Search on legal documents using Tensorflow and a web_actix web interface
You can not select more than 25 topics Topics must start with a letter or number, can include dashes ('-') and can be up to 35 characters long.

312 lines
13 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 2 StR 188/17
  5. vom
  6. 13. September 2017
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen unterlassener Hilfeleistung
  10. ECLI:DE:BGH:2017:130917U2STR188.17.0
  11. -2-
  12. Der
  13. 2. Strafsenat
  14. des
  15. Bundesgerichtshofs
  16. hat
  17. 13. September 2017, an der teilgenommen haben:
  18. Richter am Bundesgerichtshof
  19. Dr. Appl
  20. als Vorsitzender,
  21. die Richter am Bundesgerichtshof
  22. Prof. Dr. Krehl,
  23. Zeng,
  24. Dr. Grube,
  25. Schmidt,
  26. Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
  27. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  28. Rechtsanwalt
  29. als Verteidiger,
  30. Justizangestellte
  31. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  32. für Recht erkannt:
  33. in
  34. der
  35. Sitzung
  36. vom
  37. -3-
  38. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 19. Dezember 2016 wird verworfen.
  39. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem
  40. Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu
  41. tragen.
  42. Von Rechts wegen
  43. Gründe:
  44. I.
  45. 1
  46. Das Landgericht hatte den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen
  47. Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Nach Aufhebung dieses Urteils aufgrund einer Revision des Angeklagten
  48. hat es diesen nunmehr wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die zuungunsten des
  49. Angeklagten eingelegte und auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
  50. 2
  51. 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts trafen der Angeklagte und
  52. der Geschädigte, die beide in ihrer Freizeit der Jagd nachgingen, in den frühen
  53. Abendstunden des 23. Oktober 2012 auf einem Feldweg aufeinander. Der
  54. -4-
  55. Angeklagte, der sich in einer depressiven Phase befand und alkoholisiert war,
  56. saß, nachdem er in suizidaler Absicht unter Mitführung einer mit sieben
  57. Patronen geladenen halbautomatischen Pistole Kal. 9 mm in den Wald gegangen war, auf einem Feldweg und schlief, was den später getöteten
  58. H.
  59. , der gerade von der Jagd zurückkam, an der Weiterfahrt hinderte.
  60. Dieser weckte den Angeklagten mit einem Tritt und forderte ihn mit unfreundlichen Worten auf, sich zu entfernen. Der darüber verärgerte Angeklagte trat
  61. daraufhin dem Geschädigten in das Gesäß und beschimpfte ihn. H.
  62. ,
  63. nun seinerseits erbost, rief „Na warte du mal“ und schickte sich an, seine auf
  64. der Rücksitzbank liegende Jagdflinte aus dem Inneren des Fahrzeugs zu holen.
  65. Die Flinte war zwar nicht geladen, konnte aber vom Geschädigten durch
  66. Einlegen der von ihm in seiner Jackentasche mitgeführten Munition jederzeit in
  67. einen schussbereiten Zustand gebracht werden.
  68. 3
  69. Der Angeklagte, der Angst vor einem Angriff hatte, folgte H.
  70. und
  71. sprühte ihm aus einer Entfernung von etwa einem Meter Pfefferspray ins
  72. Gesicht. Dieser zeigte sich jedoch unbeeindruckt, ergriff die Jagdflinte und
  73. drehte sich – das Gewehr in Hüfthöhe haltend – in Richtung des Angeklagten.
  74. Aus Angst vor einem Angriff schoss der Angeklagte nun zwei Mal aus einer Entfernung von etwa vier Metern in Richtung des Geschädigten, wobei er ihn mit
  75. einem Schuss am Oberarm traf. H.
  76. hantierte gleichwohl weiter an
  77. seiner doppelläufigen Flinte, um sie zu laden und schussbereit zu machen. Der
  78. Angeklagte gab nunmehr einen Warnschuss in die Luft ab, ohne dass der
  79. Geschädigte hierauf eine Reaktion zeigte. Er war nun „kurz vor dem Durchdrehen“ und wusste nicht mehr, was er noch machen sollte. Da er befürchtete,
  80. dass es dem weiter an der Flinte hantierenden H.
  81. alsbald gelänge, die
  82. Waffe zu laden und schussfertig zu machen, gab er nunmehr einen gezielten
  83. Schuss auf den Oberkörper des Geschädigten ab. Obwohl in der Brust getroffen, zeigte sich dieser immer noch unbeeindruckt, weshalb der Angeklagte auch
  84. -5-
  85. noch in dessen Bein schoss. Nunmehr hielt H.
  86. infolge der Trefferwir-
  87. kung inne und ließ das Gewehr sinken. Der Angeklagte, der erkannte, dass der
  88. Geschädigte infolge der Schüsse handlungsunfähig war, nahm diesem das
  89. Gewehr ab und entfernte sich, ohne Hilfe zu leisten oder Hilfskräfte zu verständigen. H.
  90. verstarb an den Folgen der Rumpfverletzung; bei zeitnaher
  91. medizinischer Versorgung hätte er gerettet werden können.
  92. 4
  93. Sachverständig beraten ist das Landgericht zum Ergebnis gekommen,
  94. dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt uneingeschränkt schuldfähig war.
  95. 5
  96. 2. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als unterlassene
  97. Hilfeleistung gewürdigt. Es ist davon ausgegangen, dass die Schussabgabe
  98. durch den Angeklagten wegen Notwehr gerechtfertigt, insbesondere die in einer
  99. Notwehrlage vorgenommene Notwehrhandlung auch erforderlich gewesen sei.
  100. Im Übrigen habe der Angeklagte auch nach § 33 StGB schuldlos gehandelt, da
  101. er „vor der Abgabe des letztlich tödlichen Rumpfschusses der Situation nicht
  102. mehr psychisch gewachsen“ gewesen sei.
  103. II.
  104. 6
  105. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.
  106. 7
  107. Die Verurteilung des Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung
  108. lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Die Erwägungen des Landgerichts, dass
  109. sich der Angeklagte keines Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts schuldig
  110. gemacht habe, halten sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand.
  111. 8
  112. 1. Die Annahme der Strafkammer, dass bei sämtlichen Schüssen eine
  113. Notwehrlage vorgelegen habe, ist frei von Rechtsfehlern.
  114. -6-
  115. 9
  116. a) Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn das Verhalten des Angreifers unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen kann, so dass durch das Hinausschieben einer Abwehrhandlung entweder deren Erfolg in Frage gestellt
  117. wäre oder der Verteidiger das Wagnis erheblicher eigener Verletzungen auf
  118. sich nehmen müsste (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 26. August 1987 – 3 StR
  119. 303/87, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 1; Urteil vom 31. Januar 2007 – 5 StR
  120. 404/06, BeckRS 2007, 03210 Rn. 16). Der Angriff beginnt, wenn der Angreifer
  121. unmittelbar zu diesem ansetzt, also mit einem Verhalten, das unmittelbar in die
  122. eigentliche Verletzungshandlung umschlagen soll; bei einem vorsätzlichen
  123. Angriff ist dies die Handlung, die dem Versuchsbeginn unmittelbar vorgelagert
  124. ist (Schönke/Schröder/Perron, StGB, 29. Aufl., § 32 Rn. 14 mwN). Entscheidend für die Beurteilung ist dabei die objektive Sachlage, nicht die Befürchtungen des Angegriffenen (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2017 – 1 StR 486/16,
  125. juris Rn. 28 mwN).
  126. 10
  127. b) Nach diesen Grundsätzen steht der Umstand, dass die Flinte des
  128. Geschädigten ungeladen war, der Annahme eines gegenwärtigen Angriffs nicht
  129. entgegen. Ausweislich der Urteilsfeststellungen hatte dieser die Waffe ergriffen
  130. und hantierte daran, um auf den Angeklagten zu schießen (UA S. 7 f.), wobei
  131. die Schussbereitschaft innerhalb weniger Sekunden hätte hergestellt werden
  132. können (UA S. 6). Angesichts dieser kurzen Zeitspanne lag trotz der noch notwendigen Zwischenschritte eine schon unmittelbare und akute Bedrohung des
  133. Angeklagten vor.
  134. 11
  135. 2. Auch die Annahme des Landgerichts, die Verteidigungshandlungen
  136. des Angeklagten seien erforderlich gewesen, ist frei von Rechtsfehlern.
  137. -7-
  138. 12
  139. a) Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gemäß § 32 Abs. 2 StGB
  140. gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des
  141. Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das
  142. dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht (vgl. BGH,
  143. Beschluss vom 22. Juni 2016 – 5 StR 138/16, NStZ 2016, 593, 594). Ob dies
  144. der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden.
  145. Danach kann auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende
  146. Einsatz einer Waffe durch Notwehr gerechtfertigt sein. Der Angegriffene muss
  147. auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren
  148. Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der
  149. Lage zur Verfügung steht. Die mildere Einsatzform muss im konkreten Fall eine
  150. so hohe Erfolgsaussicht haben, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann. Angesichts der geringen Kalkulierbarkeit des
  151. Fehlschlagrisikos dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende
  152. Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung
  153. keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Können keine sicheren
  154. Feststellungen zu Einzelheiten des Geschehens getroffen werden, darf sich
  155. dies nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken (BGH, Beschluss vom 22. Juni
  156. 2016 – 5 StR 138/16, aaO).
  157. 13
  158. Diese Grundsätze hat die Rechtsprechung für den lebensgefährlichen
  159. Einsatz einer Schusswaffe in Notwehrsituationen dahin konkretisiert, dass ein
  160. solcher zwar nicht von vornherein unzulässig ist, aber nur das letzte Mittel der
  161. Verteidigung sein kann. In der Regel ist der Angegriffene gehalten, den
  162. Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen. Reicht dies nicht aus, so muss er,
  163. wenn möglich, vor dem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen. In Frage kommen ungezielte Warnschüsse oder, wenn
  164. -8-
  165. diese nicht ausreichen, Schüsse in die Beine, um den Angreifer kampfunfähig
  166. zu machen, also solche Abwehrmittel, die einerseits für die Wirkung der Abwehr
  167. nicht zweifelhaft sind und andererseits die Intensität und Gefährlichkeit des
  168. Angriffs nicht unnötig überbieten (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juli 2015
  169. – 3 StR 84/15, juris Rn. 7 mwN). Dabei wird der Rahmen der erforderlichen
  170. Verteidigung durch die Stärke und die Gefährlichkeit des Angreifers und durch
  171. die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen bestimmt (BGH, Beschluss
  172. vom 21. Juli 2015 – 3 StR 84/15, aaO).
  173. 14
  174. b) Daran gemessen ist die Würdigung des Landgerichts, der Angeklagte
  175. habe angesichts der zum Zeitpunkt der ersten beiden Schüsse festgestellten
  176. „konkreten Kampflage“ auf den Geschädigten schießen dürfen, ohne Rechtsfehler.
  177. 15
  178. Vor den beiden auf die Schulter des Geschädigten zielenden Schüssen
  179. hatte der Angeklagte nach den Feststellungen ohne Erfolg aus etwa einem
  180. Meter Entfernung Pfefferspray eingesetzt. Danach hatte sich der Geschädigte
  181. mit dem in Hüfthöhe gehaltenen Gewehr zum Angeklagten gedreht, der erkannte, dass es sich um eine doppelläufige Flinte handelte. Der Abstand zwischen
  182. dem Angeklagten und dem Geschädigten betrug zu diesem Zeitpunkt „allenfalls
  183. vier Meter“ (UA S. 7). Angesichts seiner begründeten Befürchtung, der
  184. Geschädigte werde auf ihn schießen, blieb dem Angeklagten keine Zeit zur
  185. ausreichenden Abschätzung des schwer kalkulierbaren Risikos. Bei dieser
  186. zugespitzten Situation der unmittelbar gegen ihn gerichteten Waffe ist nicht
  187. ersichtlich, dass die Abgabe eines Warnschusses die Beendigung des Angriffs
  188. hätte erwarten lassen (vgl. Senat, Urteil vom 2. November 2011 – 2 StR 375/11,
  189. NStZ 2012, 272, 274). Vielmehr bot nur die sofortige Schussabgabe durch den
  190. Angeklagten die sichere Gewähr, einen potenziell tödlichen Schuss des
  191. Geschädigten zu unterbinden. Unter diesen Umständen ist es aus Rechtsgrün-
  192. -9-
  193. den nicht zu beanstanden, dass das Landgericht zu der Auffassung gelangt ist,
  194. dem Angeklagten hätten in der konkreten Situation zur Abwehr der drohenden
  195. Gefahr weniger gefährliche, aber gleichermaßen zuverlässige Verteidigungsmittel nicht zur Verfügung gestanden.
  196. 16
  197. c) Im Hinblick auf das sich in der Folge weiter zuspitzende Geschehen ist
  198. auch die Wertung der Strafkammer, der letztlich todesursächliche vierte Schuss
  199. auf den Rumpf des Geschädigten sei erforderlich gewesen, rechtlich nicht zu
  200. beanstanden. Wie der Umstand zeigt, dass der Geschädigte erst infolge des
  201. danach abgegebenen Beinschusses das Gewehr senkte, war selbst der vierte
  202. Schuss zunächst noch nicht ausreichend, den Angriff sofort und endgültig zu
  203. beenden.
  204. 17
  205. Darüber hinaus lässt die zusätzliche Erwägung des Landgerichts, der
  206. Angeklagte sei jedenfalls nach § 33 StGB entschuldigt, keinen Rechtsfehler
  207. erkennen. Die sachverständig beratene Strafkammer hat die Annahme einer
  208. auf Furcht und Schrecken beruhenden asthenischen Affektlage des Angeklagten rechtsfehlerfrei auf dessen Einlassung, er sei vor der Schussabgabe „kurz
  209. vor dem Durchdrehen“ gewesen, seine mit der Erfolglosigkeit der vorangegangenen Abwehrversuche verbundene Ratlosigkeit sowie auf eine ohnehin bestehende psychische Ausnahmesituation zur Tatzeit gestützt (UA S. 37 f.). Da die
  210. Anwendung von § 33 StGB nicht voraussetzt, dass die Einsichts- oder
  211. Steuerungsfähigkeit des Täters zugleich im Sinne des § 21 StGB erheblich
  212. vermindert ist (SK-StGB/Rogall, 9. Aufl., § 33 Rn. 18), steht diese Wertung des
  213. Landgerichts auch nicht in Widerspruch zu dessen Annahme, die Voraussetzungen des § 21 StGB hätten nicht vorgelegen.
  214. - 10 -
  215. 18
  216. 3. Eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Aussetzung gemäß § 221
  217. StGB besteht – wie das Landgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat –
  218. nicht. Zwar hat der Angeklagte den Geschädigten durch die Abgabe der Schüsse im Sinne des § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB in eine hilflose Lage versetzt; er war
  219. insoweit aber gerechtfertigt. Dadurch, dass der Angeklagte den tödlich getroffenen Geschädigten am Tatort zurückließ, hat er sich auch nicht nach § 221
  220. Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht, da keine Obhutspflicht bestand und
  221. – wegen der Rechtfertigung der Schüsse – durch die Verursachung der Verletzungen keine Garantenstellung begründet worden war.
  222. Appl
  223. Krehl
  224. Grube
  225. RiBGH Zeng ist
  226. wegen Urlaubs an
  227. der Unterschrift
  228. gehindert.
  229. Appl
  230. Schmidt