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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 173/11
vom
29. September 2011
in der Abschiebungshaftsache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
AufenthG § 72 Abs. 4 Satz 1
Fehlen in einem zulässigen Haftantrag die objektiv erforderlichen Angaben zu dem
Einvernehmen der Strafverfolgungsbehörden mit der Abschiebung, kann die zunächst rechtswidrige Haft durch die spätere Erteilung des Einvernehmens erst dann
rechtmäßig werden, wenn dem Betroffenen insoweit rechtliches Gehör gewährt wird.
BGH, Beschluss vom 29. September 2011 - V ZB 173/11 - LG Frankfurt (Oder)
AG Frankfurt (Oder)
-2-
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. September 2011 durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richterin Dr. Stresemann, den
Richter Dr. Czub und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss
der 5. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt/Oder vom 7. April
2011 unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen geändert. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts
Frankfurt/Oder vom 8. März 2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat und seine Inhaftierung in Abschiebungshaft in der
Zeit vom 8. März 2011 bis zum 7. April 2011 rechtswidrig war.
Die dem Betroffenen in allen Instanzen entstandenen zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen werden
zu 40 % dem Landkreis U.
auferlegt. Im Übrigen findet
eine Auslagenerstattung nicht statt. Gerichtskosten werden nicht
erhoben.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
3000 €.
- 3 -
Gründe:
I.
1
Der Betroffene, ein vietnamesischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 1. November 2008 in die Bundesrepublik Deutschland ein
und war nach einem erfolglosen Asylverfahren ausreisepflichtig. Am 8. März
2011 wurde er von Polen nach Deutschland rücküberstellt. Mit Beschluss vom
gleichen Tage hat das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde bis
längstens 8. Juni 2011 die Haft zur Sicherung seiner Abschiebung angeordnet.
Die Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht nach seiner Anhörung
am 7. April 2011 mit Beschluss vom gleichen Tag zurückgewiesen. Der Senat
hat den Antrag des Betroffenen auf Aussetzung des Vollzugs der Sicherungshaft im Wege der einstweiligen Anordnung zurückgewiesen (Beschluss vom
3. Mai 2011 - V ZA 10/11, juris). Mit der Rechtsbeschwerde begehrt er nach
seiner Abschiebung am 16. Mai 2011 die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung.
II.
2
Das Beschwerdegericht nimmt die Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1
Nr. 2 und 5 AufenthG an und meint, wegen des inzwischen erteilten Einvernehmens der ermittelnden Strafverfolgungsbehörden sei ein Verstoß gegen
§ 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht gegeben.
III.
3
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist nur teilweise begründet. Das Beschwerdegericht hat die Beschwerde insoweit zu Unrecht zurückgewiesen, als
die Haftanordnung und die auf ihr beruhende Inhaftierung bis zu seiner Entscheidung rechtswidrig waren.
- 4 -
4
1. Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf gemäß § 72 Abs. 4 Satz 1
AufenthG nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlen in dem Haftantrag - was von Amts wegen zu prüfen
ist - Ausführungen zu dem Einvernehmen, obwohl sich aus ihm selbst oder aus
den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass die öffentliche Klage oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist, ist der Antrag
unzulässig (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB
226/10, FGPrax 2011, 144 Rn. 9; Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB
224/10, FGPrax 2011, 148 Rn. 8 ff.). Im Übrigen ist die Verletzung von § 72
Abs. 4 Satz 1 AufenthG im Rechtsbeschwerdeverfahren nur auf entsprechende
Rüge zu berücksichtigen. Dabei ist es für die Verletzung der genannten
Rechtsnorm unerheblich, ob schon der Haftrichter Anhaltspunkte für eine diesbezügliche Prüfung hatte und ob es die den Antrag stellende Behörde pflichtwidrig unterlassen hat, in dem Haftantrag auf das schwebende Ermittlungsverfahren hinzuweisen und - was in einem solchen Fall ebenfalls erforderlich gewesen wäre - die Erteilung des Einvernehmens in dem Antrag darzulegen. Da
das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft eine essentielle Haftvoraussetzung
darstellt, kommt es insoweit allein auf die objektive Rechtslage an (Senat, Beschluss vom 12. Mai 2011 - V ZB 189/10, FGPrax 2011, 202 Rn. 5). Wird das
Einvernehmen erst nach der Haftanordnung erteilt, muss dem Betroffenen auch
zu dieser Haftvoraussetzung gemäß Art. 103 Abs. 1 GG rechtliches Gehör gewährt werden. Aus diesem Grund kann die zunächst rechtswidrige Haft nicht
bereits von der objektiven Erteilung des Einvernehmens an rechtmäßig werden,
sondern erst dann, wenn der Betroffene dazu Stellung nehmen kann.
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2. Gemessen daran, war der Haftantrag - was der Senat in der Entscheidung über die einstweilige Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungshaft
noch offen gelassen hat - zulässig. Weder aus ihm noch aus den beigefügten
- 5 -
Unterlagen ergab sich, dass gegen den Betroffenen strafrechtliche Ermittlungsverfahren anhängig waren. Allerdings hat das Amtsgericht den Betroffenen dem
Anhörungsprotokoll zufolge darüber belehrt, dass ein Aussageverweigerungsrecht nur Angaben umfasse, "die das gegen ihn anhängige Strafverfahren betreffen". Daraus könnte möglicherweise zu folgern sein, dass das Amtsgericht
auf anderem Wege Kenntnis von den strafrechtlichen Ermittlungen gegen den
Betroffenen erlangt hatte. Selbst wenn das der Fall gewesen sein sollte, wurde
dadurch aber nicht der in sich schlüssige Antrag der Beteiligten zu 2 unzulässig, sondern das Amtsgericht hätte die Erteilung des Einvernehmens gemäß
§ 26 FamFG aufklären und den Antrag gegebenenfalls zurückweisen müssen.
Insoweit rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass das Einvernehmen mehrerer Strafverfolgungsbehörden tatsächlich erforderlich war und entgegen § 72
Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht vorlag. Die Staatsanwaltschaft Dresden und das
Hauptzollamt Berlin haben ihr Einvernehmen erst nach der Inhaftierung am 11.
März 2011 schriftlich erteilt. Von Seiten der Staatsanwaltschaft Berlin ist es den
Angaben zufolge, die der Vertreter der Beteiligten zu 2 in der mündlichen Anhörung gemacht hat, am 15. März 2011 erteilt worden. Damit lagen die objektiven
Haftvoraussetzungen erst von diesem Tag an vor.
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3. Die zunächst rechtswidrige Haft ist in der Beschwerdeinstanz rechtmäßig geworden, weil das Beschwerdegericht dem Betroffenen ausweislich des
Anhörungsprotokolls insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.
7
4. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83
Abs. 2, § 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der
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Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, den Landkreis U.
, dem die beteiligte Behörde angehört, zur Erstattung eines Teils
der notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten. Die Kostenquote
entspricht dem Verhältnis des gesamten Haftzeitraums zu dem Zeitraum, für
den das Rechtsmittel Erfolg hat. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt
aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Krüger
Stresemann
Brückner
Czub
Weinland
Vorinstanzen:
AG Frankfurt (Oder), Entscheidung vom 08.03.2011 - 4 XIV 6/11 LG Frankfurt (Oder), Entscheidung vom 07.04.2011 - 15 T 28/11 -