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237 lines
11 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 2 StR 170/14
  5. vom
  6. 10. Dezember 2014
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. wegen Diebstahls
  10. -2-
  11. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 10. Dezember
  12. 2014, an der teilgenommen haben:
  13. Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
  14. Prof. Dr. Fischer,
  15. die Richter am Bundesgerichtshof
  16. Dr. Appl,
  17. Dr. Eschelbach,
  18. die Richterin am Bundesgerichtshof
  19. Dr. Ott,
  20. der Richter am Bundesgerichtshof
  21. Zeng,
  22. Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof
  23. als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
  24. Rechtsanwalt
  25. als Pflichtverteidiger,
  26. Justizangestellte
  27. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
  28. für Recht erkannt:
  29. -3-
  30. 1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des
  31. Landgerichts Köln vom 10. Dezember 2013 wird verworfen.
  32. 2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die
  33. dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen.
  34. Von Rechts wegen
  35. Gründe:
  36. 1
  37. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen. Die hiergegen gerichtete und auf die Sachrüge gestützte Revision
  38. der Staatsanwaltschaft ist auf die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus beschränkt. Das - vom Generalbundesanwalt nicht vertretene - Rechtsmittel bleibt erfolglos.
  39. I.
  40. 2
  41. Das Landgericht hat im Wesentlichen die folgenden Feststellungen und
  42. Wertungen getroffen:
  43. 3
  44. 1. Der 36 Jahre alte Angeklagte leidet seit etwa 1996 an einer mittlerweile chronisch gewordenen schweren Psychose aus den schizophrenen Formen-
  45. -4-
  46. kreis gemäß ICD-10 F 20.0. Typische Symptome seiner Erkrankung sind ein
  47. paranoides Wahnerleben und Störungen der Impulskontrolle.
  48. 4
  49. a) Als Folge seines Wahnerlebens bedrohte er im Januar 2001 einen
  50. Mitbewohner im Obdachlosenheim mit dem Messer und trat im Februar 2001
  51. einer Frau in der Straßenbahn gegen den Oberschenkel. Am 3. November 2010
  52. wurde er wegen Raubs in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Dem lag zu Grunde, dass
  53. der Angeklagte im Sommer 2009 einer Frau unvermittelt eine Plastiktüte über
  54. den Kopf stülpte, ihr mit einer Hand den Mund zuhielt und mit der anderen die
  55. Schulter umklammerte. Nach einem Gerangel, bei dem beide einen Abhang
  56. hinunter stürzten, gelang es dem Angeklagten, wie von vornherein beabsichtigt,
  57. der Geschädigten die Tasche zu entreißen. Zwar konnte die gutachterlich beratene Strafkammer keine Anhaltspunkte für eine akute schizophrene Episode zur
  58. Tatzeit feststellen. Aufgrund der bestehenden schizophrenen Grunderkrankung
  59. des Angeklagten konnte sie aber auch nicht ausschließen, dass seine Fähigkeit, das "Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln",
  60. infolge seiner Erkrankung zur Tatzeit erheblich vermindert war.
  61. 5
  62. Nach der Entlassung aus der Strafhaft im Dezember 2012 war der Angeklagte obdach- und mittellos. Am 8. sowie am 11. Februar 2013 entwendete er
  63. in einem Ladengeschäft einige geringwertige Lebensmittel. Von Mitarbeitern
  64. darauf angesprochen gab er an, bezahlt zu haben bzw. seine Firma habe bereits bezahlt. Er ließ sich durchsuchen und gab die Waren zurück, reagierte
  65. aber im Übrigen laut und aggressiv.
  66. 6
  67. b) Zu den Anlasstaten hat die Strafkammer folgende Feststellungen getroffen:
  68. -5-
  69. 7
  70. Am 26. Februar 2013 betrat der Angeklagte ein Schuhgeschäft und gab
  71. an, er wolle ein für ihn hinterlegtes und bereits bezahltes Paar Schuhe abholen.
  72. Nachdem er daraufhin gewiesen wurde, dass für ihn nichts hinterlegt worden
  73. sei, sah er sich in dem Geschäft um. Er ließ sich schließlich ein Paar Schuhe
  74. zur Anprobe aushändigen, entfernte das Sicherungsetikett und zog sie an. Einem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, der ihn bat, die Schuhe wieder auszuziehen, begegnete der Angeklagte laut und aggressiv. Als der Mitarbeiter versuchte, ihm Handschellen anzulegen, kam es zu einem Gerangel, bei dem niemand verletzt wurde. Die hinzugerufenen Polizeibeamten beschimpfte der Angeklagte lautstark (Fall 1).
  75. 8
  76. Am 5. März 2013 hatte der Angeklagte die Wahrnehmung, eine ihm unbekannte Frau A.
  77. habe ihm gegenüber erklärt, sie sei die Eigentümerin
  78. einer Filiale der Firma K.
  79. in M.
  80. und er könne sich dort nehmen,
  81. was er wolle. Der Angeklagte begab sich daraufhin in die Filiale und nahm ein
  82. Paar Sportschuhe an sich. Er verließ das Geschäft, ohne die Schuhe zu bezahlen. Gegenüber der Kassiererin gab er an, die Schuhe seien ihm von der Filialleiterin geschenkt worden (Fall 2).
  83. 9
  84. Am 6. März 2013 betrat er die Filiale erneut und steckte verschiedene
  85. Waren im Gesamtwert von rund 50 Euro in eine von ihm mitgeführte Plastiktüte.
  86. Nachdem er den Kassenbereich durchschritten hatte, sprach ihn ein Mitarbeiter
  87. an. Der Angeklagte wies wiederum daraufhin hin, dass es sich um Geschenke
  88. der Filialleiterin handele. Im Rahmen der folgenden polizeilichen Maßnahmen
  89. reagierte der Angeklagte zeitweise aggressiv und schrie die Beamten an (Fall
  90. 3).
  91. 10
  92. 2. Das Landgericht hat die Taten als Diebstahl (Fälle 2 und 3) bzw. versuchten Diebstahl (Fall 1) gewertet. Es hat angenommen, der Angeklagte habe
  93. -6-
  94. bei Tatbegehung jeweils im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) gehandelt, da seine Einsichtsfähigkeit infolge seiner Erkrankung aufgehoben gewesen
  95. sei.
  96. 11
  97. 3. Eine Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hat das Landgericht abgelehnt. Gestützt auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen ist das Gericht zu der Einschätzung
  98. gelangt, dass bei dem dauerhaft an einer schizophrenen Psychose erkrankten
  99. Angeklagten eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung erheblicher rechtswidriger Taten nicht bestehe.
  100. 12
  101. Zwar seien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitere
  102. Diebstahlstaten wie die festgestellten zu erwarten. Diese seien jedoch nicht als
  103. erheblich im Sinne des § 63 StGB einzustufen.
  104. 13
  105. Für darüber hinaus gehende erhebliche Taten, insbesondere Gewalttaten, könne dagegen die erforderliche Gefahrenprognose nicht gestellt werden.
  106. Zwar sei der Angeklagte krankheitsbedingt im Jahr 2001 mit Gewalttaten in Erscheinung getreten. Seit nunmehr über zwölf Jahren seien aber keine weiteren
  107. vergleichbaren Übergriffe erfolgt. In Hinblick auf den Handtaschenraub im Jahr
  108. 2009 sei nicht festzustellen, dass die psychische Erkrankung des Angeklagten
  109. für die - auch normalpsychologisch erklärbare - Tat (mit-)ursächlich geworden
  110. wäre. Zudem sei die Fähigkeit des Angeklagten zu derart komplexen Tathandlungen inzwischen krankheitsbedingt sehr eingeschränkt und Anhaltspunkte für
  111. eine Gefahrensteigerung durch eine Verschärfung der Gedankenwelt bei dem
  112. Angeklagten seien nicht ersichtlich. Zwar habe der Angeklagte in den letzten
  113. Jahren lange Zeit in eng strukturierten und gesicherten Verhältnissen gelebt.
  114. Der Angeklagte sei aber auch außerhalb solcher geschützter Verhältnisse und
  115. unter psychotischem Erleben - selbst in sehr konfliktbeladenen Situationen -
  116. -7-
  117. lediglich verbal aggressiv geworden bzw. habe laut geschrien. Zu zielgerichteten Tätlichkeiten gegen eine Person sei es nicht gekommen.
  118. II.
  119. 14
  120. Die Revision der Staatsanwaltschaft bleibt ohne Erfolg.
  121. 15
  122. 1. Die Staatsanwaltschaft hat den Freispruch des Angeklagten von dem
  123. Revisionsangriff ausgenommen. Die Beschränkung des Rechtsmittels ist im
  124. vorliegenden Fall zulässig (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juni 2008 - 4 StR 140/08,
  125. juris Rn. 14 mwN; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 318 Rn. 24).
  126. 16
  127. 2. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine die Unterbringung
  128. nach § 63 StGB rechtfertigende Gefährlichkeitsprognose verneint hat, halten
  129. rechtlicher Überprüfung stand.
  130. 17
  131. a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen
  132. Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen
  133. darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund
  134. eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und
  135. die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustandes
  136. in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten
  137. müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 5. Juni 2013 - 2 StR
  138. 94/13; BGH, Beschluss vom 29. April 2014 - 3 StR 171/14, jeweils mwN). An
  139. -8-
  140. die Darlegungen sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich
  141. bei dem zu beurteilenden Sachverhalt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62 StGB) um einen Grenzfall handelt (BGH, Beschluss vom 26. September 2012 - 4 StR 348/12, juris Rn. 10; Beschluss vom
  142. 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338; Senat, Beschluss vom
  143. 8. November 2006 - 2 StR 465/06, NStZ-RR 2007, 73, 74).
  144. 18
  145. b) Diese Grundsätze hat das Landgericht bei seiner Entscheidung beachtet.
  146. 19
  147. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob der Auffassung des Landgerichts zu folgen ist, der Tritt gegen den Oberschenkel im Jahre 2001 sei für sich
  148. genommen nicht als Tat zumindest mittlerer Kriminalität zu bewerten (UA
  149. S. 48). Denn das Landgericht ist mit rechtsfehlerfreien Erwägungen davon ausgegangen, dass bei dem Angeklagten keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die künftige Begehung vergleichbarer Gewaltdelikte besteht.
  150. 20
  151. Dass ein Täter trotz bestehenden Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, ist ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger solcher Straftaten (vgl. Senat, Beschluss vom 11. März
  152. 2009 - 2 StR 42/09, NStZ-RR 2009, 198, 199; Urteil vom 17. November 1999
  153. - 2 StR 453/99, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27; BGH, Beschluss vom
  154. 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338). Da der Angeklagte wiederholt auch in sehr problematischen Verhältnissen wie etwa in Obdachlosenheimen oder in Notschlafstellen gelebt und auch in konfliktbeladenen Situationen (wie nach Entdecken seiner Diebstahlstaten) keine Person gezielt körperlich angegriffen hat, ist es nicht zu beanstanden, dass das Gericht unter Abwägung aller Umstände davon ausgegangen ist, dass krankheitsbedingte tätliche
  155. Übergriffe seitens des Angeklagten künftig lediglich "möglich" seien. Damit feh-
  156. -9-
  157. len Feststellungen zum Vorliegen einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades,
  158. denn eine lediglich latente Gefahr reicht für die Annahme einer Wahrscheinlichkeit (höheren Grades) nicht aus (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012
  159. - 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 147; Beschluss vom 11. Januar 2011
  160. - 5 StR 547/10; Senat, Urteil vom 2. März 2011 - 2 StR 550/10, NStZ-RR 2011,
  161. 240, 241).
  162. 21
  163. Soweit das Landgericht die von dem Angeklagten mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades zu erwartenden Eigentumsdelikte für nicht ausreichend
  164. erachtet hat, um eine Unterbringungsanordnung zu rechtfertigen, ist dies aus
  165. Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
  166. Fischer
  167. Appl
  168. Ott
  169. Eschelbach
  170. Zeng