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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 163/15
vom
1. Juni 2017
in der Abschiebungshaftsache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
AufenthG § 62 Abs. 3 Satz 3
a) Die Haftfähigkeit des Betroffenen zu prüfen, ist Aufgabe des Haftrichters.
b) Ob die fehlende oder eingeschränkte Reisefähigkeit eine Aussetzung der Abschiebung (vgl. etwa § 60a Abs. 2 AufenthG) oder begleitende Maßnahmen erforderlich macht, haben dagegen die beteiligte Behörde und die Verwaltungsgerichte
zu
prüfen.
Der
Haftrichter
hat
nach
§
62
Abs.
3
Satz
3
AufenthG nur festzustellen, ob die Abschiebung nach den von der beteiligten Behörde ergriffenen Maßnahmen und im Hinblick auf etwaige von dem Betroffenen
bei den Verwaltungsgerichten eingeleitete Verfahren voraussichtlich durchgeführt
werden kann.
BGH, Beschluss vom 1. Juni 2017 - V ZB 163/15 - LG Münster
AG Borken
ECLI:DE:BGH:2017:010617BVZB163.15.0
-2-
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 1. Juni 2017 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterinnen Prof. Dr. SchmidtRäntsch und Dr. Brückner, den Richter Dr. Göbel und die Richterin Haberkamp
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 5. Zivilkammer
des Landgerichts Münster vom 30. Oktober 2015 wird auf Kosten
des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
5.000 €.
Gründe:
I.
1
Der Betroffene reiste am 26. September 1996 erstmals nach Deutschland ein und wurde nach einem erfolglosen Asylverfahren am 20. Juni 2006 in
sein Heimatland Guinea abgeschoben. Am 24. November 2011 reiste er erneut
nach Deutschland ein und stellte wiederum einen Asylantrag, den das zuständige Bundesamt mit Bescheid vom 10. Januar 2012 ablehnte. Eine für den
2. April 2012 angekündigte Abschiebung scheiterte daran, dass der Betroffene
in
seiner
Unterkunft
nicht
angetroffen
wurde
und
untertauchte.
Am
13. August 2015 wurde er aus den Niederlanden nach Deutschland rücküberstellt.
-3-
2
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss
vom 13. August 2015 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung von dessen
Abschiebung nach Guinea bis zum 13. November 2015 angeordnet. Die Beschwerde des Betroffenen ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde
möchte er nach Auslaufen der Haft die Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit erreichen.
II.
3
Nach Ansicht des Beschwerdegerichts war die angeordnete Haft rechtmäßig. Der Haftantrag sei zulässig gewesen. Der Haftgrund nach § 62 Abs. 3
Satz 1 Nr. 3 AufenthG habe vorgelegen. Der Betroffene habe sich der Abschiebung am 2. April 2012 entzogen und sei dann untergetaucht. Er habe im Beschwerdeverfahren seine Reiseunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht. Sie liege
auch eher fern, weil er vor Beginn der Haft aus den Niederlanden rücküberstellt
worden sei.
III.
4
Diese Erwägungen halten im Ergebnis einer rechtlichen Prüfung stand.
5
1. Das Beschwerdegericht musste den Betroffenen im Beschwerdeverfahren nicht erneut persönlich anhören. Etwas anderes ergibt sich entgegen
dessen Ansicht nicht daraus, dass er Zweifel an seiner Reisefähigkeit dargelegt
und die Notwendigkeit einer begleiteten Abschiebung geltend gemacht hat.
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a) Allerdings verletzt die Aufrechterhaltung der angeordneten Sicherungshaft durch das Beschwerdegericht die Rechte des Betroffenen nach
Art. 104 Abs. 1 GG, wenn dessen zwingend gebotene erneute persönliche Anhörung unterbleibt; es kommt in diesem Fall auch nicht darauf an, ob die Haft in
der Sache zu Recht aufrechterhalten worden ist. Das Beschwerdegericht ist
-4-
indessen im Unterschied zum Haftrichter nicht in jedem Fall verpflichtet, den
Betroffenen vor seiner Entscheidung (erneut) persönlich anzuhören. Es darf
davon vielmehr unter den in § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG genannten Voraussetzungen absehen. Zu einer Verletzung der Rechte des Betroffenen nach Art. 2
Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 GG führt ein Absehen von der erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren deshalb nur, wenn
diese Voraussetzungen nicht vorlagen und die Anhörung auch im Beschwerdeverfahren zwingend geboten war (Senat, Beschluss vom 14. April 2016
- V ZB 112/15, juris Rn. 12 mwN).
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b) Das war hier nicht der Fall.
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aa) Im Verlauf des Beschwerdeverfahrens hat der Betroffene allerdings
unter Vorlage eines ärztlichen Attestes bezweifelt, ob er im Hinblick auf eine
posttraumatische Belastungsstörung reisefähig sei. Die posttraumatische Belastungsstörung eines Betroffenen kann zwar auch im Verfahren der Freiheitsentziehung Bedeutung erlangen. Uneingeschränkt gilt das aber nur, wenn sie dessen Haftfähigkeit in Frage stellt. Denn diese zu prüfen ist Aufgabe des Haftrichters. Anders liegt es dagegen, wenn Bedenken gegen die Reisefähigkeit des
Betroffenen erhoben und begleitende Maßnahmen gefordert werden. Ob die
fehlende oder eingeschränkte Reisefähigkeit eine Aussetzung der Abschiebung
(vgl. etwa § 60a Abs. 2 AufenthG) oder begleitende Maßnahmen erforderlich
macht, haben die beteiligte Behörde und die Verwaltungsgerichte zu prüfen.
Der Haftrichter hat nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nur festzustellen, ob die
Abschiebung nach den von der beteiligten Behörde ergriffenen Maßnahmen
und im Hinblick auf etwaige von dem Betroffenen bei den Verwaltungsgerichten
eingeleitete Verfahren voraussichtlich durchgeführt werden kann. Dazu hat er
eigene Ermittlungen anzustellen; insbesondere muss er sich über den Stand
und die Erfolgsaussichten eines behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen
-5-
Verfahrens erkundigen, in dem über das Vorliegen etwaiger Abschiebungshindernisse oder die Notwendigkeit begleitender Maßnahmen entschieden wird
(zum Ganzen: Senat, Beschluss vom 14. April 2016 - V ZB 112/15, juris
Rn. 16).
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bb) Danach bestimmt sich auch, wann das Beschwerdegericht den Betroffenen gemäß § 68 Abs. 3, § 420 FamFG erneut anzuhören hat. Das ist nicht
schon dann der Fall, wenn sich im Beschwerdeverfahren Anzeichen für das
Vorliegen eines Abschiebungshindernisses ergeben, sondern nur, wenn sich
entweder neue Anhaltspunkte für die Haftunfähigkeit des Betroffenen oder ausreichende neue Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es aufgrund des möglichen
Abschiebungshindernisses zu einem Abbruch oder einer im angeordneten Haftzeitraum nicht zu bewältigenden Verzögerung der geplanten Abschiebung
kommen könnte. Fehlt es an solchen Anhaltspunkten, kann das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 FamFG von einer erneuten Anhörung des Betroffenen
absehen (Senat, Beschlüsse vom 10. Oktober 2012 - V ZB 274/11, FGPrax
2013, 40 Rn. 11 und vom 14. April 2016 - V ZB 112/15, juris Rn. 14).
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cc) Danach musste das Beschwerdegericht den Betroffenen nicht persönlich anhören.
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(1) Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene haftunfähig sein könnte bestanden nicht. Dieser hatte seine Reisefähigkeit bezweifelt und in der ergänzenden Stellungnahme vom 26. Oktober 2015 nur die Ansicht vertreten, die
beteiligte Behörde habe zu prüfen, ob er derart krank sei, dass er nicht reisefähig oder gar haftunfähig sei, was aber auf dasselbe hinauslaufe. Er hat aber im
Beschwerdeverfahren nicht einmal behauptet, dass er nicht haftfähig sei, oder
dass er dies während der zu diesem Zeitpunkt schon etwa zwei Monate dauernden Sicherungshaft der Vollzugsverwaltung gegenüber geltend gemacht
habe. Im Rechtsbeschwerdeverfahren macht er auch nur geltend, das Be-
-6-
schwerdegericht habe seiner Reisefähigkeit und der Notwendigkeit einer begleiteten Abschiebung nachgehen müssen.
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(2) Dazu war das Beschwerdegericht indessen nicht verpflichtet. Es hatte
der Frage der Reisefähigkeit nicht nachzugehen, sondern nur zu prüfen, ob die
beteiligte Behörde das Vorbringen des Betroffenen zum Anlass nahm, dieser
Frage nachzugehen und von der Abschiebung vorerst abzusehen oder eine
begleitete Abschiebung vorzusehen oder ob der Betroffene selbst wegen der
Zweifel an seiner Reisefähigkeit und der Notwendigkeit einer begleiteten Abschiebung die Verwaltungsgerichte anrufen würde. Entsprechendes gilt für die
weitere Frage, ob die posttraumatische Belastungsstörung, die der Betroffene
geltend gemacht hatte, eine begleitete Abschiebung erforderlich machte. In diesem eingeschränkten Prüfungsrahmen zu berücksichtigende Umstände lagen
nicht vor. Der Betroffene hatte weder mitgeteilt, die Verwaltungsgerichte angerufen zu haben, noch, dies noch tun zu wollen. Die beteiligte Behörde hat in
ihrer Stellungnahme mitgeteilt, der Betroffene werde erforderlichenfalls vor der
Abschiebung noch einmal medizinisch untersucht. Es erscheine aber nicht
plausibel, dass er reiseunfähig sei, zumal er kürzlich erst aus den Niederlanden
rücküberstellt worden sei. Es sei Sache des Betroffenen, gegebenenfalls bei
den Verwaltungsgerichtsgerichten Rechtsschutz zu beantragen. Daraus ergab
sich, dass die beteiligte Behörde keine Veranlassung sah, ihre Planungen zu
ändern. Damit bestand für das Beschwerdegericht kein Anlass zu einer erneuten persönlichen Anhörung.
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2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
Stresemann
Schmidt-Räntsch
Göbel
Brückner
Haberkamp
Vorinstanzen:
AG Borken, Entscheidung vom 13.08.2015 - 29 XIV (B) 17/15 LG Münster, Entscheidung vom 30.10.2015 - 5 T 538/15 -