewichtigen, sich ihres Körpers schämenden Geschädigten, die Fotos an Personen in ihrem privaten und beruflichen Umfeld zu
  71. -5-
  72. versenden, wenn sie ihm und seinem Sohn nicht sexuell zur Verfügung stehen
  73. sollte. Die Geschädigte sah in der Folgezeit aus Scham und weil sie aufgrund
  74. ihres Erscheinungsbildes daran zweifelte, dass ihr die Polizei Glauben schenken würde, von einer Strafanzeige ab. In der Zeit von Mai bis September 2008
  75. zwang der Angeklagte M. die Geschädigte teilweise unter Ausnutzung einer
  76. schutzlosen Lage, teilweise mit Drohungen, aber auch durch die Anwendung
  77. von Gewalt in 11 Fällen zu sexuellen Handlungen, die sich regelmäßig über
  78. Stunden hinzogen. Dabei kam es zu Oral- und Geschlechtsverkehr sowie in
  79. einzelnen Fällen zu weiteren, das Opfer in ganz besonderem Maße erniedrigenden sexuellen Handlungen. In neun Fällen beteiligte sich der Mitangeklagte
  80. H.
  81. , in einem Fall der Mitangeklagte W. , der mit dem Angeklagten M. be-
  82. kannt war, an den sexuellen Übergriffen.
  83. 4
  84. Bei der Geschädigten entwickelte sich infolge des Geschehens eine
  85. posttraumatische Belastungsstörung, die stationärer Behandlung bedurfte. Weil
  86. sie der Belastung durch die laufende Hauptverhandlung nicht mehr gewachsen
  87. war, trank sie in Suizidabsicht Alkohol, was zu einer lebensbedrohlichen Blutalkoholkonzentration führte.
  88. 5
  89. Darüber hinaus hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte
  90. M. es am 18. November 2008 unterließ für den
  91. D.
  92. , der aufgrund des
  93. Konsums von Alkohol und Drogen die Besinnung verloren hatte, ärztliche Hilfe
  94. zu holen, obwohl er erkannt hatte, dass dieser sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befand.
  95. D.
  96. verstarb im Zeitraum zwischen 18. November
  97. 2008, 22.00 Uhr und dem Abend des 19. November 2008 an einer Alkohol- und
  98. Betäubungsmittel-Mischintoxikation.
  99. 6
  100. Die schriftlichen Urteilsgründe enthalten zur Möglichkeit der Anordnung
  101. der Sicherungsverwahrung keine Ausführungen.
  102. -6-
  103. 7
  104. 2. Das Urteil hat hinsichtlich der Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung keinen Bestand. Das Landgericht hat nicht erkennbar geprüft, ob gegen
  105. den Angeklagten die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 bzw. § 66 Abs. 3
  106. StGB angeordnet werden kann. Zwar bestand keine verfahrensrechtliche Pflicht
  107. zur Erörterung der maßgeblichen Umstände, da die Staatsanwaltschaft - insoweit unverständlicherweise - in der Verhandlung keinen entsprechenden Antrag
  108. gestellt hat (§ 267 Abs. 6 Satz 1 StPO). Das Schweigen des Urteils zur Sicherungsverwahrung kann jedoch einen sachlich-rechtlichen Mangel darstellen,
  109. wenn der Tatrichter die Sicherungsverwahrung nicht prüft, obwohl deren formelle Voraussetzungen gegeben sind und die Feststellungen die Annahme nahe
  110. legen, dass der Täter infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten für die
  111. Allgemeinheit gefährlich ist (vgl. BGH NJW 1999, 2606; 3723, 3724). Bei den
  112. Ermessensentscheidungen nach § 66 Abs. 2 oder § 66 Abs. 3 StGB müssen
  113. die Urteilsgründe zudem in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren
  114. Weise erkennen lassen, dass und aus welchen Gründen der Tatrichter von seiner Entscheidungsbefugnis in einer bestimmten Weise Gebrauch gemacht hat
  115. (vgl. BGH NJW 1999, 3723, 3724; BGHR StGB § 66 Abs. 2, Ermessensentscheidung 2, fehlende Erörterung).
  116. 8
  117. Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht. Nach den von der Jugendkammer getroffenen Feststellungen liegen die
  118. formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 und Abs. 3 StGB vor. Der Angeklagte M. wurde in dem angefochtenen Urteil wegen 11 Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB zu
  119. Einzelstrafen zwischen zwei und neun Jahren verurteilt. Die Einzelstrafen betrugen in zehn Fällen mehr als drei Jahre (§ 66 Abs. 3 Satz 2, 66 Abs. 2 StGB).
  120. Die Umstände des Falles legten auch die Prüfung der Frage nahe, ob der Angeklagte M. infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Dies ergibt sich aus dem jeweils
  121. -7-
  122. festgestellten Tatbild, den zahlreichen Vorstrafen des Angeklagten, vor allem
  123. wegen Gewaltdelikten, sowie dem Umstand, dass er sich zu den Tatzeiten unter laufender Bewährung wegen einer Straftat gemäß § 224 StGB befand. Das
  124. Landgericht hatte deshalb unbeschadet eines insoweit fehlenden Antrags der
  125. Staatsanwaltschaft sachlichen Anlass, sich mit der Frage der Anordnung der
  126. Sicherungsverwahrung zu befassen und seine dahin gehenden Überlegungen
  127. in den Urteilsgründen zu dokumentieren.
  128. 9
  129. 3. Der Rechtsfehler führt, insoweit zugunsten des Angeklagten (§ 301
  130. StPO), zur Aufhebung des Strafausspruchs. Der Senat kann trotz insoweit an
  131. sich rechtsfehlerfreier Strafzumessungserwägungen nicht ausschließen, dass
  132. die den Strafrahmen ausschöpfende Gesamtstrafe von 15 Jahren und die sie
  133. bildenden Einzelstrafen sowie die Freiheitsstrafe von acht Monaten wegen unterlassener Hilfeleistung niedriger ausgefallen wären, wenn das Landgericht
  134. zugleich auf Sicherungsverwahrung erkannt hätte.
  135. Rissing-van Saan
  136. Krehl
  137. Fischer
  138. Schmitt
  139. Eschelbach