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879 lines
47 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 2 StR 247/16
  5. vom
  6. 26. April 2017
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a.
  10. Nachschlagewerk:
  11. BGHSt:
  12. BGHR:
  13. Veröffentlichung:
  14. ja
  15. ja
  16. ja
  17. ja
  18. StPO §§ 102, 105; § 161 Abs. 2 Satz 1
  19. EMRK Art. 6 Abs. 1
  20. 1. Zur Rechtmäßigkeit sogenannter legendierter Kontrollen.
  21. 2. Es gibt weder einen allgemeinen Vorrang der Strafprozessordnung gegenüber
  22. dem Gefahrenabwehrrecht noch umgekehrt. Die Polizei kann auch während eines
  23. bereits laufenden Ermittlungsverfahrens aufgrund präventiver Ermächtigungsgrundlagen zum Zwecke der Gefahrenabwehr tätig werden.
  24. 3. Ob auf präventiv-polizeilicher Grundlage gewonnene Beweise im Strafverfahren
  25. verwendet werden dürfen, bestimmt sich nach § 161 Abs. 2 Satz 1 StPO.
  26. BGH, Urteil vom 26. April 2017 - 2 StR 247/16 - LG Limburg an der Lahn
  27. ECLI:DE:BGH:2017:260417U2STR247.16.0
  28. -2-
  29. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
  30. 19. April 2017 in der Sitzung am 26. April 2017, an denen teilgenommen haben:
  31. Richter am Bundesgerichtshof
  32. Dr. Appl
  33. als Vorsitzender,
  34. die Richter am Bundesgerichtshof
  35. Prof. Dr. Krehl,
  36. Dr. Eschelbach,
  37. Zeng,
  38. Dr. Grube,
  39. Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
  40. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  41. Rechtsanwalt
  42. in der Verhandlung,
  43. Rechtsanwalt
  44. in der Verhandlung und
  45. bei der Verkündung
  46. als Verteidiger,
  47. Justizangestellte
  48. Justizangestellte
  49. in der Verhandlung,
  50. bei der Verkündung
  51. als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
  52. für Recht erkannt:
  53. -3-
  54. 1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Limburg an der Lahn vom 1. März 2016 wird verworfen.
  55. 2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels
  56. zu tragen.
  57. Von Rechts wegen
  58. Gründe:
  59. 1
  60. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren
  61. und sechs Monaten verurteilt. Zudem hat es sichergestellte Betäubungsmittel
  62. und den PKW VW Touran des Angeklagten eingezogen sowie den erweiterten
  63. Verfall eines sichergestellten Geldbetrags in Höhe von 5.571,13 Euro angeordnet.
  64. 2
  65. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel
  66. hat keinen Erfolg.
  67. -4-
  68. I.
  69. 3
  70. 1. Nach den Feststellungen wurde der Angeklagte am 17. August 2015
  71. gegen 5.20 Uhr als Führer und alleiniger Insasse seines Fahrzeugs VW Touran
  72. von der Bundesautobahn A 3 kommend im Bereich der Ausfahrt L.
  73. -S.
  74. auf dem Gelände des nahe gelegenen ICE-Bahnhofs einer polizeilichen Personen- und Fahrzeugkontrolle unterzogen. Dabei entdeckte die Polizei in einem
  75. eigens dafür präparierten Hohlraum hinter dem Armaturenbrett des Fahrzeugs
  76. insgesamt
  77. neun
  78. Päckchen
  79. Kokain
  80. (7.995 Gramm
  81. Kokain
  82. brutto;
  83. 6.500,6 Gramm Kokainhydrochloridanteil). Der Angeklagte hatte das Kokain
  84. zuvor von einer unbekannten Person in den Niederlanden übernommen und
  85. gegen 4.00 Uhr morgens zwecks gewinnbringenden Weiterverkaufs nach
  86. Deutschland eingeführt. Dies entsprach dem gemeinsamen Tatplan des Angeklagten mit dem gesondert Verfolgten
  87. rokko aufhielt. B.
  88. B.
  89. , der sich zur Tatzeit in Ma-
  90. hatte den Betäubungsmitteltransport telefonisch orga-
  91. nisiert und den Kontakt zu dem Lieferanten in den Niederlanden hergestellt. Der
  92. Angeklagte war als seine „rechte Hand“ für die Entgegennahme und den
  93. Transport der Betäubungsmittel zuständig und hatte zuvor noch ausstehende
  94. Geldbeträge bei Betäubungsmittelabnehmern aus früheren Lieferungen für die
  95. Bezahlung des Kokains einzutreiben.
  96. 4
  97. 2. Das Landgericht hat seine Überzeugung von diesem Sachverhalt unter anderem auf die bei der Durchsuchung des Fahrzeugs des Angeklagten erlangten Erkenntnisse und auf die Aussagen der dabei tätig gewordenen Polizeibeamten gestützt. Es hat deren Aussagen zum Auffinden des Kokains im
  98. Fahrzeug, die hierzu gefertigten Lichtbilder und das Betäubungsmittelgutachten
  99. des Bundeskriminalamts Wiesbaden vom 28. September 2015 für verwertbar
  100. gehalten. Der Angeklagte hat der Verwertung von Beweismitteln, die mit der
  101. -5-
  102. Fahrzeugdurchsuchung im Zusammenhang stehen, in der Hauptverhandlung
  103. widersprochen, dies vor folgendem Hintergrund:
  104. 5
  105. a) Im April 2015 hatte eine Vertrauensperson gegenüber der Kriminalpolizei Frankfurt am Main angegeben, dass eine marokkanische Personengruppe
  106. unter Führung eines „
  107. “ im Frankfurter Stadtteil P.
  108. in großem
  109. Stil mit Drogen handele. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft Frankfurt am
  110. Main ein Ermittlungsverfahren ein und führte im Weiteren verdeckte Ermittlungen durch. Aufgrund hierdurch erlangter Erkenntnisse wurden der Angeklagte
  111. und der gesondert Verfolgte
  112. B.
  113. identifiziert und in der Folge als Be-
  114. schuldigte geführt. Durch Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen erhielten die Ermittlungsbehörden Hinweise auf einen für Mitte August 2015 geplanten Betäubungsmitteltransport des Angeklagten, den der Hintermann
  115. B.
  116. , der Ende Juli 2015 mit seiner Familie vorübergehend nach Marokko
  117. gereist war, telefonisch organisiert hatte. Auf Grundlage eines ermittlungsrichterlichen Beschlusses wurde das Fahrzeug des Angeklagten mit einem Peilsender versehen. Ab dem 14. August 2015 wurde der Angeklagte auch observiert, wodurch die Ermittlungsbehörde Kenntnis von seiner Einreise am frühen
  118. Morgen des nächsten Tages in die Niederlande erlangte. Da eine Zusammenarbeit mit den niederländischen Strafverfolgungsbehörden nicht zustande kam,
  119. wurde die Observation an der Landesgrenze abgebrochen.
  120. 6
  121. b) Am Tattag, dem 17. August 2015 gegen 1.15 Uhr, erhielten die ermittelnden Frankfurter Kriminalbeamten über den Peilsender Kenntnis davon, dass
  122. sich das Fahrzeug des Angeklagten wieder in Richtung Deutschland in Bewegung gesetzt hatte. Sie besprachen das weitere Vorgehen. Es erschien ihnen
  123. notwendig zu verhindern, dass Betäubungsmittel in erheblichem Umfang in
  124. Deutschland in Umlauf gerieten; zugleich waren die Beamten an der Sicherung
  125. etwaiger Beweise interessiert. Sie wollten auch verhindern, dass der damalige
  126. -6-
  127. Mitbeschuldigte B.
  128. , der sich zu diesem Zeitpunkt in Marokko aufhielt, von
  129. den bereits laufenden Ermittlungen erfahren und eine Wiedereinreise nach
  130. Deutschland deshalb unterlassen würde. Darum beschlossen sie, das Fahrzeug
  131. des Angeklagten in Deutschland – wenn möglich – einer sogenannten legendierten Kontrolle durch Beamte der Verkehrspolizei zu unterziehen, um den Erfolg der laufenden Ermittlungsmaßnahmen gegen den Hintermann nicht zu gefährden. Durch die Legende einer Verkehrskontrolle sollte verhindert werden,
  132. dass infolge des Zugriffs auf den Kurier bislang verdeckt geführte, technisch
  133. und personell aufwändige Ermittlungen aufgedeckt und der Hintermann in Marokko gewarnt würde. Bei vergleichbaren Lagen war entsprechend verfahren
  134. worden, richterliche Durchsuchungsbeschlüsse für zu kontrollierende Fahrzeuge, bei denen ihr Anlass hätte aufgedeckt werden müssen (§ 107 StPO), waren
  135. nicht eingeholt worden. Die Beamten hielten auch diesmal die Einholung eines
  136. richterlichen Durchsuchungsbeschlusses in Fortsetzung der üblichen Praxis für
  137. nicht erforderlich. Dementsprechend verständigten sie die Autobahnpolizei
  138. Wiesbaden und fragten vorsorglich die Unterstützung durch einen Diensthundeführer an.
  139. 7
  140. Nachdem der Angeklagte gegen 4.00 Uhr wieder nach Deutschland eingereist war und die Autobahn A 3 in Richtung Frankfurt am Main befuhr, traf
  141. sich eine Streife der Autobahnpolizei Wiesbaden – die Zeugen POKin Bi.
  142. und PK-A A.
  143. – mit dem Leiter des Observationsteams und weiteren
  144. Kriminalbeamten aus Frankfurt am Main auf dem Gelände des ICE-Bahnhofs in
  145. M.
  146. . Der Streife wurde neben der Beschreibung und dem Kennzeichen
  147. des Fahrzeugs des Angeklagten mitgeteilt, dass es um das Auffinden professionell verbauten Rauschgifts gehe. Es solle versucht werden, das Fahrzeug anzuhalten. Falls sich für eine Kontrolle ein Vorwand fände, wäre das „schön“.
  148. Sofern der Fahrer flüchten würde, sollte er jedoch nicht verfolgt werden. In der
  149. -7-
  150. Folge wurde die Streife mit Hilfe des Observationsteams an den vom Angeklagten gesteuerten VW Touran „herangeführt“.
  151. 8
  152. Kurz vor der Abfahrt L.
  153. -N.
  154. beobachteten die Beamten, dass der
  155. Angeklagte an einer Baustelle etwa 10 km/h zu schnell fuhr und nahmen dies
  156. zum Anlass für eine Verkehrskontrolle. Sie überholten und setzten das Zeichen
  157. „Bitte folgen“. Der Angeklagte kam dem nach und folgte dem Polizeifahrzeug an
  158. der Ausfahrt L.
  159. -S.
  160. Dort teilte POKin Bi.
  161. auf das Gelände des nahegelegenen ICE-Bahnhofs.
  162. dem Angeklagten mit, dass er zu schnell gefahren
  163. sei, verlangte dessen Papiere und fragte ihn, ob er verbotene Gegenstände bei
  164. sich führe, was dieser verneinte. Weitere Polizeibeamte kamen hinzu, unter
  165. anderem erschien ein Diensthundeführer mit einem Betäubungsmittelspürhund,
  166. der das Fahrzeug beschnüffelte und im Bereich der über dem Radio befindlichen Lüftungsdüsen anschlug. Als die Polizeibeamten feststellten, dass die Lüftungsdüsen nicht funktionierten, durchsuchten sie das Fahrzeug eingehender
  167. und fanden nach Entfernen des Ablagefachs der Mittelkonsole neun Pakete mit
  168. Kokain in einem Hohlraum. Daraufhin belehrten sie den Angeklagten als Beschuldigten und nahmen ihn vorläufig fest.
  169. 9
  170. c) Die Beamten der Verkehrspolizei fertigten auf der Dienststelle einen
  171. Bericht, in dem sie Hinweise auf die Ermittlungen der Kriminalpolizei Frankfurt
  172. am Main unterließen, wodurch der Eindruck entstand, es habe sich um eine
  173. zufällige Verkehrskontrolle gehandelt.
  174. 10
  175. KOK Z.
  176. von der Polizeidirektion Limburg, der die polizeilichen Ermitt-
  177. lungen in der Folge führte, wurde nach Dienstantritt von der Sicherstellung des
  178. Kokains informiert und belehrte den Angeklagten ein weiteres Mal mündlich als
  179. Beschuldigten, ohne auf das Ermittlungsverfahren in Frankfurt am Main hinzuweisen. Auf seine Frage, wieviel Kokain im Fahrzeug gewesen sei, antwortete
  180. -8-
  181. der Angeklagte: 6,5 kg. Auf Vorhalt, es seien aber bereits 8 kg brutto sichergestellt worden, zuckte er lediglich mit den Schultern. Weitere Angaben zur Sache
  182. machte der Angeklagte weder im Ermittlungsverfahren noch im Rahmen der
  183. Hauptverhandlung.
  184. 11
  185. Der Haftrichter des Amtsgerichts Limburg an der Lahn erließ am
  186. 18. August 2015 in Unkenntnis der Ermittlungen der Kriminalpolizei in Frankfurt
  187. am Main antragsgemäß Haftbefehl gegen den Angeklagten wegen Besitzes von
  188. Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Der gesondert Verfolgte B.
  189. reiste am 4. September 2015 wieder in die Bundesrepublik
  190. Deutschland ein. Am 19. Oktober 2015 wurde er aufgrund eines Haftbefehls
  191. des Amtsgerichts Frankfurt am Main vorläufig festgenommen und befindet sich
  192. seitdem in Untersuchungshaft. Mit Datum vom 20. Oktober 2015 übersandte die
  193. Kriminaldirektion Frankfurt am Main einen Vermerk an den Ermittlungsführer
  194. der Kriminaldirektion Limburg, der die Erkenntnisse aus dem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main zusammenfasste. Daraus ergab
  195. sich auch, dass die Fahrzeugkontrolle nicht zufällig durchgeführt worden war.
  196. Der Vermerk ging am 23. Oktober 2015 bei der Staatsanwaltschaft Limburg ein,
  197. die ihn per Telefax am 26. Oktober 2015, mehrere Wochen vor Anklageerhebung am 7. Dezember 2015, an den Verteidiger des Angeklagten übersandte.
  198. -9-
  199. II.
  200. 12
  201. Die von dem Angeklagten erhobenen Verfahrensbeanstandungen, die
  202. sich unter verschiedenen Gesichtspunkten gegen die Verwertung der im Rahmen der „legendierten Kontrolle“ (vgl. hierzu LG Münster, Beschluss vom
  203. 1. September 2014 – 9 Qs 220 Js 66/14 - 41/14, NStZ 2016, 126 mit Anm.
  204. Gubitz; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 105 Rn. 1a; Mosbacher, JuS
  205. 2016, 706, 707 f.; Nowrousian, Heimliches Vorgehen und aktive Täuschung im
  206. Ermittlungsverfahren, 2015, S. 95 ff.; ders. Kriminalistik 2013, 105 ff.; Müller/Römer, NStZ 2012, 543 ff.; Tönsgerlemann, AW-Prax 2012, 168) gewonnenen Beweismittel wenden, dringen nicht durch.
  207. 13
  208. 1. Die auf eine Verletzung der § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 102 StPO
  209. i.V.m. § 337 StPO gestützte Verfahrensrüge, mit der sich der Beschwerdeführer
  210. gegen die Verwertung von Beweismitteln wendet, die im Zusammenhang mit
  211. der polizeilichen Durchsuchung seines Fahrzeugs erlangt wurden, hat keinen
  212. Erfolg.
  213. 14
  214. Die zulässig erhobene Rüge ist unbegründet. Das vom Angeklagten geltend gemachte Verwertungsverbot besteht nicht. Die Durchsuchung des Fahrzeugs ohne vorherige richterliche Anordnung war nach hessischem Gefahrenabwehrrecht zulässig, die aufgefundenen Beweismittel waren gemäß § 161
  215. Abs. 2 Satz 1 StPO verwertbar (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2015
  216. – 3 StR 406/15, NStZ-RR 2016, 176 zu §§ 22, 23 Nds. SOG).
  217. 15
  218. a) Entgegen der Auffassung des Landgerichts stellt die bundesgesetzliche Norm des § 36 Abs. 5 StVO keine Ermächtigungsgrundlage für die Fahrzeugdurchsuchung dar. § 36 Abs. 5 StVO berechtigt nur zu verkehrsbezogenen
  219. Maßnahmen, die der Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs dienen, wie
  220. etwa zur Überprüfung der Fahrtüchtigkeit des Fahrers, des Zustands der Aus-
  221. - 10 -
  222. rüstung des Fahrzeugs oder dessen Beladung (vgl. OLG Celle, Beschluss vom
  223. 23. Juli 2012 – 31 Ss 27/12, StraFo 2012, 419, 420 f.; Müller/Römer,
  224. NStZ 2012, 543, 546; Janker/Hühnermann in: Burmann pp., Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 36 StVO Rn. 12; König in: Hentschel pp., Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 36 StVO Rn. 24 mwN; differenzierend Nowrousian, Heimliches Vorgehen und aktive Täuschung im Ermittlungsverfahren, 2015, S. 108 f.).
  225. Auf solche verkehrsbezogenen Umstände bezog sich die Fahrzeugdurchsuchung aber gerade nicht, vielmehr diente sie allein dem Auffinden und der Sicherstellung der im Fahrzeug vermuteten Betäubungsmittel.
  226. 16
  227. b) Die Fahrzeugdurchsuchung war indes nach § 37 Abs. 1 Nr. 1 und
  228. Nr. 3 HSOG (i.V.m. § 36 Abs. 1 Nr. 1 HSOG bzw. § 40 Nr. 1 und 4 HSOG) gerechtfertigt. Zum Zeitpunkt der Durchsuchung lagen in formeller und materieller
  229. Hinsicht alle Voraussetzungen der gefahrenabwehrrechtlichen Ermächtigungsgrundlage vor. Einer vorherigen richterlichen Anordnung bedurfte es nach diesen Vorschriften nicht.
  230. 17
  231. aa) Nach § 37 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 36 Abs. 1 Nr. 1 HSOG können die
  232. Polizeibehörden Sachen durchsuchen, die von einer Person mitgeführt werden,
  233. hinsichtlich der Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Gegenstände
  234. mit sich führt, die sichergestellt werden dürfen. Gleiches gilt nach § 37 Abs. 1
  235. Nr. 3 HSOG, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in der zu
  236. durchsuchenden Sache eine andere Sache befindet, die sichergestellt werden
  237. darf. Sichergestellt werden können Sachen nach hessischem Gefahrenabwehrrecht etwa, um eine gegenwärtige Gefahr abzuwehren (§ 40 Nr. 1 HSOG) oder
  238. wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass sie zur Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit gebraucht oder verwertet werden
  239. sollen (§ 40 Nr. 4 HSOG). Danach gestatten die gefahrenabwehrrechtlichen
  240. Vorschriften insbesondere auch die Suche nach illegalen Betäubungsmitteln
  241. - 11 -
  242. (BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2015 – 3 StR 406/15, NStZ-RR 2016, 176
  243. zu den insoweit nahezu gleichlautenden §§ 22, 23, 26 Nds. SOG;
  244. Pewestorf/Söllner/Tölle, Praxishandbuch Polizei- und Ordnungsrecht, S. 320
  245. Rn. 215). Die wegen Art. 13 GG strengeren Voraussetzungen für die Durchsuchung von Wohnungen (vgl. §§ 38, 39 HSOG) gelten für eine Fahrzeugdurchsuchung nicht.
  246. 18
  247. bb) Die Maßnahme diente sowohl der Beweisgewinnung als auch der
  248. Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr, hier dem Inverkehrgelangen einer großen
  249. Menge von gefährlichen Betäubungsmitteln. Den Beamten der Autobahnpolizei
  250. Wiesbaden war von den Kriminalbeamten aus Frankfurt am Main mitgeteilt
  251. worden, dass sie das Fahrzeug wegen "professionell verbauten Rauschgifts"
  252. überprüfen sollten; zudem hatte während der Kontrolle der angeforderte Spürhund angeschlagen. Damit lagen aus Sicht der handelnden Polizeibeamten tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass der Angeklagte in seinem Fahrzeug
  253. (verbotene) Gegenstände im Sinne von § 37 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 HSOG
  254. (i.V.m. § 40 Nrn. 1 und 4 HSOG) mit sich führte, von denen eine Gefahr ausging. Die Durchsuchung des vom Angeklagten mitgeführten Fahrzeugs war für
  255. die Zweckerreichung, hier die Sicherstellung der im Fahrzeug befindlichen Betäubungsmittel, auch unabdingbar.
  256. 19
  257. c) Der polizeirechtlichen Rechtmäßigkeit der Maßnahme steht nicht entgegen, dass zum Zeitpunkt der Fahrzeugdurchsuchung bereits ein Anfangsverdacht einer Straftat gegen den Angeklagten vorlag, der auch ein Vorgehen nach
  258. §§ 102, 105 StPO ermöglicht hätte (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Dezember
  259. 2015 – 3 StR 406/15, NStZ-RR 2016, 176; kritisch Mosbacher, JuS 2016, 706,
  260. 708).
  261. - 12 -
  262. 20
  263. aa) Nach den Feststellungen beabsichtigte die Polizei nicht nur, die Betäubungsmittel zwecks Gefahrenabwehr aus dem Verkehr zu ziehen, sondern
  264. verfolgte daneben auch das Ziel der Beweissicherung in einem potentiellen
  265. Strafverfahren gegen den Angeklagten und dessen Hintermann. Damit handelte
  266. es sich bei der Fahrzeugdurchsuchung um eine sogenannte doppelfunktionale
  267. Maßnahme, bei der die Polizei mit jeweils selbständiger präventiver und repressiver
  268. Zielsetzung
  269. tätig
  270. wurde
  271. (vgl.
  272. hierzu
  273. BayVGH,
  274. Beschluss
  275. vom
  276. 5. November 2009 – 10 C 09.2122 BayVbl 2010, 220; Schoch, JURA 2013,
  277. 1115, 1116 ff.; Ehrenberg/Frohne, Kriminalistik 2003, 737; Götz, Allgemeines
  278. Polizei- und Ordnungsrecht, 15. Aufl., S. 209 Rn. 15; vgl. auch Bertram, Die
  279. Verwendung präventivpolizeilicher Erkenntnisse im Strafverfahren, 2009, S. 209
  280. f.; Rieger, Die Abgrenzung doppelfunktionaler Maßnahmen der Polizei, 1994,
  281. S. 5 f.). Von solchen „echten“ doppelfunktionalen Maßnahmen abzugrenzen
  282. sind polizeiliche Maßnahmen, die nur deswegen auch präventiven Charakter
  283. besitzen, weil durch die Strafverfolgung ein entsprechender unselbständiger
  284. Nebeneffekt erzielt wird, etwa dass der Betroffene durch Festnahme an der
  285. Fortsetzung seiner strafbaren Handlung faktisch gehindert wird. In einem solchen Fall der „Prävention durch Repression“ ist das polizeiliche Vorgehen
  286. schon nach seiner alleinigen Zwecksetzung ausschließlich strafprozessualer
  287. Natur (vgl. Denninger/Rachor, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., S. 1252
  288. Rn. 30; Götz aaO S. 209 f.). So liegt der Fall hier nicht, da die Durchsuchung
  289. des Fahrzeugs auch den selbständigen präventiv-polizeilichen Zweck verfolgte,
  290. das Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln in erheblichem Umfang in
  291. Deutschland zu verhindern.
  292. 21
  293. bb) Wie die Rechtmäßigkeit einer „echten“ doppelfunktionalen Maßnahme der Polizei zu beurteilen ist und welche Konsequenzen sich daraus für das
  294. Strafverfahren ergeben, ist umstritten.
  295. - 13 -
  296. 22
  297. (1) Nach einer Literaturmeinung ist ein Rückgriff auf Normen des Gefahrenabwehrrechts immer dann ausgeschlossen, wenn gegen den Betroffenen
  298. der Maßnahme gleichzeitig ein Anfangsverdacht einer Straftat besteht. Der absolute Vorrang strafprozessualer Vorschriften sei unabdingbar, weil ansonsten
  299. eine Umgehung der teilweise strengeren Voraussetzungen der Strafprozessordnung bzw. ein Kontrollverlust der Justiz drohe (Gubitz, NStZ 2016, 128; Müller/Römer, NStZ 2012, 543, 547; KK-StPO/Schoreit, 6. Aufl., § 152 Rn. 18c).
  300. 23
  301. (2) In Anlehnung an die sogenannte Schwerpunkttheorie (vgl. BVerwG,
  302. Beschluss vom 22. Juni 2001 – 6 B 25/01, NVwZ 2001, 1285, 1286; Urteil vom
  303. 3. Dezember 1974 – I C 11.73, BVerwGE 47, 255, 264 f.; BayVGH, Beschluss
  304. vom 5. November 2009 – 10 C 09.2122 BayVbl 2010, 220; weitere Nachweise
  305. in Schenke, NJW 2011, 2838, 2841 f.), die für die Prüfung der Rechtswegzuständigkeit zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und ordentlicher Gerichtsbarkeit entwickelt wurde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 2001 – 6 B 25/01,
  306. NVwZ 2001, 1285, 1286), soll für die Beurteilung, ob eine Maßnahme an Ermächtigungsgrundlagen aus dem Gefahrenabwehrrecht oder aus der Strafprozessordnung zu messen sei, entscheidend sein, wo der Schwerpunkt des polizeilichen Eingreifens liegt (vgl. etwa Ehrenberg/Frohne, Kriminalistik 2003, 737,
  307. 749 f.).
  308. 24
  309. (3) Nach anderer Auffassung endet mit der Annahme eines konkreten
  310. Anfangsverdachts einer Straftat nicht die Möglichkeit der Polizei, auch nach
  311. Gefahrenabwehrrecht vorzugehen (LG Münster, Beschluss vom 1. September
  312. 2014 – 9 Qs 220 Js 66/14 – 41/14, NStZ 2016, 126, 127; Nowrousian, Heimliches Vorgehen und aktive Täuschung im Ermittlungsverfahren, 2015, S. 97 ff.;
  313. ders., Kriminalistik 2013, 105 ff.; Tönsgerlemann, AW-Prax 2012, 168, 169).
  314. Vielmehr könnten nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens Strafverfolgung
  315. und Gefahrenabwehr zulässigerweise parallel betrieben werden (Kniesel, ZRP
  316. - 14 -
  317. 1987, 377, 378 f.). Beide Aufgabenbereiche stünden gleichberechtigt nebeneinander (vgl. Tönsgerlemann, AW-Prax 2012, 168, 169). Eine echte doppelfunktionale Maßnahme sei schon dann rechtmäßig, wenn sie zur Verfolgung
  318. nur eines der beiden Zwecke rechtmäßig ist (vgl. Schwan, VerwArch 79 [1979],
  319. 109, 129). Teilweise wird der Polizei ein Wahlrecht eingeräumt, ob sie auf strafprozessualer oder polizeirechtlicher Grundlage tätig wird (Bäcker, Kriminalpräventionsrecht, 2015, S. 358 f.). In Situationen, in denen sich die Notwendigkeit
  320. ergebe, sowohl zum Zweck der Gefahrenabwehr als auch zum Zweck der
  321. Strafverfolgung tätig zu werden, wie z.B. typischerweise bei Entführung, Geiselnahme oder Terrorlagen, habe die Polizei im Einzelfall zu entscheiden, welcher Staatsaufgabe der Vorrang einzuräumen sei (Rudolphi, SK-StPO,
  322. 10. Aufb. Lfg. [1994], Vorbem. § 94 Rn. 12; Nowrousian, Kriminalistik 2013,
  323. 105, 106 f.). Im Zweifelsfall gelte vorrangig Gefahrenabwehrrecht (Kniesel,
  324. Kriminalistik 1987, 316; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht,
  325. 8. Aufl., S. 24 f. Rn. 12). Dies bringe den verfassungsrechtlichen Grundsatz zur
  326. Geltung, dass im Zweifel die Abwehr drohender Gefahren wichtiger sei als die
  327. Verfolgung schon begangener Straftaten, und komme in den „Gemeinsamen
  328. Richtlinien der Justizminister/-senatoren und der Innenminister/-senatoren des
  329. Bundes und der Länder über die Anwendung unmittelbaren Zwanges durch Polizeibeamte auf Anordnung des Staatsanwalts“ (Anlage A zur RiStBV, BAnz
  330. 2007, 7950) zum Ausdruck. Diese sehen in Abschnitt B. III vor, dass der
  331. Staatsanwalt allgemeine Weisungen erteilt, der Polizeibeamte die Ausführung
  332. übernimmt, beide einvernehmlich zusammenarbeiten, im Einzelfall abgewogen
  333. wird, ob Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung den Vorzug verdient und dass
  334. im Zweifel der Polizeibeamte entscheidet.
  335. 25
  336. cc) Nach Ansicht des Senats besteht weder ein allgemeiner Vorrang der
  337. Strafprozessordnung gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht noch umgekehrt
  338. ein solcher des Gefahrenabwehrrechts gegenüber der Strafprozessordnung.
  339. - 15 -
  340. Auch bei Vorliegen eines Anfangsverdachts einer Straftat im Sinne des § 152
  341. Abs. 2 StPO ist ein Rückgriff auf präventiv-polizeiliche Ermächtigungsgrundlagen rechtlich möglich. Insbesondere bei sogenannten Gemengelagen, in denen
  342. die Polizei sowohl repressiv als auch präventiv agieren kann und will, bleiben
  343. strafprozessuale und gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen grundsätzlich nebeneinander anwendbar. Im Einzelnen:
  344. 26
  345. (1) Das Gesetz kennt keinen Vorrang strafprozessualer Vorschriften gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht.
  346. 27
  347. Gefahrenabwehr ist eine zentrale staatliche Aufgabe, die gegenüber der
  348. Strafverfolgung eigenständige Bedeutung hat und nicht hinter ihr zurücktritt
  349. (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. September 1989 – 2 BvR 1062/87, BVerfGE
  350. 80, 367, 380 und vom 8. März 1972 – 2 BvR 28/71, BVerfGE 32, 373, 380).
  351. Vielmehr stehen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung als staatliche Aufgaben
  352. mit unterschiedlicher Zielrichtung gleichberechtigt nebeneinander (vgl. BVerwG,
  353. Beschluss vom 22. Juni 2001 – 6 B 25/01, NVwZ 2001, 1285, 1286).
  354. 28
  355. So spricht die gesetzgeberische Entscheidung in § 10 Abs. 3 ZollVG dafür, dass die Anwendung der Regelungen zur Gefahrenabwehr auch bei Vorliegen eines strafprozessualen Anfangsverdachts weiterhin möglich ist (vgl. auch
  356. LG Münster, Beschluss vom 1. September 2014 − 9 Qs-220 Js 66/14 – 41/14,
  357. NStZ 2016, 126, 127). § 10 Abs. 2, 3 ZollVG gestattet die Kontrolle und Durchsuchung von Personen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass
  358. vorschriftswidrig Waren eingeführt werden, die der zollamtlichen Überwachung
  359. unterliegen. Aus solchen Anhaltspunkten kann sich gerade auch ein Anfangsverdacht für strafbewehrte Verstöße etwa gegen das Waffengesetz, das Gesetz
  360. über explosionsgefährliche Stoffe (SprengG) oder das Betäubungsmittelgesetz
  361. ergeben; gleichwohl ist in § 1 Abs. 3 ZollVG gesetzlich vorgesehen, dass die
  362. - 16 -
  363. dem Recht der Gefahrenabwehr zuzuordnende zollamtliche Überwachung der
  364. Gewährleistung der Einhaltung der nationalen und der gemeinschaftsrechtlichen Verbote und Beschränkungen des grenzüberschreitenden Warenverkehrs
  365. dient (vgl. Erbs/Kohlhaas/Häberle, Strafrechtliche Nebengesetze, 212. Erg.Lfg.,
  366. ZollVG § 1 Rn. 7). Die Vorschrift richtet sich damit nicht nur gegen Störer, sondern typischerweise auch gegen „materiell Beschuldigte“. Sie wäre sinnlos,
  367. würde der Anfangsverdacht strafbaren Handelns ihre regelmäßig gegebene
  368. Anwendung hindern (vgl. Nowrousian, Kriminalistik 2013, 105, 106 f.).
  369. 29
  370. Auch die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung schließt den Zugriff
  371. auf Vorschriften der Landespolizeigesetze in der vorliegenden Konstellation
  372. nicht aus. Vielmehr sind die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen des
  373. allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts grundsätzlich weder der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes zuzuordnen (vgl. Maunz/Dürig/Uhle, GG,
  374. 79. EL, Art. 70 Rn. 111 mwN) noch enthält das Bundesrecht Vorschriften, die
  375. einen Ausschluss entsprechender Präventivmaßnahmen im Geltungsbereich
  376. der Strafprozessordnung normieren (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Juni
  377. 2001 – 6 B 25/01, NVwZ 2001, 1285, 1286).
  378. 30
  379. Eine starre Verweisung auf die Strafprozessordnung würde es den Gefahrenabwehrbehörden unmöglich machen, adäquat und flexibel auf neue, häufig nicht vorhersehbare Gefahrenlagen zu reagieren. Die Grenzen zwischen
  380. präventivem Handeln und repressivem Vorgehen können fließend sein und sich
  381. je nach Sachlage kurzfristig und kaum vorhersehbar verändern. Relevant wird
  382. dies etwa bei Ermittlungen im Bereich des Terrorismus (vgl. etwa BGH, Urteil
  383. vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69, 78 ff. – „Al Qaida“) oder
  384. bei Vorfeldstraftaten des kriminalpräventiven Strafrechts (etwa § 89a StGB), bei
  385. denen der Anfangsverdacht regelmäßig eng an der Schnittstelle zur Gefahrenabwehr liegt (vgl. hierzu Bäcker, Kriminalpräventionsrecht, 2015, S. 358 f.). Ei-
  386. - 17 -
  387. ne Kombination von Strafverfolgung und Verhütung von Straftaten ergibt sich
  388. typischerweise auch bei Geiselnahmen (vgl. Schäfer, GA 1986, 49, 56 f., wonach der Präventionsauftrag – z.B. bei Tötung des Geiselnehmers – einen sogar strafverfolgungsverhindernden Vorrang gewinnen kann). Von den zuständigen Polizeibehörden verlangt das Gesetz insbesondere in diesen Konstellationen die Wahrnehmung beider staatlicher Aufgaben mit jeweils unterschiedlicher
  389. Zielsetzung.
  390. 31
  391. Schließlich lässt sich auch dem Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2 StPO,
  392. § 163 Abs. 1 StPO) kein generelles Über- oder Unterordnungsverhältnis von
  393. Strafverfolgung und Gefahrenabwehr entnehmen (vgl. Bäcker, Kriminalpräventionsrecht, 2015, S. 359; anders Schoreit, DRiZ 1987, 401, 402). Solange der
  394. repressive Zugriff zeitlich nur hinausgeschoben und nicht ganz oder teilweise
  395. unterlassen wird, ist Raum für kriminalstrategisches Vorgehen (vgl. etwa KKStPO/Diemer, 7. Aufl., § 152 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl.,
  396. § 152 Rn. 6; SK-StPO/Wesslau/Deiters, 5. Aufl., Vor § 151 ff. Rn. 19).
  397. 32
  398. (2) Die Gefahr der bewussten Umgehung strafprozessualer Voraussetzungen
  399. bzw.
  400. der
  401. Aushöhlung
  402. von
  403. Beschuldigtenrechten
  404. (vgl.
  405. Meyer-
  406. Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 105 Rn. 16; MüKo-StPO/Hauschild, § 108
  407. Rn. 7; Müller/Römer, NStZ 2012, 543, 547) wird erst bedeutsam, wenn es um
  408. die Verwertbarkeit der präventiv-polizeilich gewonnenen Erkenntnisse im Strafverfahren geht (dazu unten II.1.d) und rechtfertigt nicht die Annahme eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorrangs des Strafprozessrechts vor dem Gefahrenabwehrrecht.
  409. 33
  410. (3) Dieser Auffassung steht Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofs nicht entgegen.
  411. - 18 -
  412. 34
  413. (a) Der Entscheidung des 1. Strafsenats zum Lockspitzeleinsatz (BGH,
  414. Urteil vom 18. November 1999 – 1 StR 221/99, BGHSt 45, 321, 337 f.), wonach
  415. präventive Vorschriften in der dort vorliegenden Konstellation nicht anzuwenden
  416. waren, lag zugrunde, dass das Ziel des Einsatzes der Vertrauensperson als
  417. Lockspitzel von vornherein ausschließlich repressiver Natur war. Danach kann
  418. eine Behörde, die mit ihrem Handeln allein repressive Ziele verfolgt, ihre Maßnahmen nicht auf Normen der Gefahrenabwehr stützen (so auch Nowrousian,
  419. Kriminalistik 2013, 105, 106 f.). Zu einem allgemeinen Vorrang der Strafprozessordnung gegenüber der Gefahrenabwehr bei echten doppelfunktionalen
  420. Maßnahmen verhält sich die Entscheidung nicht.
  421. 35
  422. (b) Ebensowenig ist in Entscheidungen des 4. und des 5. Strafsenats zu
  423. einer polizeirechtlichen Zollkontrolle bei der Durchsuchung von Gepäck eines
  424. Beschuldigten am Flughafen (BGH, Beschluss vom 21. Juli 2011 – 5 StR 32/11,
  425. StraFo 2011, 358, 359) bzw. einer durch die Polizei vorgetäuschten „allgemeinen“ Verkehrskontrolle, nachdem die Polizei zuvor Luft aus dem Reifen des
  426. Täterfahrzeugs
  427. gelassen
  428. hatte
  429. (BGH,
  430. Urteil
  431. vom
  432. 11. Februar
  433. 2010
  434. – 4 StR 436/09, NStZ 2010, 294), ein Vorrang der Strafprozessordnung gegenüber dem Polizeirecht postuliert worden. Vielmehr sind – jeweils nicht tragend –
  435. die Rechtsgrundlage der Verwendung präventiv-polizeilich gewonnener Daten
  436. im Strafverfahren (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juli 2011 – 5 StR 32/11,
  437. StraFo 2011, 358, 359) bzw. das Erfordernis der Aktenwahrheit unter dem Gesichtspunkt der Darstellung eines unwahren Sachverhalts in der Ermittlungsakte
  438. erörtert worden (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2010 – 4 StR 436/09, NStZ
  439. 2010, 294), wobei wohl auch der 4. Strafsenat davon ausgeht, dass bei einer
  440. legendierten Kontrolle sichergestellte Betäubungsmittel grundsätzlich zu Beweiszwecken verwertbar sind.
  441. - 19 -
  442. (c) Der 3. Strafsenat (BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2015 – 3 StR
  443. 36
  444. 406/15, NStZ-RR 2016, 176; kritisch Mosbacher, JuS 2016, 706, 708) geht
  445. ausdrücklich von einem möglichen Nebeneinander von Strafprozessrecht und
  446. Gefahrenabwehrrecht aus. Besteht bei einer Verkehrskontrolle wegen wahrgenommenen Cannabisgeruchs der auf Tatsachen basierende Verdacht, dass
  447. sich in dem Fahrzeug oder bei den im Wagen befindlichen Personen Betäubungsmittel befinden, so ist die Durchsuchung gefahrenabwehrrechtlich zulässig und die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind gemäß § 161 Abs. 2 StPO
  448. verwertbar.
  449. 37
  450. d) Die aufgrund der gefahrenabwehrrechtlich zulässigen Fahrzeugdurchsuchung gewonnenen Erkenntnisse konnten im vorliegenden Fall nach § 161
  451. Abs. 2 Satz 1 StPO gegen den Angeklagten im Strafverfahren verwendet werden.
  452. 38
  453. aa) Die Vorschrift regelt die Verwendung von Daten im Strafverfahren,
  454. die durch andere – nichtstrafprozessuale – hoheitliche Maßnahmen erlangt
  455. wurden. § 161 Abs. 2 StPO (sowie weitere Verwendungsregelungen, vgl. § 477
  456. Abs. 2 StPO) wurde mit dem „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen […]“ vom
  457. 21. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3198) in die Strafprozessordnung eingefügt. Der
  458. Bundesgesetzgeber wollte damit unter anderem die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Datenverwendung umsetzen. Er hat daher die „Umwidmung“ und die Verwendung der durch verdeckte Ermittlungsmaßnahmen auf
  459. anderer – insbesondere präventiv-polizeilicher – Rechtsgrundlage erlangter Daten als Beweismittel in Strafverfahren in § 161 Abs. 2 StPO gesetzlich geregelt
  460. (BT-Drucks. 16/5846, S. 3, 64). Gedanklicher Anknüpfungspunkt des § 161
  461. Abs. 2 StPO ist die Idee des hypothetischen Ersatzeingriffs (BT-Drucks.
  462. 16/5846, S. 64) als genereller Maßstab für die Verwendung von personenbezo-
  463. - 20 -
  464. genen Informationen zu Zwecken des Strafverfahrens, die nicht auf strafprozessualer Grundlage erlangt worden sind (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO,
  465. 60. Aufl., § 161 Rn. 18b; HK-StPO/Zöller, 5. Aufl., § 161 Rn. 31; BT-Drucks.
  466. 16/5846, S. 64). Mit Blick auf das Prinzip des hypothetischen Ersatzeingriffs hat
  467. sich der Gesetzgeber in Kenntnis der unterschiedlichen formellen Voraussetzungen gesetzlicher Ermächtigungsgrundlagen für eine Lösung nach rein materiellen Gesichtspunkten entschieden. Damit kommt es bei der „Umwidmung“
  468. von auf präventiv-polizeilicher Rechtsgrundlage erlangter Daten nach § 161
  469. Abs. 2 Satz 1 StPO gerade nicht darauf an, ob die formellen Anordnungsvoraussetzungen nach der Strafprozessordnung, wie hier etwa das Vorliegen einer richterlichen Durchsuchungsanordnung, gewahrt worden sind (vgl. SSWStPO/Ziegler/Vordermayer, 2. Aufl., § 161 Rn. 27; HK-StPO/Zöller, 5. Aufl.,
  470. § 161 Rn. 31). Vielmehr setzt die Datenverwendung nach § 161 Abs. 2 Satz 1
  471. StPO grundsätzlich nur voraus, dass die zu verwendenden Daten polizeirechtlich rechtmäßig erhoben wurden (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2015
  472. – 3 StR 406/15, NStZ-RR 2016, 176; Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR
  473. 552/08, BGHSt 54, 69, 79 mwN; so wohl auch BGH, Beschluss vom
  474. 5. November 2013 – 5 StR 173/13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl.,
  475. § 161 Rn. 18b, c), sie zur Aufklärung einer Straftat dienen, aufgrund derer eine
  476. solche Maßnahme nach der Strafprozessordnung hätte angeordnet werden dürfen, und dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine entsprechende
  477. Beweisgewinnung gemäß der Strafprozessordnung vorgelegen haben. Die
  478. mögliche Gefahr der Umgehung der engeren formellen Voraussetzungen der
  479. strafprozessualen Eingriffsnorm hat der Gesetzgeber gesehen, aber ersichtlich
  480. hingenommen (vgl. BR-Drucks. 275/07, S. 148).
  481. 39
  482. bb) Diese Voraussetzungen des § 161 Abs. 2 Satz 1 StPO sind vorliegend gegeben. Die Erkenntnisse aus der Fahrzeugdurchsuchung dienten zur
  483. Aufklärung einer „schweren Straftat“ im Sinne des § 100a Abs. 2 Nr. 7 StPO,
  484. - 21 -
  485. aufgrund derer eine Durchsuchung nach der Strafprozessordnung ohne weiteres hätte angeordnet werden dürfen.
  486. 40
  487. Dem steht nicht entgegen, dass die gefahrenabwehrrechtliche Durchsuchung des Kraftfahrzeugs nach § 37 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 HSOG (i.V.m. § 36
  488. Abs. 1 Nr. 1 HSOG bzw. § 40 Nr. 1 und 4 HSOG) – anders als bei einer Durchsuchung nach §§ 102, 105 StPO – grundsätzlich auch ohne richterlichen
  489. Durchsuchungsbeschluss zulässig ist. Entscheidend ist, dass ein Ermittlungsrichter bei hypothetischer Betrachtung einen entsprechenden richterlichen
  490. Durchsuchungsbeschluss auf strafprozessualer Grundlage zweifelsfrei erlassen
  491. hätte.
  492. 41
  493. Eine – den Rückgriff auf hypothetische Erwägungen hindernde – rechtsmissbräuchliche Umgehung der Anordnungsvoraussetzungen der strafprozessualen Eingriffsmaßnahme durch die Wahl der Maßnahme (vgl. BGH, Urteil
  494. vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69, 89 f. mwN) ist hier nicht
  495. ersichtlich. Eine solche Umgehung läge etwa vor, wenn Gefahrenabwehrrecht
  496. zur Legitimierung einer in Wahrheit bezweckten Strafverfolgungsmaßnahme
  497. vorgeschoben wird, weil in Wirklichkeit keine Gefahrenabwehr bezweckt wird.
  498. Entsprechendes gilt, wenn eine gefahrenabwehrrechtliche Maßnahme nur deshalb gewählt wird, weil eine vergleichbare Maßnahme nach der Strafprozessordnung nicht möglich wäre, z.B. weil die Annahme bestanden hätte, dass ein
  499. Ermittlungsrichter einen nach der Strafprozessordnung erforderlichen Beschluss aus einem anderen Grund nicht erlassen hätte.
  500. 42
  501. So verhielt es sich hier indes nicht: An einer jedenfalls auch präventiven
  502. Zwecksetzung der Maßnahme durch die Polizeibeamten besteht bei der Suche
  503. nach mitgeführten gefährlichen Gegenständen (wie Betäubungsmittel, Waffen,
  504. Sprengstoff) kein Zweifel (anders etwa, wenn die Durchsuchung ausschließlich
  505. - 22 -
  506. der Beweissicherung dient, z.B. bei der Suche nach der „verschrifteten Buchführung“ des Betäubungsmittel-Händlers). Aus gefahrenabwehrrechtlicher Sicht
  507. durfte die Polizei eingreifen, weil anderenfalls eine große Menge gefährlicher
  508. Betäubungsmittel in Umlauf zu gelangen drohte. Angesichts der Erkenntnisse
  509. aus der Telefonüberwachung und der Observation sowie des sich daraus ergebenden Verdachts eines schwerwiegenden Betäubungsmitteldelikts hätte ein
  510. richterlicher Durchsuchungsbeschluss gegen den Angeklagten auch ohne weiteres erwirkt werden können. Vom Einsatz strafprozessualer Maßnahmen wurde allein deshalb abgesehen, um die gegen den gesondert Verfolgten B.
  511. laufenden Ermittlungen nicht zu offenbaren, wodurch dessen Ergreifung vereitelt worden wäre. Eine staatliche Pflicht, gegenüber dem Angeklagten strafprozessual tätig zu werden, und ihm gegenüber damit zwangsläufig sämtliche Ermittlungsergebnisse zu offenbaren, bestand aus rechtlichen Gründen zu diesem
  512. Zeitpunkt nicht (vgl. dazu unten II.3. und 4.).
  513. 43
  514. 2. Ohne Erfolg bleibt auch die Verfahrensbeanstandung, das Landgericht
  515. habe die Aussage des Zeugen KOK Z.
  516. über die teilgeständige Einlassung des
  517. Angeklagten bei seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung am 17. August
  518. 2015 wegen eines Verstoßes gegen § 163a Abs. 4 Satz 2 StPO i.V.m. § 136
  519. Abs. 1 Satz 2 StPO zu Unrecht verwertet.
  520. 44
  521. a) Nach den Feststellungen belehrte der Zeuge KOK Z.
  522. den Angeklag-
  523. ten als Beschuldigten, „ohne auf das Verfahren in Frankfurt und die bereits seit
  524. längerem laufenden Ermittlungen hinzuweisen“.
  525. 45
  526. Die Revision ist der Auffassung, die Beschuldigtenbelehrung habe nicht
  527. den Anforderungen des § 163a Abs. 4 Satz 2 StPO i.V.m. § 136 Abs. 1 Satz 2
  528. StPO entsprochen. Zum einen hätte der Angeklagte auf das schon länger dauernde Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main gegen
  529. - 23 -
  530. ihn und den gesondert Verfolgten B.
  531. und die sich daraus ergebenden
  532. Verdachtsmomente hingewiesen werden müssen. Zum anderen müsse die Belehrung über den Tatvorwurf auch unvollständig gewesen sein, insbesondere
  533. hätte dem Angeklagten der Tatvorwurf der Einfuhr von Betäubungsmitteln in
  534. nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in
  535. nicht geringer Menge eröffnet werden müssen.
  536. 46
  537. b) Ungeachtet einer etwaigen Unzulässigkeit der Rüge – die Revision
  538. teilt den genauen Inhalt der Belehrung nicht mit und verschweigt im Übrigen,
  539. dass der Belehrung durch KOK Z.
  540. PK Mo.
  541. bereits eine Beschuldigtenbelehrung durch
  542. unmittelbar nach dem Auffinden des Kokains im Fahrzeug vorausge-
  543. gangen war – hätte die Rüge auch in der Sache keinen Erfolg.
  544. 47
  545. aa) Nach § 163a Abs. 4 Satz 1 StPO ist dem Beschuldigten bei seiner
  546. ersten Vernehmung durch Beamte des Polizeidienstes zu eröffnen, welche Tat
  547. ihm zur Last gelegt wird. Grundsätzlich gelten für die Belehrung eines Beschuldigten dieselben Regeln, gleichgültig ob er von einem Richter (§ 136 StPO),
  548. einem Staatsanwalt (§ 163a Abs. 3 Satz 2 StPO) oder von einem Polizeibeamten vernommen wird (§ 163a Abs. 4 StPO). Eine Ausnahme gilt nach § 163a
  549. Abs. 4 Satz 1 StPO lediglich insoweit, als ein Polizeibeamter, anders als ein
  550. Richter oder Staatsanwalt, nicht verpflichtet ist, die möglichen Strafvorschriften
  551. zu nennen (vgl. BGH, Beschluss vom 6. März 2012 – 1 StR 623/11, NStZ 2012,
  552. 581, 582; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 163a Rn. 4). Der Tatvorwurf muss dem Beschuldigten in groben Zügen so weit erläutert werden, dass
  553. er sich sachgerecht verteidigen kann, jedoch nicht so weit, dass die Aufklärung
  554. des Sachverhalts und damit die Effektivität der Strafverfolgung darunter leiden
  555. (KK-StPO/Diemer, 7. Aufl., § 136 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl.,
  556. § 136 Rn. 6; SK-StPO/Rogall, 5. Aufl., § 136 Rn. 69 mwN.). So ist der Vernehmende nicht verpflichtet, dem Beschuldigten alle bis dahin bereits bekannten
  557. - 24 -
  558. Tatumstände mitzuteilen; insbesondere hat der Vernehmende hinsichtlich der
  559. Ausgestaltung der Eröffnung im Einzelnen einen gewissen Beurteilungsspielraum (BGH, Beschluss vom 6. März 2012 – 1 StR 623/11, NStZ 2012, 581,
  560. 582; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO; KK-StPO/Diemer, aaO; SSW-StPO/Ziegler/
  561. Vordermayer, 2. Aufl., § 163a Rn. 25; MüKo-StPO/Schuhr, § 136 Rn. 21). Dies
  562. ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, wonach die Tat und nicht
  563. die Beweismittel zu eröffnen sind sowie aus § 147 Abs. 2 StPO, wonach Akteneinsicht versagt werden kann, soweit dies den Untersuchungszweck gefährdet
  564. (vgl. SK-StPO/Rogall, 5. Aufl., § 136 Rn. 69 mwN).
  565. 48
  566. bb) Nach diesen Maßstäben musste der Polizeibeamte nicht sämtliche
  567. Ermittlungsergebnisse aus der Telefonüberwachung und der Observation offenbaren. Eine Belehrung über die Genese des Tatverdachts zu diesem frühen
  568. Zeitpunkt war vor dem Hintergrund der laufenden verdeckten Ermittlungsmaßnahmen gegen den in Marokko befindlichen Hintermann B.
  569. aus ermitt-
  570. lungstaktischen Gründen nicht erforderlich.
  571. 49
  572. Fraglich ist jedoch, ob KOK Z.
  573. – sollte er die Hintergründe der Fahr-
  574. zeugkontrolle überhaupt gekannt haben – den ihm als Vernehmenden zustehenden Beurteilungsspielraum überschritten hätte, wenn er dem Beschuldigten den Tatverdacht hinsichtlich der Einfuhr des sichergestellten Kokains verschwiegen hätte. Zwar kann bei mehreren Taten die Vernehmung zunächst auf
  575. nur eine Tat beschränkt werden, sofern insoweit eine Trennung sachlich möglich ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 136 Rn. 6; KK-StPO/Diemer,
  576. 7. Aufl., § 136 Rn. 8; aA Löwe-Rosenberg/Gleß, StPO, 26. Aufl., § 136
  577. Rn. 24 f.). Ob das auch gilt, wenn zwei Betäubungsmittelstraftaten – wie Einfuhr
  578. und Handeltreiben – tateinheitlich begangen werden, ist zweifelhaft, kann hier
  579. aber dahinstehen. Der Senat muss ebenfalls nicht entscheiden, ob die
  580. – möglicherweise unzulängliche – Belehrung überhaupt das Aussageverhalten
  581. - 25 -
  582. des Beschuldigten beeinflusst hat und damit ein Verwertungsverbot begründen
  583. könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 6. März 2012 – 1 StR 623/11, NStZ 2012,
  584. 581, 582), zumal der noch mehrere Wochen vor Anklageerhebung umfassend
  585. über den Tatvorwurf unterrichtete Beschuldigte in der Hauptverhandlung von
  586. seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat. Jedenfalls ist auszuschließen,
  587. dass das Urteil auf einem etwaigen Verstoß gegen Belehrungsvorschriften beruht. Die knappe Einlassung des Beschuldigten gegenüber KOK Z. , es handele sich bei dem aufgefundenen Kokain um 6,5 kg, war für die Strafkammer
  588. ausweislich der Urteilsgründe nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Vielmehr hat sie ihre Überzeugung von der Einfuhr und dem täterschaftlichen Handeltreiben mit 8 kg Kokain aufgrund der Inhalte der Telefonüberwachung und
  589. der Observationsmaßnahmen sowie aufgrund der Sicherstellung der Betäubungsmittel gewonnen.
  590. 50
  591. 3. Das vom Beschwerdeführer geltend gemachte Beweisverwertungsverbot ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen
  592. das faire Verfahren.
  593. 51
  594. Auch Verstöße gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens müssen mit
  595. einer Verfahrensrüge geltend gemacht werden (BGH, Urteil vom 11. Februar
  596. 2010 – 4 StR 436/09, NStZ 2010, 294; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl.,
  597. Art. 6 MRK Rn. 5a; KK-StPO/Schädler/Jakobs, 7. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 35). Eine zulässige Verfahrensrüge ist insoweit nicht erhoben. Die Revision greift die
  598. Verwertung von Beweismitteln ausschließlich mit der Begründung an, die Polizeibeamten hätten gegen den Richtervorbehalt gemäß § 105 StPO verstoßen
  599. und bei der ersten polizeilichen Beschuldigtenvernehmung Belehrungspflichten
  600. verletzt. Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren werden damit nicht
  601. geltend gemacht.
  602. - 26 -
  603. 52
  604. 4. In der Sache merkt der Senat an:
  605. 53
  606. a) Das Verhalten der Ermittlungsbehörde, die in Frankfurt geführten Hintergrundermittlungen gegen den Angeklagten zunächst nicht aktenkundig zu
  607. machen und damit dem Ermittlungsrichter in Limburg einen unvollständigen
  608. Sachverhalt zu unterbreiten, ist im Hinblick auf den Fair-trial-Grundsatz und das
  609. Gebot der Aktenwahrheit und der Aktenvollständigkeit nicht unbedenklich.
  610. Grundsätzlich muss sich aus den Akten ergeben, welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt worden sind und welchen Erfolg sie gehabt haben. Zwar besteht bei Gefährdung des Untersuchungszwecks unter anderem
  611. nach § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO die Möglichkeit, dem Verteidiger vor Abschluss
  612. der Ermittlungen die Einsicht in die Akten insgesamt oder teilweise zu versagen. Auch die Unterrichtung über die durchgeführte Observation konnte aus
  613. diesem Grund bis zu zwölf Monate ohne richterliche Zustimmung zurückgestellt
  614. werden (vgl. § 101 Abs. 4 Satz 1 Nr. 11, Abs. 5, Abs. 6 Satz 1 StPO). Jedoch
  615. muss das im Vorverfahren tätige Gericht – hier der Ermittlungsrichter in Limburg – den Gang des Verfahrens ohne Abstriche nachvollziehen können, denn
  616. es muss in einem rechtsstaatlichen Verfahren schon der bloße Anschein vermieden werden, die Ermittlungsbehörden wollten etwas verbergen (BVerfG,
  617. Beschluss vom 14. Juli 2016 – 2 BvR 2474/14, StV 2017, 361, 362 f.). Eine etwaige Aktenunvollständigkeit hat die Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens zu vertreten. Sie hat für ein justizförmiges Verfahren – auch
  618. durch ihre Ermittlungspersonen – zu sorgen. Sie trägt die Grundverantwortung
  619. für die rechtlich einwandfreie Beschaffung der Beweismittel (BVerfG, Beschluss
  620. vom 14. Juli 2016 – 2 BvR 2474/14, aaO). Das wiederum setzt – wie hier geschehen – eine umfassende und vollständige Information der ermittelnden
  621. Staatsanwaltschaft durch die Polizei voraus. Zwar entscheidet die Polizei
  622. grundsätzlich in eigener Verantwortung, ob sie auf präventiver Grundlage tätig
  623. wird. Ob und in welcher Weise dabei angefallene Erkenntnisse als Beweismittel
  624. - 27 -
  625. in das Strafverfahren eingeführt werden, obliegt jedoch einzig der Entscheidung
  626. der Staatsanwaltschaft, die deshalb über etwaige Hintergründe von polizeilichen Ermittlungen bzw. präventiver Maßnahmen nicht im Unklaren gelassen
  627. werden darf. Nur dann ist ein faires rechtsstaatliches Verfahren gewährleistet.
  628. 54
  629. b) Welche Konsequenzen sich aus einem Verstoß gegen die vorskizzierten Maßstäbe ergeben würden, ist abhängig von den Umständen des Einzelfalls.
  630. 55
  631. Hier sind die Erkenntnisse der Kriminalpolizei Frankfurt am Main zu den
  632. Observations- und Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen mehrere
  633. Wochen vor Anklageerhebung zur Akte gelangt und der Verteidigung unverzüglich durch die Staatsanwaltschaft übermittelt worden. Damit war dem Angeklagten die Möglichkeit eröffnet, sich in Kenntnis aller ihn belastenden Umstände
  634. durch rechtzeitige Benennung seiner Mittäter und umfassende Aufdeckung der
  635. Tat gemäß § 31 BtMG die Stellung eines Kronzeugen zu verschaffen. Auch
  636. konnte die Strafkammer – wie hier geschehen – den Umstand, dass es sich um
  637. ein observiertes Betäubungsmittelgeschäft gehandelt hatte, bei ihrer Strafzumessungsentscheidung berücksichtigen (vgl. Senat, Beschluss vom 24. Januar
  638. 2017 – 2 StR 477/16). Die Verteidigungsrechte des Angeklagten in der Hauptverhandlung waren damit in keiner Weise berührt (vgl. BGH, Urteil vom
  639. 11. Februar 2010 – 4 StR 436/09, NStZ 2010, 294, sowie Müller/Römer, NStZ
  640. 2012, 543, 545).
  641. - 28 -
  642. III.
  643. 56
  644. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils
  645. hat keinen Rechtsfehler zu Ungunsten des Angeklagten ergeben.
  646. Appl
  647. Krehl
  648. Zeng
  649. Eschelbach
  650. Grube