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413 lines
24 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. BESCHLUSS
  3. 1 StR 56/15
  4. vom
  5. 14. Oktober 2015
  6. in der Strafsache
  7. gegen
  8. wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
  9. -2-
  10. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Oktober 2015 gemäß
  11. § 349 Abs. 1 StPO beschlossen:
  12. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
  13. Regensburg vom 14. August 2014 wird verworfen.
  14. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und
  15. die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
  16. Gründe:
  17. 1
  18. Die Revision des Angeklagten richtet sich gegen das freisprechende Urteil des Landgerichts Regenburg vom 14. August 2014, durch dessen Entscheidungsgründe sich der Angeklagte beschwert sieht.
  19. 2
  20. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision
  21. des Angeklagten ist unzulässig.
  22. -3-
  23. I.
  24. 3
  25. Das Landgericht Regensburg hat den Angeklagten mit Urteil vom
  26. 14. August 2014 freigesprochen und ihm für näher bezeichnete Zeiträume der
  27. Unterbringung eine Entschädigung zugesprochen.
  28. 4
  29. 1. Der Angeklagte war zunächst durch Urteil des Landgerichts NürnbergFürth vom 8. August 2006 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht
  30. und von den angeklagten Tatvorwürfen zum Teil aus rechtlichen und zum Teil
  31. aus tatsächlichen Gründen freigesprochen worden. Das Landgericht NürnbergFürth hatte die Vorwürfe der gefährlichen Körperverletzung am 12. August
  32. 2001, der Körperverletzung mit Freiheitsberaubung am 31. Mai 2002 und der
  33. Sachbeschädigung in acht Fällen im Zeitraum zwischen dem 31. Dezember
  34. 2004 und dem 1. Februar 2005 in tatsächlicher Hinsicht für erwiesen erachtet,
  35. die Schuldfähigkeit des Angeklagten dabei jedoch für nicht ausschließbar aufgehoben gehalten. Von dem weiteren Vorwurf des Diebstahls am 23. November
  36. 2002 hatte sich das Landgericht Nürnberg-Fürth in tatsächlicher Hinsicht nicht
  37. zu überzeugen vermocht. Sachverständig beraten war das Landgericht Nürnberg-Fürth ferner zu der Überzeugung gelangt, der Angeklagte werde auch in
  38. Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen und sei daher für die Allgemeinheit gefährlich. Es hatte deshalb seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet.
  39. 5
  40. Die Revision des Angeklagten gegen die Anordnung dieser Maßregel hat
  41. der Senat mit Beschluss vom 13. Februar 2007 gemäß § 349 Abs. 2 StPO als
  42. unbegründet verworfen.
  43. -4-
  44. 6
  45. Die Anträge des Angeklagten wie auch der Staatsanwaltschaft Regensburg, die Wiederaufnahme des Verfahrens zuzulassen und die Erneuerung der
  46. Hauptverhandlung anzuordnen, hat das Landgericht Regensburg mit Beschluss
  47. vom 24. Juli 2013 als unzulässig verworfen. Auf die sofortigen Beschwerden
  48. der beiden Antragsteller hat das Oberlandesgericht Nürnberg die Wiederaufnahme des Verfahrens mit Beschluss vom 6. August 2013 zugelassen, die Erneuerung der Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an eine andere
  49. Strafkammer des Landgerichts Regensburg zurückverwiesen. Die erneute
  50. Hauptverhandlung ist dabei auf die beiden Vorwürfe der Körperverletzung sowie die Vorwürfe der Sachbeschädigung beschränkt worden; der Freispruch
  51. vom Vorwurf des Diebstahls ist rechtskräftig verblieben.
  52. 7
  53. 2. Das Landgericht Regensburg hat den Angeklagten mit Urteil vom
  54. 14. August 2014 freigesprochen, ohne eine Maßregel anzuordnen. Die Vorwürfe der Körperverletzung mit Freiheitsberaubung vom 31. Mai 2002 sowie der
  55. Sachbeschädigung in den Jahren 2004 und 2005 hat es nach der Beweiswürdigung als nicht erwiesen angesehen und den Angeklagten insoweit aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Im Hinblick auf den Vorwurf der gefährlichen
  56. Körperverletzung vom 12. August 2001 ist das Landgericht Regensburg zu der
  57. Überzeugung gelangt, der Angeklagte habe den gesetzlichen Tatbestand vorsätzlich und rechtswidrig erfüllt, habe im Tatzeitpunkt aber nicht ausschließbar
  58. ohne Schuld im Sinne des § 20 StGB gehandelt. Der Freispruch des Angeklagten von diesem Vorwurf fußt auf diesen rechtlichen Erwägungen.
  59. 8
  60. 3. Der Angeklagte beanstandet nunmehr mit seiner gegen dieses Urteil
  61. gerichteten Revision seine Freisprechung, soweit diese (nur) aus Rechtsgründen erfolgt ist; die für die Zulässigkeit seines Rechtsmittels erforderliche Be-
  62. -5-
  63. schwer leitet er aus den vom Landgericht Regensburg zum objektiven Tatgeschehen getroffenen Feststellungen ab.
  64. II.
  65. 9
  66. Die Revision des Angeklagten ist unzulässig und war daher gemäß § 349
  67. Abs. 1 StPO zu verwerfen.
  68. 10
  69. Die Freisprechung wegen nicht erwiesener Schuldfähigkeit im Sinne von
  70. § 20 StGB beschwert den Angeklagten nicht. Sie kann deshalb von ihm nicht
  71. mit der Revision angefochten werden.
  72. 11
  73. 1. Ein Angeklagter kann eine Entscheidung nur dann zulässig anfechten,
  74. wenn er durch sie beschwert ist. Dies bedeutet, dass die Urteilsformel einen
  75. unmittelbaren Nachteil für den „Beschwerten“ enthalten muss, der seine Rechte
  76. und geschützten Interessen unmittelbar beeinträchtigt. Es genügt nicht, wenn
  77. ihn nur der Inhalt der Urteilsgründe in irgendeiner Weise belastet (st. Rspr.; vgl.
  78. BGH, Urteil vom 18. Januar 1955 – 5 StR 499/54, BGHSt 7, 153 ff. [Freisprechung aus sachlichen Gründen]; Urteil vom 26. März 1959 – 2 StR 566/58,
  79. BGHSt 13, 75, 76 f. [Einstellung wegen Verjährung]; Beschluss vom
  80. 24. November 1961 – 1 StR 140/61, BGHSt 16, 374, 376 ff.; Urteil vom 4. Mai
  81. 1970 – AnwSt (R) 6/69, BGHSt 23, 257, 259 [Verurteilung vor dem Ehrengericht]; Urteil vom 21. März 1979 – 2 StR 743/78, BGHSt 28, 327, 330 f. [Nichtanordnung der Maßregel nach § 64 StGB]; Beschluss vom 18. August 2015
  82. – 3 StR 304/15 [Nichtanordnung der Maßregel nach § 63 StGB]; KG, Beschluss
  83. -6-
  84. vom 11. Juli 2014 – 2 Ws 252/14 – 141 AR 316/14; OLG München NJW 1981,
  85. 2208; zuvor bereits RGSt 4, 355, 359).
  86. 12
  87. a) Bei dem Erfordernis der Tenorbeschwer handelt es sich um ein richterrechtlich entwickeltes Rechtsmittelerfordernis, hinter dessen historischer Entstehung der Gedanke vom staatlichen Strafanspruch steht. Die Aufgabe eines
  88. Strafverfahrens liegt in der justizförmigen Prüfung, ob gegen den Angeklagten
  89. ein staatlicher Strafanspruch besteht (vgl. BVerfGE 80, 244, 255; 95, 96, 140;
  90. BGH, Beschluss vom 24. November 1961 – 1 StR 140/61, BGHSt 16, 374, 378;
  91. und vom 18. März 2015 – 2 StR 656/13, Rn. 13, NJW-Spezial 2015, 569 f.).
  92. Kann keine strafbare Tat festgestellt werden und kommt keine Maßregel der
  93. Besserung und Sicherung in Betracht, so ist damit die Aufgabe der Strafrechtspflege im einzelnen Strafverfahren grundsätzlich erfüllt. Dem Angeklagten mag
  94. im Einzelfall zwar daran liegen, aus einem bestimmten Grund – etwa wegen
  95. erwiesener Unschuld – freigesprochen zu werden. Insoweit stehen seinem Verlangen aber die Interessen der staatlichen Rechtspflege entgegen, der die
  96. Feststellung genügt, dass gegen den Angeklagten kein Strafanspruch besteht
  97. und keine Maßregel in Betracht kommt. So wird etwa auch bei nicht hinreichendem Tatverdacht gegen den Angeschuldigten das Hauptverfahren nicht eröffnet
  98. (§ 203 StPO), selbst wenn dieser das Interesse haben sollte, sich öffentlich von
  99. den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu reinigen. Die allgemeine Aufgabe der
  100. Strafrechtspflege zwingt aus prozesswirtschaftlichen Gründen zur Beschränkung im einzelnen Strafverfahren, insbesondere um eine uferlose Ausweitung
  101. der Beweisaufnahme zu vermeiden. Hat der Angeklagte daher keinen Anspruch
  102. darauf, aus einem bestimmten Grund freigesprochen zu werden, so kann ihm
  103. auch nicht das Recht zustehen, einen solchen Anspruch durch ein Rechtsmittel
  104. geltend zu machen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. November 1961 – 1 StR
  105. 140/61, BGHSt 16, 374, 380). Etwaige durch die Entscheidungsgründe des
  106. -7-
  107. Tatgerichts verursachte Folgen tatsächlicher Art würden durch ein Rechtsmittel
  108. ohnehin nicht rückgängig gemacht werden können (vgl. zuletzt BGH, Beschluss
  109. vom 18. August 2015 – 3 StR 304/15).
  110. 13
  111. Eine Beschwer kann sich deshalb für den Angeklagten nur aus der Entscheidungsformel des Urteils ergeben. Ein ihm günstigeres Ergebnis als die
  112. Freisprechung kann der Angeklagte nicht erzielen. Sonstige Rechts- und Interessenverletzungen durch die Gründe der Entscheidung, die nur die „Unterlagen des Urteils“ bilden (vgl. RGSt 4, 355, 359), sind der Überprüfung durch ein
  113. Rechtsmittelgericht demgegenüber entzogen. Auch mittelbare Folgen des Verfahrens, etwa der gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 BZRG zwingende Registereintrag
  114. oder Verwaltungsangelegenheiten, begründen keine Beschwer, die zur Zulässigkeit der Revision führt. Dem hat sich das Schrifttum überwiegend angeschlossen (vgl. Cirener in: Graf, StPO, 2. Aufl., § 296 Rn. 8; Hannich in: Karlsruher Kommentar, 7. Aufl., vor § 296 Rn. 5a; Jesse in: Löwe-Rosenberg, StPO,
  115. 26. Aufl., vor § 296 Rn. 57; Meyer-Goßner in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO,
  116. 58. Aufl., vor § 296 Rn. 11 und 13; Krack, Die Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 186 ff. und S. 194 ff.; Radtke in: FS für Roxin, Bd. 2,
  117. S. 1419, 1427 ff.).
  118. 14
  119. Auf den Fall der Freisprechung wegen Schuldunfähigkeit hat der Bundesgerichtshof diese Grundsätze in der Vergangenheit bereits angewendet und
  120. dem Angeklagten die Rechtsmittelbefugnis mangels Beschwer verwehrt (vgl.
  121. BGH, Beschluss vom 24. November 1961 – 1 StR 140/61, BGHSt 16, 374,
  122. 376 ff.). Der Senat sieht keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
  123. -8-
  124. 15
  125. b) Nach Maßgabe dessen ist der Angeklagte durch das freisprechende
  126. Urteil der Strafkammer nicht beschwert. Eine Beschwer ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass die Strafkammer in tatsächlicher Hinsicht für den Angeklagten nachteilige Feststellungen zu dem Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung am 12. August 2001 getroffen und die Freisprechung in Anwendung des
  127. Zweifelssatzes auf die Schuldunfähigkeit des Angeklagten im Sinne von § 20
  128. StGB gestützt hat.
  129. 16
  130. aa) Erfolgt ein Freispruch aus rechtlichen Gründen, sind Feststellungen
  131. zum äußeren Tatgeschehen in den Urteilsgründen aus Rechtsgründen erforderlich und geboten. Dies gilt mit Blick auf die für den Angeklagten und die Staatsanwaltschaft gleichermaßen bestehende Rechtsmittelbefugnis in besonderem
  132. Maße in Konstellationen wie der vorliegenden, wenn der Freispruch wegen fehlender Schuldfähigkeit erfolgt. Denn Schuld im Sinne von § 20 StGB bedeutet
  133. Vorwerfbarkeit und ist ein Rechtsbegriff, keine empirisch-medizinische Diagnose. Für deren Vorliegen kommt es auf den Zustand des Angeklagten bei Begehung der Tat (§ 8 StGB) an; sein Zustand ist genau für diesen Zeitpunkt festzustellen und zu bewerten (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1997 – 1 StR 511/95,
  134. BGHSt 43, 66, 77; und vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45,
  135. 53).
  136. 17
  137. So setzt die rechtsfehlerfreie Anwendung des auch für die Frage der (vollen) Schuldfähigkeit geltenden Zweifelssatzes die umfassende Prüfung des Vorliegens und der Schwere eines festgestellten Eingangsmerkmals des § 20 StGB
  138. voraus. Hat ein Sachverständiger eine schwere Abartigkeit weder bejaht noch
  139. ausgeschlossen, liegt ein Rechtsfehler vor, wenn der Tatrichter “deshalb” “zugunsten” des Angeklagten ohne weiteres von einer erheblichen Beeinträchtigung dessen Hemmungsvermögens ausgeht. Die Urteilsgründe müssen sich
  140. -9-
  141. vielmehr dazu verhalten, in welchem Ausmaß sich das Eingangsmerkmal beim
  142. Tatentschluss oder der Tatausführung ausgewirkt hat. Etwa das Gewicht der
  143. Tat und die dadurch beeinflusste Höhe der von ihr ausgehenden Hemmschwelle können dabei für die Beurteilung Bedeutung gewinnen. Sie müssen deshalb
  144. festgestellt und in den Urteilsgründen in für das Revisionsgericht nachprüfbarer
  145. Weise dargelegt werden (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 1960 – 2 StR 640/59,
  146. BGHSt 14, 114, 116; vom 21. September 1982 – 1 StR 489/82, NJW 1983, 350;
  147. und vom 6. Mai 1997 – 1 StR 17/97, NStZ 1997, 485, 486; Beschluss vom
  148. 28. Oktober 2009 – 2 StR 383/09, NStZ-RR 2010, 73, 74).
  149. 18
  150. Auch der allgemein anerkannte Grundsatz, dass die Schuldfähigkeit regelmäßig nur in Beziehung auf einen bestimmten Straftatbestand, nicht aber
  151. unabhängig von diesem beurteilt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar
  152. 1960 – 2 StR 640/59, BGHSt 14, 114, 116; und vom 21. September 1982
  153. – 1 StR 489/82, NJW 1983, 350), erfordert Feststellungen zum Tatgeschehen
  154. im Urteil. Vor allem die Frage der Hemmungsfähigkeit lässt sich bei den verschiedenartigen Straftaten nur selten einheitlich beantworten. So kann ein Betrunkener, der seinen Geschlechtstrieb nicht mehr zu beherrschen vermag und
  155. deshalb im Rausch den Versuch einer Sexualstraftat begeht, möglicherweise
  156. sehr wohl noch fähig sein, Hemmungen gegenüber einem Raubmotiv einzuschalten; wer sich infolge seines Rausches schuldlos zu einer Beleidigung hinreißen lässt, kann für eine gefährliche Körperverletzung noch verantwortlich
  157. sein (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 1960 – 2 StR 640/59, BGHSt 14, 114,
  158. 116).
  159. 19
  160. Soweit entsprechende Feststellungen für den freigesprochenen Angeklagten ungünstig sind und ihn in tatsächlicher Hinsicht beschweren, hat der
  161. - 10 -
  162. Gesetzgeber dies grundsätzlich als Folge des justizförmigen Strafverfahrens
  163. hingenommen.
  164. 20
  165. bb) Diesen Erwägungen hat das Landgericht in dem angegriffenen Urteil
  166. Rechnung getragen. Es hat in nicht zu beanstandender Weise dargelegt, von
  167. welchem Tatablauf es im Hinblick auf den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung am 12. August 2001 ausgegangen ist. Dabei hat das Landgericht die
  168. Feststellungen auf das aus Rechtsgründen Erforderliche beschränkt. Es hat
  169. seine Darstellung des Tatgeschehens und der Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin sachlich gehalten und sich weitgehend auf die
  170. Angabe der für erwiesen erachteten Tatsachen beschränkt. Diese Feststellungen bilden die von Gesetzes wegen notwendige „Unterlage“ (vgl. RGSt 4, 355,
  171. 359 f.) der Entscheidungsformel. Sie vermittelt dem Angeklagten keine
  172. Rechtsmittelbefugnis.
  173. 21
  174. 2. Aus verfassungsrechtlichen Vorgaben, die in extrem gelagerten Ausnahmefällen zu einer Durchbrechung dieser Grundsätze führen können, ergibt
  175. sich vorliegend nichts anderes. Das Bundesverfassungsgericht hält den einfachrechtlichen Grundsatz der Tenorbeschwer nicht nur in ständiger Rechtsprechung für verfassungsgemäß, sondern hat diesen auf die Prüfung der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden sogar jedenfalls grundsätzlich übertragen
  176. (vgl. BVerfGE 28, 151, 160 f.; BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 2012 – 2 BvR
  177. 800/12, 2 BvR 1003/12 (3. Kammer des 2. Senats), Rn. 8 mwN, juris).
  178. 22
  179. a) Die Gestaltung des strafprozessualen Rechtsmittelverfahrens und die
  180. Auslegung der dafür geltenden Rechtsnormen (§§ 296 ff. StPO) ist originäre
  181. Anwendung des einfachen Rechts. Einen verfassungsrechtlich verbürgten An-
  182. - 11 -
  183. spruch auf Rechtsmittelkontrolle durch eine übergeordnete Instanz schlechthin
  184. gibt es nicht (vgl. BVerfGE 4, 74, 94 f.; 6, 7, 12).
  185. 23
  186. b) Indes kann in seltenen Ausnahmefällen auch ein freisprechendes Urteil durch die Art seiner Begründung Grundrechte verletzen (vgl. BVerfGE 6, 7,
  187. 9; 28, 151, 160). So kann in einzelnen Ausführungen der Entscheidungsgründe
  188. eine Grundrechtsverletzung dann erblickt werden, wenn sie – für sich genommen – den Angeklagten so schwer belasten, dass eine erhebliche, ihm nicht
  189. zumutbare Beeinträchtigung eines grundrechtlich geschützten Bereichs festzustellen ist, die durch den Freispruch nicht aufgewogen wird. Das ist nicht schon
  190. dann anzunehmen, wenn die Entscheidungsgründe einzelne, den Beschwerdeführer belastende oder für ihn „unbequeme“ Ausführungen enthalten (vgl.
  191. BVerfGE 28, 151, 161).
  192. 24
  193. c) Unter Anwendung dieser Maßstäbe liegt ein Ausnahmefall, der zum
  194. Zwecke der Wahrung der verfassungsmäßig verbürgten Rechte des Angeklagten einfachrechtlich die Zulässigkeit seiner Revision zur Folge hat, nicht vor.
  195. Wie bereits dargelegt, beschränken sich die von der Strafkammer getroffenen
  196. Feststellungen auf das gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO für die Überprüfung
  197. der Urteilsgründe auf Rechtsfehler erforderliche Maß. Aus welchen Feststellungen genau sich eine schlechthin unerträgliche Beschwer für den Angeklagten
  198. ergeben soll, legt auch die Revision nicht dar. Ihr Vortrag, das Urteil enthalte
  199. „seitenweise negative Aussagen über den Revisionsführer“ (RB S. 5) und setze
  200. diesen dem Vorwurf des „gefährlichen Gewaltverbrechers“ (RB S. 15) aus, belegen dies nicht. Für den Angeklagten schlicht unangenehme Aussagen reichen
  201. nicht aus. Auch aus der Medienwirksamkeit des Strafverfahrens kann sich eine
  202. Beschwer im genannten Sinne nicht ergeben, denn diese ist nicht Folge des
  203. Urteils und der Entscheidungsgründe selbst. Beeinträchtigungen des Angeklag-
  204. - 12 -
  205. ten aufgrund öffentlicher Berichterstattung können im Falle seiner Verurteilung
  206. im Rahmen der Strafzumessung mildernd zu berücksichtigen sein, wenn der
  207. Druck der medialen Berichterstattung erheblich über das hinaus geht, was jeder
  208. Straftäter über sich ergehen lassen muss (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom
  209. 7. November 2007 – 1 StR 164/07, NStZ-RR 2008, 343, 344). Die damit einhergehende seelische Belastung eines Angeklagten kann unter Umständen das
  210. Maß des staatlichen Strafanspruchs beeinflussen, seine Rechtsmittelbefugnis
  211. bleibt davon indessen unberührt.
  212. 25
  213. 3. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gibt gleichfalls keinen Anlass, das Erfordernis der Tenorbeschwer für die
  214. Zulässigkeit der strafprozessualen Revision aufzugeben.
  215. 26
  216. a) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann die durch Art. 6 Abs. 2 MRK garantierte Unschuldsvermutung
  217. auch durch ein freisprechendes Urteil verletzt werden. Es soll dafür nicht nur
  218. auf den Tenor der freisprechenden Entscheidung, sondern auch auf die Urteilsbegründung ankommen. Ein Konventionsverstoß kann etwa zu bejahen sein,
  219. wenn das nationale Gericht im Fall des Freispruchs aus sachlichen Gründen
  220. durch die Urteilsgründe zum Ausdruck bringt, es sei von der Schuld des Angeklagten tatsächlich überzeugt (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015
  221. – 48144/09 – Cleve/Deutschland).
  222. 27
  223. Bereits zuvor hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in
  224. ständiger Rechtsprechung eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 MRK bejaht, wenn
  225. eine Gerichtsentscheidung oder die Äußerung eines Amtsträgers nach seiner
  226. Bewertung zu erkennen gab, eine einer Straftat angeklagte Person sei schuldig,
  227. obwohl der gesetzliche Beweis ihrer Schuld noch nicht erbracht war. Dabei hat
  228. - 13 -
  229. der Gerichtshof der konkreten Wortwahl der jeweils angegriffenen Entscheidung
  230. maßgebliche Bedeutung beigemessen und diese im Kontext mit der gegebenen
  231. Verfahrenslage gewürdigt (vgl. EGMR, Slg. 2000-X Nr. 39, 41 – Daktaras/
  232. Litauen; EGMR, NJW 2004, 43 Nr. 54, 56 – Böhmer/Deutschland; EGMR, Urteil
  233. vom 27. Februar 2007 – 65559/01 Nr. 88 f. – Nešťák/Slowakei; EGMR, Urteil
  234. vom 23. Oktober 2008 – 13470/02 Nr. 94 – Khuzhin u.a./Russland; EGMR, Urteil vom 2. Juni 2009 – 24528/02 Nr. 45 ff. – Borovský/Slowakei).
  235. 28
  236. Die Garantie des Art. 6 Abs. 2 MRK hat der Gerichtshof dabei vornehmlich in Fällen für verletzt erachtet, in denen der Beschwerdeführer einer Straftat
  237. nur verdächtig war, ohne ihretwegen rechtskräftig verurteilt zu sein. Der Gerichtshof hat dabei abermals betont, die Wortwahl der Entscheidung sei im Zusammenhang mit den besonderen Umständen, unter denen die angegriffene
  238. Äußerung gemacht wurde, zu bewerten. So hat der Gerichtshof eine Verletzung
  239. des Art. 6 Abs. 2 MRK abgelehnt, soweit eine faktische Belastung des Beschwerdeführers für die justizförmige Durchführung des Verfahrens erforderlich
  240. oder dessen zwangsläufige Folge war (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015
  241. – 48144/09 – Cleve/Deutschland; Urteil vom 27. Februar 2014 – 17103/10 –
  242. Karaman/Deutschland, Rn. 63 mwN; Slg. 2013 Nr. 126 – Allen/Vereinigtes Königreich).
  243. 29
  244. b) Der im nationalen Recht geltende Grundsatz der Tenorbeschwer steht
  245. zu dieser Rechtsprechung nicht in Widerspruch; er fügt sich in seiner richterrechtlichen Ausprägung sogar in diese ein.
  246. 30
  247. aa) Ein Anspruch des Betroffenen auf einen Instanzenzug im Strafverfahren schlechthin lässt sich auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht ableiten. Art. 6 MRK garantiert bereits nicht
  248. - 14 -
  249. das Recht auf ein bestimmtes Ergebnis eines Strafverfahrens, etwa nicht auf
  250. Verurteilung oder Freispruch wegen einer angeklagten Straftat (vgl. EGMR, Urteil vom 26. August 2003 – 59493/00 – Withey/Vereinigtes Königreich; Urteil
  251. vom 3. Dezember 2009 − 8917/05 − Kart/Türkei, NJOZ 2011, 619, 621). Die
  252. Bereitstellung und Ausgestaltung des Instanzenzugs ist vielmehr der Regelung
  253. durch den nationalen Gesetzgeber unter Wahrung der von der Konvention vorgesehenen Verfahrensgarantien vorbehalten.
  254. 31
  255. bb) Aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 15. Januar 2015 (Nr. 48144/09 – Cleve/Deutschland) lässt sich für
  256. die hier vorliegende Konstellation nichts Gegenteiliges ableiten.
  257. 32
  258. (1.) Dies gilt zum einen deshalb, weil der Entscheidung in tatsächlicher
  259. Hinsicht andere Umstände zugrunde lagen. Der dem Gerichtshof vorgelegte
  260. Sachverhalt war dadurch gekennzeichnet, dass sich das erkennende nationale
  261. Gericht nach Abschluss der Beweisaufnahme keine Überzeugung von der
  262. Schuld des Angeklagten verschafft und diesen aus sachlichen Gründen freigesprochen hatte. Die schriftlichen Urteilsgründe standen hierzu aber in Diskrepanz, denn sie enthielten Äußerungen, aus denen hervorging, der Angeklagte
  263. habe die ihm vorgeworfenen Handlungen tatsächlich begangen, lediglich fehle
  264. wegen einer unzureichenden Zeugenaussage die hinreichende Gewissheit hinsichtlich eines bestimmten, für die Verurteilung erforderlichen Tathergangs (vgl.
  265. EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015 – 48144/09 – Cleve/Deutschland, Nr. 57 f.).
  266. 33
  267. So liegt es hier nicht. Das Landgericht hat den Angeklagten vorliegend
  268. nicht aus sachlichen, sondern aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Die
  269. Überzeugung von einem bestimmten äußeren Ablauf der angeklagten Tat hat
  270. sich das Landgericht verschafft; Zweifel verblieben (nur) an der Schuldfähigkeit
  271. - 15 -
  272. des Angeklagten. Eine der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
  273. Menschenrechte vom 15. Januar 2015 vergleichbare Divergenz zwischen dem
  274. Tenor und den Gründen des Urteils besteht deshalb nicht. Wie oben ausgeführt
  275. war das Landgericht zur rechtsfehlerfreien Anwendung des § 20 StGB sogar
  276. gehalten, den für erwiesen erachteten Tatablauf und den Zustand des Angeklagten zu diesem Zeitpunkt im Urteil darzulegen.
  277. 34
  278. (2.) Darüber hinaus ist die Entscheidung des Gerichtshofs vom
  279. 15. Januar 2015 im Kontext mit seiner seit langem gefestigten Rechtsprechung
  280. in den Blick zu nehmen, wonach es für die Verletzung der Unschuldsvermutung
  281. des Art. 6 Abs. 2 MRK entscheidend auf Wortwahl und Formulierung der Urteilsgründe unter Betrachtung der konkreten Verfahrenssituation ankommt. Hieran hat der Gerichtshof unverändert angeknüpft und der Wortwahl der gerichtlichen Äußerungen das maßgebliche Gewicht beigemessen (vgl. EGMR, Urteil
  282. vom 15. Januar 2015 – 48144/09 – Cleve/Deutschland, Nr. 54 f.).
  283. 35
  284. Nach Maßgabe dessen ist die Revision des Angeklagten hier nicht ausnahmsweise zulässig, denn eine übermäßige Beschwer liegt bei Gesamtwürdigung der getroffenen Formulierungen nach Freispruch aus rechtlichen Gründen
  285. nicht vor. An dieser Stelle fügt sich der Grundsatz der Tenorbeschwer in die
  286. Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überdies zwanglos ein, denn eine Ausnahme von der Formalbeschwer für extrem gelagerte
  287. Fälle, in denen sich die Belastung des Angeklagten aus Begleitumständen, etwa der Wortwahl des Tatgerichts, ergibt, sieht bereits die Rechtsprechung des
  288. Bundesgerichtshofs seit jeher vor (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 1955
  289. – 5 StR 499/54, BGHSt 7, 153 ff.; Beschluss vom 24. November 1961 – 1 StR
  290. 140/61, BGHSt 16, 374; vgl. BGHSt 13, 75, 77; 16, 374; 23, 257, 259; 28, 327,
  291. 330; Beschluss vom 18. August 2015 – 3 StR 304/15).
  292. - 16 -
  293. 36
  294. c) Im Übrigen hat auch das Bundesverfassungsgericht nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 15. Januar
  295. 2015 am Erfordernis der Tenorbeschwer nach verfassungsrechtlichen Maßstäben festgehalten (vgl. BVerfG, NZA 2015, 1117, 1119 mwN).
  296. 37
  297. 4. All dies unbeschadet wäre die Revision des Angeklagten auch unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Die Beweiswürdigung lässt angesichts des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs des Revisionsgerichts Rechtsfehler nicht erkennen.
  298. Graf
  299. Cirener
  300. RiBGH Prof. Dr. Mosbacher
  301. ist infolge Urlaubs an der
  302. Unterschriftsleistung
  303. gehindert.
  304. Graf
  305. Radtke
  306. Fischer