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273 lines
18 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 2 StR 329/00
  5. vom
  6. 1. Dezember 2000
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen Körperverletzung mit Todesfolge
  10. -2-
  11. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
  12. 29. November 2000 in der Sitzung vom 1. Dezember 2000, an denen teilgenommen haben:
  13. Vizepräsident des Bundesgerichtshofes
  14. Dr. Jähnke
  15. als Vorsitzender,
  16. die Richter am Bundesgerichtshof
  17. Detter,
  18. Dr. Bode,
  19. Rothfuß,
  20. Prof. Dr. Fischer
  21. als beisitzende Richter,
  22. Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
  23. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  24. Rechtsanwalt
  25. in der Verhandlung
  26. als Verteidiger,
  27. Justizhauptsekretärin
  28. Justizangestellte
  29. in der Verhandlung,
  30. bei der Verkündung
  31. als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
  32. für Recht erkannt:
  33. -3-
  34. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 26. April 2000 aufgehoben.
  35. Der Angeklagte wird freigesprochen.
  36. Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
  37. Von Rechts wegen
  38. Gründe:
  39. I.
  40. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu der Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte
  41. die Verletzung des formellen und materiellen Rechts. Die Revision hat mit der
  42. Sachrüge Erfolg und führt zum Freispruch des Angeklagten, weil die Feststellungen des Landgerichts die Verurteilung des Angeklagten nicht tragen und
  43. nicht zu erwarten ist, daß in einer neuen Hauptverhandlung weitere zum
  44. Schuldnachweis erforderliche Feststellungen getroffen werden können.
  45. Das Landgericht hat im wesentlichen festgestellt:
  46. -4-
  47. 1. Der 21-jährige Angeklagte war 1950 bei der Grenzpolizei der DDR im
  48. Bereich Jützenbach (Kreis Eichsfeld) an der Grenze zur Bundesrepublik
  49. Deutschland als Grenzposten tätig. Es gab dort weder Grenzzäune noch Sicherungsanlagen. Die Grenzposten hatten den Auftrag, den damals herrschenden regen Grenzverkehr zu unterbinden und Grenzverletzer festzunehmen. Als Grenzverletzer galten Personen, die die Grenze überschritten - gleich
  50. in welcher Richtung - und solche, die sich ohne Erlaubnis in der 5 km tiefen
  51. Sperrzone hinter der Grenze aufhielten.
  52. Am 3. September 1950 hatte das spätere Tatopfer V., der in der Bundesrepublik Deutschland wohnte, ohne Erlaubnis die Grenze passiert, um mit dem
  53. Fahrrad seine Mutter in der DDR zu besuchen. Innerhalb der Sperrzone traf er
  54. auf den Angeklagten und seinen Postenführer H., die durch ihre Uniform als
  55. Grenzpolizisten erkennbar waren. H. forderte V. auf stehenzubleiben. Nach
  56. diesem Zuruf beschleunigte V. seine Fahrt mit dem Fahrrad. Der Angeklagte
  57. und H., die beide mit einem Karabiner K 98 bewaffnet waren, gaben Warnschüsse ab. Da V. seine Fahrt nochmals beschleunigte, zielte der Angeklagte
  58. auf den unteren Bereich des inzwischen ca. 150 m entfernten Fahrrads und
  59. gab einen Schuß ab. V. wurde von der Kugel in Höhe der Leber-Lungengrenze
  60. getroffen und war sofort tot. Der Angeklagte hatte bei dem Schuß die Absicht,
  61. V. anzuhalten und festzunehmen. Er nahm eine Körperverletzung des V. durch
  62. Treffen der Beine billigend in Kauf, nicht aber dessen Tod, der jedoch für ihn
  63. voraussehbar war. Der Angeklagte hielt V. für einen Grenzverletzer, der aber
  64. keine darüber hinausgehende Gefahr darstellte.
  65. 2. Der Angeklagte war unterrichtet worden, wann und wie er nach den
  66. geltenden Dienstvorschriften von der Schußwaffe Gebrauch machen durfte. Er
  67. hielt sein Vorgehen nach den damals geltenden Dienstanweisungen und In-
  68. -5-
  69. struktionen für rechtmäßig. Für die Grenzposten galten insoweit insbesondere
  70. folgende Bestimmungen:
  71. a) Nach § 19 Buchst. a und b der "Dienstanweisung für die Grenzpolizei
  72. zur Bewachung der Demarkationslinie in der Sowjetokkupationszone Deutschlands vom 23. August 1947 (Anlage zum Befehl 0155)" war ein Polizist, welcher als Posten zur Überwachung der Demarkationslinie eingesetzt war, verpflichtet, das Überschreiten und Überfahren der Demarkationslinie in die Seite
  73. der Sowjetokkupationszone und zurück nicht zuzulassen und Personen, die die
  74. Demarkationslinie an beliebigen Stellen zu überschreiten oder überfahren versuchten festzunehmen und dem Polizeikommando oder der Polizeikommandatur zu übergeben.
  75. Gemäß § 20 Buchst. b der Dienstanweisung durfte die Waffe von der
  76. Polizei u.a. angewendet werden beim Flüchten der Verletzer der Demarkationslinie, wenn es kein anderes Mittel für ihre Festnahme gab (wie Haltruf,
  77. Schuß in die Luft).
  78. b) In der "Instruktion für die Grenzpolizeiorgane zum Schutze der Grenze und der Demarkationslinie der SBZ Deutschlands (Befehl 0116)" heißt es in
  79. § 27 Buchst. b, der Posten der Grenzpolizei könne von der Waffe Gebrauch
  80. machen bei Flucht des Grenzverletzers, wenn alle anderen Möglichkeiten der
  81. Festnahme (Haltrufe, Warnschuß) erschöpft sind.
  82. c) Nach Nr. 221 Abs. 5 der "Instruktion der Deutschen Verwaltung des
  83. Innern" vom 20. Juli 1949 hatten die Grenzposten und Grenzstreifen beim Versuch einer Person, die Grenze ohne Berechtigung zu überschreiten, alle Maßnahmen zu ergreifen, diese ohne Waffengebrauch festzunehmen. Dies konnte
  84. durch einen Halt- und Warnruf geschehen oder, falls die Person nicht stehen-
  85. -6-
  86. blieb, durch einen Warnschuß in die Luft. Blieb auch dies erfolglos, so war,
  87. falls nicht noch andere Möglichkeiten der Festnahme gegeben waren, der direkte Waffengebrauch nach den Vorschriften der SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) über den Waffengebrauch der Grenzschutzpolizei gestattet.
  88. d) Gemäß B V. der Sonderanweisung Nr. 1 über Waffengebrauch des
  89. Thüringer Ministeriums des Innern vom 23. Februar 1948 hatte der Polizeiangestellte bei der Abgabe von Zielschüssen möglichst auf die Beine zu zielen,
  90. damit der Täter zur Aburteilung dem Richter zugeführt werden konnte. Flüchtete der Täter mit einem Fahrzeug, war die Waffenwirkung in erster Linie auf
  91. die Unbrauchbarmachung des Verkehrsmittels zu richten.
  92. 3. Der Angeklagte meldete den Vorfall bei seiner Dienststelle und holte
  93. Hilfe. Er wurde eingehend polizeilich zu den Geschehnissen vernommen. Mit
  94. der Untersuchung sollte überprüft werden, ob der Angeklagte und sein Postenführer H. die Dienstanweisungen beachtet hatten, insbesondere, ob sie V.
  95. zum Anhalten aufgefordert und sodann Warnschüsse abgegeben hatten. Dies
  96. wurde als Ergebnis der Untersuchung bejaht. Von der Einleitung/Einstellung
  97. eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens konnte sich das Landgericht nicht
  98. überzeugen, obwohl ein Schreiben der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei
  99. vom 9. Mai 1951 hierauf hindeutet. Der Angeklagte wurde nach dem Vorfall zu
  100. einer anderen Einheit der Grenzpolizei versetzt und schließlich am 30.11.1950
  101. auf seinen Antrag entlassen.
  102. 4. Das Landgericht meint, der Angeklagte habe rechtswidrig und schuldhaft gehandelt. Er hätte erkennen können, daß der Schuß auf V. nicht rechtmäßig gewesen sei. Soweit ihm die Unrechtseinsicht gefehlt habe, liege ein
  103. vermeidbarer Verbotsirrtum vor. Auch nach § 5 Abs. 1 WStG, § 258 Abs. 1
  104. -7-
  105. StGB-DDR sei der Angeklagte nicht entschuldigt, da er habe erkennen können,
  106. daß seine Handlung rechtswidrig gewesen sei.
  107. II.
  108. Die Verurteilung des Angeklagten hält der sachlich-rechtlichen Prüfung
  109. nicht stand.
  110. 1. Nach dem festgestellten Sachverhalt hat der Angeklagte den Tatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge erfüllt. Einen bedingten Tötungsvorsatz hat das Landgericht im Ergebnis ohne Rechtsfehler verneint. Hierdurch
  111. ist der Angeklagte nicht beschwert. Auch in einer neuen Hauptverhandlung
  112. wären weitergehende Feststellungen zu dem vom Landgericht vermißten Willenselement eines bedingten Tötungsvorsatzes 50 Jahre nach der Tat nicht
  113. mehr zu erwarten. Unter diesen Umständen muß auch die vom Landgericht
  114. vorgenommene Abgrenzung zwischen bedingtem Tötungsvorsatz und bewußter Fahrlässigkeit im Ergebnis nicht beanstandet werden.
  115. 2. Entgegen der Annahme des Landgerichts ist aber bereits zweifelhaft,
  116. ob die Tat des Angeklagten rechtswidrig war. Es besteht die nicht geringe
  117. Wahrscheinlichkeit, daß sie durch die damalige Befehlslage und die dem Angeklagten erteilten Dienstanweisungen gedeckt und damit gerechtfertigt war.
  118. Die rechtfertigende Wirkung der damaligen Befehlslage ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil erst durch das Grenzgesetz von 1982 eine gesetzliche Grundlage für den Schußwaffengebrauch an der Grenze geschaffen wurde. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß - jedenfalls zur Tatzeit und vor Inkrafttreten des Volkspolizei-Gesetzes von 1968 und des Grenzgesetzes von
  119. 1982 - die vom Tatrichter genannten noch aus der Zeit vor der Gründung der
  120. DDR stammenden, aber fortgeltenden Befehle, Dienstanweisungen und In-
  121. -8-
  122. struktionen als eine ausreichende formelle Rechtsgrundlage angesehen wurden (vgl. BGHSt 40, 241, 242 f.; 41, 101, 103 f.). Die Überprüfung des Verhaltens des Angeklagten hatte zum Ergebnis, daß er nicht gegen die Dienstanweisungen verstoßen hatte. Eine Bestrafung des Angeklagten ist damals nicht
  123. erfolgt. Unter diesen Umständen ist zu seinen Gunsten davon auszugehen,
  124. daß die bestehende Befehlslage des Jahres 1950 nach der damaligen
  125. Staatspraxis der DDR ausreichte, sein Verhalten und den Schußwaffengebrauch gegenüber V. zu rechtfertigen.
  126. Von der Frage, ob das Verhalten des Angeklagten nach dem Recht der
  127. DDR, wie es in der Befehlslage und der Staatspraxis angewandt wurde, gerechtfertigt war, ist die weitere Frage zu unterscheiden, ob der so verstandene
  128. Rechtfertigungsgrund wegen Verletzung vorgeordneter, auch von der DDR zu
  129. beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip außer Betracht bleiben muß. Allerdings müssen Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund als unbeachtlich angesehen wird, auf extreme Ausnahmen beschränkt
  130. bleiben. Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof die Geltung eines zur
  131. Tatzeit angenommenen Rechtfertigungsgrunds beim Schußwaffengebrauch
  132. gegenüber Grenzverletzern an der innerdeutschen Grenze dann verneint,
  133. wenn er das (bedingt oder unbedingt) vorsätzliche Töten von Personen deckte,
  134. die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung anerkannter
  135. Rechtsgüter die Grenze zu überschreiten (BGHSt 39, 1, 14 f.; 41, 101, 103 ff.).
  136. Nur das Anlegen von Minensperren an der innerdeutschen Grenze wurde auch
  137. bei Körperverletzungsvorsatz als offensichtlich rechtswidrig erachtet (BGHSt
  138. 44, 204, 208). Ob der Schußwaffengebrauch zum Zweck der Festnahme des
  139. Grenzverletzers auf dem Gebiet der DDR auch dann als rechtswidrig anzusehen ist, wenn er nicht mit Tötungs-, sondern mit Körperverletzungsvorsatz er-
  140. -9-
  141. folgte, hat der Bundesgerichtshof bisher regelmäßig offengelassen, weil die
  142. Angeklagten in den zu entscheidenden Fällen entschuldigt waren und zwar
  143. wegen Handelns auf Befehl (§ 258 Abs. 1 i.V.m. § 81 Abs. 3 StGB-DDR; § 5
  144. Abs. 1 WStG [analog] i.V.m § 2 Abs. 3 StGB, Art. 315 Abs. 1 EGStGB; BGH
  145. NStZ 1993, 488; BGHSt 41, 10, 15, vgl. auch 42, 65, 71; 42, 356, 364) oder
  146. zumindest wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums (BGHSt 39, 168, 194
  147. f.).
  148. 3. Auch im vorliegenden Fall bedarf es keiner abschließenden Erörterung und Entscheidung, ob das Verhalten des Angeklagten rechtswidrig war.
  149. Denn sein Verhalten war jedenfalls auf Grund einer entsprechenden Anwendung von § 258 Abs. 1 StGB-DDR, § 5 Abs. 1 WStG, § 7 Abs. 2 Satz 2 UZwG,
  150. § 2 Abs. 3 StGB, Art. 315 Abs. 1 EGStGB wegen Handelns auf Befehl entschuldigt.
  151. Zur Tatzeit bestand in der DDR zwar keine gesetzliche Regelung, aus
  152. der zu folgern war, unter welchen Voraussetzungen eine auf Befehl begangene
  153. rechtswidrige Handlung entschuldigt war. § 5 Abs. 1 WStG und § 7 Abs. 2
  154. Satz 2 UZwG haben für Grenzpolizisten der DDR nicht gegolten; zudem waren
  155. diese Vorschriften zur Tatzeit ebenso wenig erlassen wie § 258 Abs. 1 StGBDDR. Gleichwohl sind diese Vorschriften mit ihrem Regelungsgehalt für die
  156. Beurteilung des Schußwaffengebrauchs an der innerdeutschen Grenze unter
  157. dem Gesichtspunkt des milderen Rechts (§ 2 Abs. 3 StGB, Art. 315 Abs. 1
  158. EGStGB) entsprechend heranzuziehen. Für § 5 Abs. 1 WStG, § 258 Abs. 1
  159. StGB-DDR hat der Bundesgerichtshof dies bereits entschieden (BGHR WStG
  160. § 5 Abs. 1 Schuld 3 = NStZ-RR 1996, 323 ff.). Für § 7 Abs. 2 Satz 2 UZwG, der
  161. für den hier betroffenen Bereich der Grenzpolizei sachnäher wäre, gilt nichts
  162. anderes. Auch nach dieser Vorschrift trifft den auf Anordnung handelnden Voll-
  163. - 10 -
  164. zugsbeamten eine Schuld nur, wenn er erkennt oder wenn es nach den ihm
  165. bekannten Umständen offensichtlich ist, daß er durch das Befolgen einer
  166. dienstlichen Anordnung eine Straftat begeht. Da sich der Regelungsgehalt dieser Vorschriften inhaltlich entspricht, kann dahingestellt bleiben, welche von
  167. ihnen für den Fall des Angeklagten entsprechend anzuwenden ist. Der Schuldausschließungsgrund entfällt daher nicht - wie das Landgericht meint (UA
  168. S. 17) - bereits dann, wenn der Grenzpolizist erkennen konnte, daß sein Handeln rechtswidrig war.
  169. Der Angeklagte handelte im Sinne dieser Vorschriften auf Befehl/Anordnung. Er hatte als Grenzposten den Auftrag, Grenzübertritte zu verhindern und Grenzverletzer festzunehmen, falls erforderlich auch unter Anwendung seiner Dienstwaffe. Teilweise waren die Dienstanweisungen für die
  170. Grenzpolizei ausdrücklich als Befehl bezeichnet. Militärische oder polizeiliche
  171. Dienstvorschriften enthalten in der Regel Dauerbefehle, die an alle Untergebenen gerichtet sind, die mit den dort bestimmten Tätigkeiten und Aufgaben befaßt sind. Der Befehl/die Anordnung muß nicht persönlich oder für einen konkreten Einzelfall erteilt sein. Auch das Einräumen eines Ermessenspielraums
  172. ändert nichts an dem Charakter eines Befehls (vgl. § 2 Nr. 2 WStG;
  173. Schölz/Lingens, Wehrstrafgesetz 4. Aufl. § 2 WStG Rdn. 7-11; Riegel in
  174. Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze § 2 WStG Rdn. 4 jew. m.w.N.).
  175. Es ist daher unschädlich, daß der Postenführer H. dem Angeklagten den
  176. Schußwaffengebrauch gegen V. nicht befohlen hatte.
  177. Der Angeklagte hat nach den Feststellungen des Landgerichts nicht erkannt, daß er durch den Schußwaffengebrauch gegenüber V. eine möglicherweise - rechtswidrige Tat beging. Dies war nach den ihm bekannten
  178. Umständen auch nicht offensichtlich. Der Strafrechtsverstoß ist nur offensicht-
  179. - 11 -
  180. lich, wenn er jenseits allen Zweifels auf der Hand liegt; eine Prüfungspflicht
  181. obliegt dem Soldaten oder Vollzugsbediensteten nicht (BGHSt 39, 1, 33; 39,
  182. 168, 189; 40, 241, 250 f.; 41, 10, 15; NStZ 1993, 488; 1995, 286; NStZ-RR
  183. 1996, 323 ff.).
  184. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Grenzbereich einschließlich
  185. des Gebrauchs von Schußwaffen ist grundsätzlich rechtlich nicht zu beanstanden, wenn dies auf der Grundlage von Regelungen, die mit rechtsstaatlichen
  186. Grundsätzen vereinbar sind, erfolgt, um die Flucht möglicher Rechtsbrecher zu
  187. verhindern. Der Einsatz der Schußwaffe gegen eine Person, die unerlaubt die
  188. Grenze überschritten hat und sich - wie V. - der Festnahme durch die Flucht
  189. entziehen will, ist nicht offensichtlich rechtsstaatswidrig (vgl. BGH NStZ 1995,
  190. 286 = BGHR WStG § 5 Abs. 1 Schuld 1 m.w.N.). Die für den Angeklagten zur
  191. Tatzeit geltende Befehlslage war - für sich genommen - nicht offensichtlich
  192. rechtsstaatswidrig, da sie hinreichende Anhaltspunkte für eine am Grundsatz
  193. der Verhältnismäßigkeit orientierte Auslegung der Vorschriften für den Schußwaffengebrauch bot. Bei der Beurteilung der Frage, ob das Verhalten des Angeklagten aus seiner Sicht offensichtlich rechtswidrig war, fällt entscheidend zu
  194. seinen Gunsten ins Gewicht, daß er bei seinem Vorgehen gegen V. lediglich
  195. dessen Verletzung, nicht aber dessen Tötung billigend in Kauf nahm. Zudem
  196. hielt er sich für einen guten Schützen, und die Sichtverhältnisse waren günstig.
  197. Da es für die Beurteilung der offensichtlichen Rechtswidrigkeit auf die dem Angeklagten zur Tatzeit bekannten Umstände ankommt, kann ferner nicht außer
  198. Betracht bleiben, daß die Lebenserfahrung des 1950 noch jungen Angeklagten
  199. nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft von den Einflüssen in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR geprägt war. Der Sicherung der innerdeutschen Grenze wurde - auch auf Grund der noch von der SMAD bestimmten Befehlslage - von Seiten der DDR schon zu dieser Zeit große Be-
  200. - 12 -
  201. deutung beigemessen, da sie nicht nur die Staatsgrenze, sondern zugleich die
  202. Demarkationslinie für den Ostblock bildete. Dies wirkte sich auch auf die persönlichen Erfahrungen des Angeklagten aus, der kurze Zeit vor dem Zusammentreffen mit V. mit Arrest bestraft worden war, weil er aus Nachsicht einen
  203. aus der Kriegsgefangenschaft kommenden Grenzverletzer aus Mitleid wieder
  204. freigelassen hatte. Daß gerade dieser Vorgang - wie das Landgericht meint die Erkenntnis des Angeklagten befördert haben könnte, daß der Schußwaffengebrauch auch gegenüber V. nicht rechtmäßig war, ist nicht nachvollziehbar. Die Gesamtwürdigung der Umstände des Tatgeschehens belegt, daß der
  205. Schußwaffengebrauch
  206. des
  207. Angeklagten
  208. gegenüber
  209. V.
  210. jedenfalls
  211. nicht
  212. o f f e n s i c h t l i c h eine rechtswidrige Tat war. Im Ergebnis entspricht diese
  213. Wertung der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs:
  214. Auf Schußwaffengebrauch, auch gegenüber unbewaffneten Grenzverletzern,
  215. der nicht mit Tötungsvorsatz einherging, wurde bisher noch in keinem Fall die
  216. Verurteilung eines Grenzsoldaten gestützt (vgl. u.a. BGHSt 42, 65, 71; 42, 356,
  217. 364). Das Verhalten des Angeklagten bietet keine Besonderheiten, die eine
  218. hiervon abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten.
  219. - 13 -
  220. Der Senat hat den Angeklagten entsprechend § 354 Abs. 1 StPO freigesprochen, weil es im Hinblick auf die seit der Tat im Jahre 1950 verstrichene
  221. Zeit ausgeschlossen erscheint, daß in einer neuen Hauptverhandlung weitere
  222. für einen Schuldspruch erforderliche Feststellungen getroffen werden können.
  223. Jähnke
  224. Detter
  225. Rothfuß
  226. Bode
  227. Fischer