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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 24/12
vom
27. Juni 2012
in der Betreuungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 1906
a) Das Anbringen von Bettgittern sowie die Fixierung im Stuhl mittels eines
Beckengurts stellen freiheitsentziehende Maßnahmen im Sinne des § 1906
Abs. 4 BGB dar, wenn der Betroffene durch sie in seiner körperlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Dieses ist dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffene zu einer willensgesteuerten Aufenthaltsveränderung in der Lage wäre, an der er durch die Maßnahmen gehindert wird.
b) Das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen wird nicht dadurch verletzt, dass
die Einwilligung eines von ihm Bevollmächtigten in eine freiheitsentziehende
Maßnahme der gerichtlichen Genehmigung bedarf.
BGH, Beschluss vom 27. Juni 2012 - XII ZB 24/12 - LG Heilbronn
AG Heilbronn
-2-
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. Juni 2012 durch den
Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Dr. Klinkhammer, Dr. Günter,
Dr. Nedden-Boeger und Dr. Botur
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerden gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer
des Landgerichts Heilbronn vom 15. Dezember 2011 werden zurückgewiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei.
Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Beschwerdewert: 3.000 €
Gründe:
I.
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Die 1922 geborene Betroffene erteilte ihrem Sohn und ihrer Tochter, den
Beteiligten zu 1 und 2, am 11. September 2000 notarielle Vollmacht,
"mich soweit gesetzlich zulässig, in allen persönlichen Angelegenheiten, auch soweit sie meine Gesundheit betreffen, sowie in allen
Vermögens-, Steuer- und sonstigen Rechtsangelegenheiten in jeder denkbaren Hinsicht zu vertreten und Entscheidungen für mich
und an meiner Stelle ohne Einschaltung des Vormundschaftsgerichts zu treffen und diese auszuführen bzw. zu vollziehen (General- und Vorsorgevollmacht)."
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Weiter ist in § 3 der Vollmacht unter der Überschrift "Unterbringung" geregelt:
"Die Vollmacht berechtigt dazu, meinen Aufenthalt zu bestimmen.
Die Generalvollmacht umfasst auch die Befugnis zu Unterbringungsmaßnahmen im Sinne von § 1906 BGB, insbesondere zu
einer Unterbringung, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist,
zur sonstigen Unterbringung in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung sowie zur Vornahme von sonstigen
Freiheitsentziehungsmaßnahmen durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente o.a. auch über einen längeren Zeitraum."
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In Ausübung der Vollmacht hat der Sohn eingewilligt, Bettgitter am Bett
der Betroffenen anzubringen und sie tagsüber im Stuhl mittels eines Beckengurts zu fixieren, nachdem die Betroffene mehrfach gestürzt war und sich dabei
auch einen Kieferbruch zugezogen hatte.
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Auf Anregung des Sohns hat das Betreuungsgericht die Einwilligung befristet genehmigt. Hiergegen hat der Sohn im eigenen Namen und im Namen
der Betroffenen Beschwerde eingelegt, mit der er rügt, dass eine betreuungsgerichtliche Genehmigung der Einwilligung aufgrund der ihm umfassend erteilten
Vollmacht entbehrlich sei und die Betroffene durch die Durchführung des - auch
mit Kosten verbundenen - Genehmigungsverfahrens in ihrem grundrechtlich
gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht verletzt werde. Das Landgericht hat
die Beschwerden zurückgewiesen. Hiergegen wenden sich die Betroffene und
der Sohn mit ihren Rechtsbeschwerden.
-4-
II.
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Die zulässigen Rechtsbeschwerden sind in der Sache nicht begründet.
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1. Die Rechtsbeschwerden sind zulässig erhoben. Gemäß § 70 Abs. 3
Satz 1 Nr. 2 FamFG ist die Rechtsbeschwerde in Unterbringungssachen ohne
Zulassung statthaft. Zu den Unterbringungssachen gehört gemäß § 312 Nr. 2
FamFG auch die Genehmigung einer unterbringungsähnlichen Maßnahme
nach § 1906 Abs. 4 BGB. Dies umfasst auch die nach § 1906 Abs. 5 BGB in
Verbindung mit Absatz 4 der Vorschrift zu erteilende Genehmigung der durch
einen Bevollmächtigten zu ergreifenden unterbringungsähnlichen Maßnahme.
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2. Das Landgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt
begründet: Durch die General- und Vorsorgevollmacht vom 11. September
2000 habe die Betroffene nicht auf das betreuungsgerichtliche Verfahren zur
Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen verzichtet. Die Regelung des
§ 1906 Abs. 2 BGB, auf die § 1906 Abs. 4 BGB Bezug nehme, konkretisiere die
Verfahrensgarantie des Art. 104 Abs. 2 GG. Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung habe danach ein Richter zu entscheiden. Dieser
formale Schutz der Freiheit könne nicht durch rechtsgeschäftliche Erklärung
eines Betroffenen aufgegeben werden. Es könne auch nicht angenommen werden, dass mit der notariellen General- und Vorsorgevollmacht auf diesen
Schutz verzichtet werden sollte. Vermieden werden sollte durch die Vollmacht
nur die Einrichtung einer Betreuung.
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Die materiellen Voraussetzungen für die Genehmigung der freiheitsentziehenden Maßnahmen seien gegeben.
9
3. Die angegriffene Entscheidung des Beschwerdegerichts hält einer
rechtlichen Überprüfung und den Angriffen der Rechtsbeschwerden stand.
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a) Gemäß § 1906 Abs. 4 BGB gelten die Vorschriften über die Unterbringung eines Betreuten (Absätze 1 bis 3 der Vorschrift) entsprechend, wenn dem
Betreuten, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen,
Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll. Diese Regelung schützt - ebenso wie
Absatz 1 bis 3 der Vorschrift - die körperliche Bewegungsfreiheit und die Entschließungsfreiheit zur Fortbewegung im Sinne der Aufenthaltsfreiheit (BGHZ
145, 297, 301 f. = FamRZ 2001, 149, 150). Das Anbringen von Bettgittern sowie die Fixierung im Stuhl mittels eines Beckengurts stellen freiheitsentziehende Maßnahmen in diesem Sinne dar, wenn der Betroffene durch sie in seiner
körperlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Dieses ist jedenfalls dann
der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffene zu willensgesteuerten Aufenthaltsveränderungen in der Lage wäre, an denen er
durch die Maßnahme über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig gehindert
wird (vgl. OLG Hamm FamRZ 1993, 1490; MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl.
§ 1906 Rn. 39). Hiervon ist bei einem Beckengurt regelmäßig und bei einem
Bettgitter zumindest dann auszugehen, wenn nicht ausgeschlossen werden
kann, dass der Betroffene in der Lage wäre, das Bett durch seinen natürlichen
Willen gesteuert zu verlassen.
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Im vorliegenden Fall sind die Merkmale freiheitsentziehender Maßnahmen erfüllt, da die Betroffene nach Angaben des Pflegepersonals noch in der
Lage ist, selbständig sowohl aus dem Bett als auch aus dem Stuhl aufzustehen.
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b) Gemäß § 1906 Abs. 5 Satz 1 BGB sind die Unterbringung und die
Einwilligung in freiheitsentziehende Maßnahmen durch einen Bevollmächtigten
zulässig, wenn die Vollmacht schriftlich erteilt ist und die genannten Maßnahmen ausdrücklich umfasst. Für den Fall ordnet § 1906 Abs. 5 Satz 2 i.V.m.
-6-
Abs. 4 BGB an, dass Absatz 2 der Vorschrift entsprechend gilt. Darin ist bestimmt, dass die Maßnahme nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig ist.
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c) Auf die durch diese Vorschrift angeordnete gerichtliche Überprüfung
der durch den Bevollmächtigten erteilten Einwilligung kann der Betroffene nicht
vorgreifend verzichten (Walter FamRZ 1999, 685, 691; MünchKommBGB/
Schwab 6. Aufl. § 1906 Rn. 119; Erman/Roth BGB 13. Aufl. § 1906 Rn. 63).
Das folgt aus der Natur des Überprüfungsgegenstands.
14
Der Genehmigungsvorbehalt des § 1906 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 BGB dient
dem Schutz des Betroffenen. Einerseits sah der Gesetzgeber in der Regelung
eine Stärkung der Fähigkeit des Betroffenen, in voller geistiger Klarheit durch
die Vorsorgevollmacht über sein künftiges Wohl und Wehe entscheiden zu können. Andererseits wollte der Gesetzgeber sichergestellt wissen, dass einschneidende Maßnahmen, in die der Bevollmächtigte einwilligt, vom Vormundschaftsgericht kontrolliert werden (vgl. BT-Drucks. 13/7158 S. 34).
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Das Betreuungsgericht hat daher - zum Schutz des Betroffenen - nicht
nur zu überprüfen, ob die Vorsorgevollmacht rechtswirksam erteilt ist, ob sie die
Einwilligung in freiheitsentziehende Maßnahmen umfasst und auch nicht zwischenzeitlich widerrufen ist, sondern insbesondere, ob die Vollmacht dadurch in
Kraft gesetzt ist, dass eine Gefährdungslage nach § 1906 Abs. 1 BGB vorliegt.
Unter die Kontrolle des Betreuungsgerichts ist damit nicht die in Ausübung des
Selbstbestimmungsrechts erfolgte Entscheidung des Betroffenen gestellt, sondern die gesetzesgemäße Handhabung der Vorsorgevollmacht durch den Bevollmächtigten. Damit soll sichergestellt werden, dass die Vorsorgevollmacht im
Sinne des Betroffenen ausgeübt wird. Diese Kontrolle dient der Sicherung des
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- in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts - artikulierten Willens des Betroffenen (BVerfG FamRZ 2009, 945, 947).
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d) Zwar stellt die unverzichtbare gerichtliche Kontrolle zugleich eine Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen dar, indem ihm die
Möglichkeit genommen wird, eine Vorsorgevollmacht über freiheitsentziehende
Maßnahmen frei von gerichtlicher Kontrolle zu erteilen. Diese Beschränkung ist
jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet das
Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht schrankenlos, sondern
nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung. Diese sieht ein Genehmigungsverfahren nach § 1906 Abs. 2 BGB zwingend vor, dessen Verhältnismäßigkeit angesichts der möglichen Tragweite freiheitsentziehender Maßnahmen
außer Zweifel steht.
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e) Gegen das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen für die Genehmigung der freiheitsentziehenden Maßnahme haben die Rechtsbeschwerden nichts erinnert. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist die angegriffene Entscheidung auch insoweit aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Dose
Klinkhammer
Nedden-Boeger
Günter
Botur
Vorinstanzen:
AG Heilbronn, Entscheidung vom 23.09.2011 - 5 XVII 362/11 LG Heilbronn, Entscheidung vom 15.12.2011 - 1 T 437/11 Ri -