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439 lines
13 KiB

  1. BUNDESGERICHTSHOF
  2. IM NAMEN DES VOLKES
  3. URTEIL
  4. 1 StR 193/18
  5. vom
  6. 11. September 2018
  7. in der Strafsache
  8. gegen
  9. 1.
  10. 2.
  11. wegen Mordes u.a.
  12. ECLI:DE:BGH:2018:110918U1STR193.18.0
  13. -2-
  14. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. September 2018, an der teilgenommen haben:
  15. Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
  16. Dr. Raum,
  17. der Richter am Bundesgerichtshof
  18. Bellay,
  19. die Richterin am Bundesgerichtshof
  20. Dr. Fischer,
  21. der Richter am Bundesgerichtshof
  22. Dr. Bär
  23. und die Richterin am Bundesgerichtshof
  24. Dr. Hohoff,
  25. Richterin am Landgericht
  26. als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
  27. – in der Verhandlung –
  28. Rechtsanwalt
  29. als Verteidiger des Angeklagten S.
  30. Rechtsanwalt
  31. ,
  32. – in der Verhandlung –
  33. als Verteidiger des Angeklagten B.
  34. ,
  35. Justizangestellte
  36. – in der Verhandlung –,
  37. Justizangestellte
  38. – bei der Verkündung –
  39. als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
  40. für Recht erkannt:
  41. -3-
  42. 1. Die Revisionen der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Hechingen vom
  43. 18. Oktober 2017 werden verworfen.
  44. 2. Die Angeklagten haben die Kosten ihrer Rechtsmittel und
  45. die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
  46. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels der
  47. Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten B.
  48. hier-
  49. durch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
  50. Von Rechts wegen
  51. Gründe:
  52. 1
  53. Das Landgericht hat den Angeklagten B.
  54. wegen Mordes in Tatmehr-
  55. heit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer
  56. Menge zu einer Jugendstrafe von neun Jahren verurteilt. Gegen den Angeklagten S.
  57. hat es wegen Mordes in Tateinheit mit vorsätzlichem Führen
  58. einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition in
  59. Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge eine lebenslange Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verhängt.
  60. 2
  61. Dagegen wendet sich der Angeklagte B.
  62. Sachrüge und der Angeklagte S.
  63. mit der allgemeinen
  64. mit der Rüge formellen und materiellen
  65. Rechts. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten B.
  66. eingelegten und ausdrücklich auf den Rechtsfolgenausspruch
  67. -4-
  68. beschränkten Revision die Anwendung von Jugendstrafrecht auf den zur Tatzeit zwanzig Jahre und fünf Monate alten Angeklagten.
  69. 3
  70. Die Revisionen haben keinen Erfolg.
  71. I.
  72. 4
  73. 1. Nach den Feststellungen der Jugendkammer wollten sich die Angeklagten S.
  74. und B.
  75. durch den Gewinn bringenden Handel mit Mari-
  76. huana eine zusätzliche Einnahmequelle von einigem Gewicht und einiger Dauer
  77. verschaffen. Sie erwarben deshalb Anfang November 2016 von dem Mitangeklagten M.
  78. S.
  79. und B.
  80. ein Kilogramm Marihuana für 4.000 €. 2.500 € zahlten
  81. sofort. Der Restkaufpreis sollte in Raten abbezahlt wer-
  82. den. Mitte November 2016 verkauften sie das Kilogramm Marihuana an
  83. Ma.
  84. und
  85. Sk.
  86. für 5.000 € und vereinbarten bei Übergabe,
  87. dass der Kaufpreis erst in den folgenden Tagen bezahlt werden sollte.
  88. 5
  89. Ma.
  90. und
  91. Sk.
  92. waren jedoch nicht zahlungswillig.
  93. Am 1. Dezember 2016 trafen die Angeklagten S.
  94. Ma.
  95. in einer Spielothek an. Ma.
  96. bat seinen Freund
  97. K.
  98. und B.
  99. verweigerte jedoch die Zahlung und
  100. telefonisch zu seiner Unterstützung herbei,
  101. weil er mit einer körperlichen Auseinandersetzung rechnete. Als K.
  102. traf, saßen S.
  103. und B.
  104. vor der Spielothek in dem schaltgetriebenen
  105. Fiat Punto des Angeklagten S.
  106. K.
  107. ein-
  108. . Sie beobachteten, dass Ma.
  109. und
  110. die Spielothek wenige Minuten später verließen und vor einer nahe-
  111. gelegenen Sitzgruppe eng beieinander stehen blieben. S.
  112. und B.
  113. beschlossen, ihrer gemeinsamen Forderung auf Zahlung von 5.000 € drastisch
  114. Nachdruck zu verleihen.
  115. -5-
  116. 6
  117. Sie vereinbarten, zunächst mit dem von B.
  118. Runde um den Block zu fahren. Dann sollte B.
  119. gesteuerten Fiat eine
  120. nach beschleunigtem Heran-
  121. fahren nahe der Sitzgruppe scharf abbremsen und der Beifahrer S.
  122. aus
  123. dem geöffneten Beifahrerfenster einen Schuss aus der scharfen Pistole Kaliber
  124. 7,65 mm in Richtung von
  125. Ma.
  126. Nach der Schussabgabe sollte B.
  127. 7
  128. und
  129. K.
  130. abfeuern.
  131. so schnell wie möglich wegfahren.
  132. Von ihrem gemeinsamen Tatplan war sowohl eine Schussabgabe ohne
  133. Treffer als auch die Verletzung oder der Tod einer der beiden Männer umfasst.
  134. Ein Todeseintritt war ihnen zwar unerwünscht, sie fanden sich jedoch damit ab.
  135. Sie nahmen den Tod von
  136. Ma.
  137. oder K.
  138. billigend in Kauf,
  139. weil sie um jeden Preis eine Zahlung der 5.000 € erreichen wollten. Für den
  140. Fall, dass sie K.
  141. tödlich treffen sollten oder ihn oder Ma.
  142. nur ver-
  143. letzen oder verfehlen sollten, gingen sie davon aus, dass dann der verängstigte
  144. überlebende Ma.
  145. bzw. die verängstigten Ma.
  146. den. Sollten sie Ma.
  147. und Sk.
  148. zahlen wür-
  149. tödlich treffen, nahmen sie an, dass Sk.
  150. zahlen
  151. würde.
  152. 8
  153. Sie wussten, dass der Schuss aus dem Auto nach einer starken Bremsung aus einer Entfernung von fünf bis zehn Metern bei einbrechender Dunkelheit und einsetzender Straßenbeleuchtung in Sekundenschnelle erfolgen würde
  154. und S.
  155. kein geübter Pistolenschütze war. Beide erkannten und billigten
  156. den Umstand, dass Ma.
  157. und K.
  158. nicht mit einem Schuss rechneten
  159. und keine Chance hatten zu fliehen, auszuweichen oder den Angriff abzuwehren. Diesen Umstand wollten sie ausnutzen.
  160. 9
  161. Nach der Fahrt um den Block näherten sie sich wie geplant erneut der
  162. Sitzgruppe. B.
  163. bremste das Fahrzeug stark ab. S.
  164. gab unmittelbar
  165. -6-
  166. nach dem Stillstand des Fahrzeugs durch das vollständig geöffnete Beifahrerfenster aus einer Entfernung von fünf bis sieben Metern einen Schuss in
  167. Richtung der nahe zusammenstehenden Ma.
  168. K.
  169. 10
  170. mitten ins Herz. K.
  171. und K.
  172. ab. Er traf
  173. verstarb sofort.
  174. 2. a) Zur Entwicklung des Angeklagten B.
  175. führte die Jugendkammer
  176. aus, dass der Angeklagte vor knapp drei Jahren wegen Arbeitslosigkeit und
  177. schlechter beruflicher Perspektive in Italien auf Rat seines Vaters nach
  178. Deutschland gegangen sei, sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs über
  179. Wasser gehalten, bei seiner Großmutter gewohnt habe und zwischen Italien
  180. und Deutschland gependelt sei. Als sich sein Vater vor etwa zwei Jahren entschlossen hätte, ebenfalls nach Deutschland zu ziehen und ihm eine Stelle als
  181. Hilfsarbeiter in einer Zimmerei vermittelt habe, habe der Angeklagte ab März
  182. 2015 mit einem Nettoeinkommen von etwa 1.500 € in der Zimmerei und an den
  183. Wochenenden bei einer anderen Firma mit einem Nettoeinkommen von etwa
  184. 400 € gearbeitet. Sein Vater habe alle finanziellen Angelegenheiten für ihn verwaltet, ihm die jährliche Steuererklärung erstellt, die EC-Karte verwahrt und ihm
  185. monatlich Geld zugeteilt. Bei anstehenden Entscheidungen habe der Angeklagte stets seinen Vater um Rat gefragt. Der Angeklagte plane eine Ausbildung
  186. zum Dachdecker bei seinem Arbeitgeber, um sich dann gemeinsam mit seinem
  187. Vater als Dachdecker selbstständig zu machen. Seine in Italien lebende Freundin, mit der er seit fünf Jahren eine Beziehung führe, wolle er zeitnah heiraten.
  188. 11
  189. b) Das Landgericht hat auf den Angeklagten B.
  190. Jugendstrafrecht an-
  191. gewandt und gemäß § 17 Abs. 2 JGG wegen schädlicher Neigungen auf Jugendstrafe erkannt.
  192. -7-
  193. 12
  194. Die Anwendung von Jugendstrafrecht hat die Jugendkammer damit begründet, dass es dem Angeklagten bisher nicht gelungen sei, sich von seiner
  195. Familie zu lösen. Er meide eigenverantwortliche Entscheidungen. Auch sein
  196. sozialer Umgang sei auf seine Familie und den Angeklagten S.
  197. be-
  198. schränkt. Seine schlechten Deutschkenntnisse hätten den Aufbau eines eigenen gleichaltrigen Freundeskreises verhindert und dazu geführt, dass er zur
  199. Tatzeit noch stark von seiner Familie abhängig gewesen sei. In den Taten
  200. komme zum Ausdruck, dass er naiv gehandelt hätte und noch nicht über das
  201. bei einem ausgereiften Heranwachsenden zu erwartende Konfliktmanagement
  202. und die nötige Kontrolle seiner Emotionen verfügt habe. So habe er gemeinsam
  203. mit dem Angeklagten S.
  204. Sk.
  205. in der bloßen Hoffnung, von Ma.
  206. und
  207. den für das Kilogramm Marihuana vereinbarten Kaufpreis in Höhe von
  208. 5.000 € zu erhalten, den beiden das Marihuana ohne Sicherheit und ohne Anzahlung überlassen. Deren anhaltende Zahlungsverweigerung habe ihn dazu
  209. gebracht, nur wegen 5.000 € den Schuss aus dem Auto heraus zu ermöglichen.
  210. Ein solches aus Verärgerung entstandenes Verhalten unter billigender Inkaufnahme des Todes eines Menschen entspräche eher jugendtypischen Verhaltensmustern als dem Bild eines ausgereiften und selbst kontrollierten Heranwachsenden. Der mangelnde Anschluss an Altersgenossen habe sich auch
  211. nach seiner Inhaftierung fortgesetzt, in der Haft habe er vor allem die von jüngeren Gefangenen genutzten Fortbildungsmöglichkeiten in Anspruch genommen.
  212. Darüber hinaus sprächen auch die Zukunftspläne des Angeklagten in Form von
  213. „Tagträumen“ für eine für Jugendliche und nicht ausgereifte Heranwachsende
  214. typische Selbstüberschätzung. So plane der bisher nur als Arbeiter in einer
  215. Zimmerei beschäftigte und nur wenig Deutsch sprechende Angeklagte bereits,
  216. eine Ausbildung als Zimmermann zu absolvieren, nach deren erfolgreichem
  217. Abschluss eine eigene Firma zu gründen und sich als Zimmermann selbstständig zu machen. Er plane also nicht in rationaler Weise einen Schritt nach dem
  218. -8-
  219. anderen, sondern überspiele seine Unsicherheit durch den Wunsch zur frühen
  220. Selbstständigkeit. In die gleiche Richtung ziele sein Wunsch, seine in Italien
  221. lebende Verlobte zu heiraten und eine Familie zu gründen. Zwar sei er eigener
  222. Einlassung zufolge bereits seit fünf Jahren mit seiner Verlobten in einer Beziehung, doch habe sich diese Beziehung mit Ausnahme der wenigen Besuche
  223. des Angeklagten in Italien auf bloße Kommunikation per Telefon beschränkt,
  224. das Bild dieser Beziehung entspräche daher zumindest derzeit noch nicht der
  225. einer gefestigten Beziehung, die Grundlage für eine Heirat und die Gründung
  226. einer Familie sei und als Indiz für eine eigenständige und konkrete Lebensplanung herangezogen werden könnte.
  227. II. Revisionen der Angeklagten
  228. 13
  229. Der Schuldspruch und der Strafausspruch enthalten keine Rechtsfehler
  230. zum Nachteil der Angeklagten. Insoweit und hinsichtlich der Verfahrensrügen
  231. wird auf die Antragsschriften des Generalbundesanwalts Bezug genommen.
  232. 14
  233. Lediglich ergänzend bemerkt der Senat, dass die Beweiswürdigung der
  234. Jugendkammer, auf die sie ihre Überzeugung stützt, die Schussabgabe sei
  235. durch den Beifahrer S.
  236. erfolgt, nicht zu beanstanden ist. Sie beruht auf
  237. einer bewertenden Gesamtschau aller maßgeblichen objektiven und subjektiven Tatumstände des Einzelfalles. Die von der Strafkammer in diesem Zusammenhang angestellten Erwägungen sind weder lückenhaft, widersprüchlich oder
  238. unklar noch verstoßen sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze. Insbesondere hat die Strafkammer aus der enormen Geschwindigkeit der
  239. Tatausführung und dem Fehlen auffälliger Bewegungen im Fahrzeuginneren
  240. ein Abfeuern des Schusses durch den Beifahrer S.
  241. und eine Schussabgabe durch den Fahrer B.
  242. für erwiesen erachtet
  243. mit überzeugenden Erwägun-
  244. -9-
  245. gen, auch unter Berücksichtigung möglicher Positionen bzw. Armhaltungen des
  246. Schützen, ausgeschlossen.
  247. III. Revision der Staatsanwaltschaft
  248. 15
  249. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.
  250. 16
  251. Die Jugendkammer hat auf den zur Tatzeit heranwachsenden Angeklagten Jugendstrafrecht angewendet, da er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen
  252. und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichgestanden habe
  253. (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG). Die Jugendkammer hat die Anwendung von Jugendstrafrecht rechtsfehlerfrei begründet.
  254. 17
  255. Gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG ist auf einen Heranwachsenden Jugendstrafrecht anzuwenden, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit
  256. der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand. Einem Jugendlichen gleichzustellen ist der noch ungefestigte und prägbare Heranwachsende, bei dem Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind. Ist das nicht der Fall und stehen Reiferückstände
  257. nicht im Vordergrund, hat der Täter vielmehr die einen jungen Erwachsenen
  258. kennzeichnende Ausformung erfahren, ist auf ihn allgemeines Strafrecht anzuwenden (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 23. Oktober 1958 – 4 StR 327/58,
  259. BGHSt 12, 116, 118; vom 16. Januar 1968 – 1 StR 604/67, BGHSt 22, 41, 42;
  260. vom 6. Dezember 1988 – 1 StR 620/88, BGHSt 36, 37, 39; vom 20. Mai 2002
  261. – 2 StR 2/02, BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 1 Entwicklungsstand 8 und vom
  262. 20. Mai 2014 – 1 StR 610/13, NStZ 2015, 230 f.). Ob dies der Fall ist, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit und unter Berücksichtigung
  263. - 10 -
  264. der sozialen Lebensbedingungen und Umweltbedingungen zu beurteilen. Dem
  265. Tatrichter steht hierbei ein weiter Beurteilungsspielraum zu (BGH, Urteile vom
  266. 6. Dezember 1988 – 1 StR 620/88, BGHSt 36, 37 f. mwN; vom 11. März 2003
  267. – 1 StR 507/02, NStZ-RR 2003, 186 ff. und vom 20. Mai 2014 – 1 StR 610/13,
  268. NStZ 2015, 230 f.; Beschluss vom 14. August 2012 – 5 StR 318/12, NStZ 2013,
  269. 289 f.). Diesen Beurteilungsspielraum hat die Jugendkammer nicht überschritten. Ihr ist auch nicht aus dem Blick geraten, dass der Angeklagte eine nicht
  270. unbedeutende Rolle bei dem dem Tötungsdelikt vorausgegangenen Drogengeschäft gespielt hat.
  271. Raum
  272. Bellay
  273. Bär
  274. Fischer
  275. Hohoff