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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 35/08
vom
23. April 2009
in dem Verbraucherinsolvenzverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
nein
ZPO § 850f Abs. 1; InsO § 36 Abs. 1, 4
Kosten für medizinische Behandlungsmethoden, die von der gesetzlichen Krankenkasse nicht übernommen werden, rechtfertigen in der Regel auch keine Erhöhung
des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens.
BGH, Beschluss vom 23. April 2009 - IX ZB 35/08 - LG Verden
AG Verden
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Dr. Ganter und die Richter Raebel, Vill, Dr. Fischer und Dr. Pape
am 23. April 2009
beschlossen:
Der Schuldnerin wird zur Durchführung des Rechtsbeschwerdeverfahrens gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Verden vom 7. Januar 2008 Prozesskostenhilfe bewilligt. Sie
hat monatliche Raten von 45 € ab 1. Juni 2009 an die Bundeskasse zu zahlen. Ihr wird Rechtsanwalt Dr. Schott beigeordnet.
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer
des Landgerichts Verden vom 7. Januar 2008 wird auf Kosten der
Schuldnerin zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf
7.266 € festgesetzt.
Gründe:
I.
1
Durch Beschluss vom 3. Januar 2006 wurde über das Vermögen der
Schuldnerin das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet. Mit Schreiben vom
5. Februar 2007 beantragte sie, den pfandfreien Betrag zu erhöhen, da sie
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Mehraufwendungen für therapeutische Maßnahmen habe. Sie leide an einer
Somatisierungsstörung, einer Dysthymia sowie einer kombinierten Persönlichkeitsstörung. Zur Behandlung seien neben den ihr von der gesetzlichen Krankenkasse zur Verfügung gestellten Methoden eine multimodale Therapie mit
energetischen Massagen, Osteopathie etc. sowie Aura-Gruppensitzungen erforderlich. Zur Begründung bezog sie sich auf verschiedene Bescheinigungen
behandelnder Ärzte. Für die energetischen Massagen fielen 14-tägig Kosten
von 26 €, für die Aura-Gruppensitzungen 14-tägig Kosten in Höhe von 23 € an.
Hinzu kämen unregelmäßig Mehrkosten für Medikamente. Die Kostenübernahme wurde von der gesetzlichen Krankenkasse abgelehnt, da die Voraussetzungen für eine Erstattungsfähigkeit der Kosten dieser alternativen Behandlungsmethoden nicht erfüllt seien.
2
Das Amtsgericht hat den Antrag der Beschwerdeführerin zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Mit der
zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Schuldnerin ihr Begehren weiter,
ihr von dem pfändbaren Teil ihres Einkommens monatlich 173 € zu belassen.
II.
3
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 793
ZPO, weil sie vom Landgericht zugelassen worden ist, § 36 Abs. 1 und 4 InsO
(vgl. BGH, Beschl. v. 5. Februar 2004 - IX ZB 97/03, WM 2004, 834, 835; v.
6. Mai 2004 - IX ZB 104/04, ZIP 2004, 1379; vom 6. Juli 2006 - IX ZB 220/04,
KTS 2007, 353). Hieran ist das Rechtsbeschwerdegericht gebunden, § 574
Abs. 3 Satz 2 ZPO. Die Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig, § 575
Abs. 1 bis 3 ZPO.
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II.
4
Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Landgericht hat richtig entschieden.
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1. Das Landgericht meint, die Schuldnerin habe das besondere Bedürfnis
im Sinne des § 850f Abs. 1 Buchst. b ZPO nicht hinreichend dargelegt. Besondere Bedürfnisse in diesem Sinne lägen vor, wenn besondere medizinisch indizierte Therapien besondere Kosten verursachten, die nicht durch die gesetzliche Krankenkasse übernommen würden. Hierfür sei aber nicht ausreichend,
dass die fragliche Therapie lediglich hilfreich oder sinnvoll sei. Vielmehr sei wegen der erforderlichen Abwägung der Gläubigerinteressen mit dem Schuldnerschutz zu fordern, dass ein objektivierbares, besonderes Bedürfnis des Schuldners bestehe, auf das billigerweise bei der Vollstreckung Rücksicht zu nehmen
sei. Derartige Bedürfnisse lägen im Hinblick auf medizinische Behandlungen
nur vor, wenn dem Schuldner nicht zugemutet werden könne, aus wirtschaftlichen Gründen eine erforderliche Behandlung zu unterlassen. Hierfür müsse die
Behandlung dergestalt indiziert sein, dass der Betroffene auf sie aus medizinischen Gründen zwingend angewiesen sei, um eine Besserung seiner Krankheit
oder ihrer Symptome zu erfahren oder einer Verschlechterung vorzubeugen.
Diese Wirkung der Behandlung müsse objektivierbar, also wissenschaftlich
nachgewiesen oder zumindest nachweisbar sein. Darüber hinaus müssten die
Kosten, die für die Therapie anfallen, verhältnismäßig sein, also in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen stehen.
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Diese Grundsätze lägen auch dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung zugrunde, so dass derartige Kosten regelmäßig nach § 850f Abs. 1
Buchst. b ZPO nicht zu berücksichtigen seien, wenn sie auch von der gesetzli-
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chen Krankenkasse mangels Indikation oder Wirtschaftlichkeit nicht erstattet
würden.
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Die Schuldnerin mache Kosten für alternative Behandlungsmethoden
geltend, die von der Krankenkasse unter den genannten besonderen Voraussetzungen gemäß § 12 SGB V zu übernehmen wären. Da die Krankenkasse
die Übernahme abgelehnt habe, sei der Vortrag der Schuldnerin zur medizinischen Indikation der Behandlung unzureichend. Insbesondere sei nicht ausreichend, dass sie lediglich Bestätigungen der zu behandelnden Ärzte vorgelegt
habe, nach denen die Behandlungen indiziert bzw. sinnvoll wirken könnten. Ersichtlich sei damit keine wissenschaftlich nachgewiesene medizinische Indikation gemeint, da die Schuldnerin zugleich davon ausgehe, keinen Anspruch auf
Kostenübernahme gegenüber der Krankenkasse zu haben. Deshalb sei kein
Gutachten über die medizinische Indikation der fraglichen Behandlungsmaßnahmen einzuholen gewesen.
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Aus denselben Gründen käme keine Erhöhung des pfändungsfreien Betrages aufgrund von Zuzahlungen zu Medikamenten in Betracht. Zuzahlungen
in üblicher Höhe seien ohnehin bei der Bemessung des Pauschalbetrages berücksichtigt.
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2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung im Ergebnis stand.
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a) Das Beschwerdegericht hat § 850f Abs. 1 Buchst. b ZPO zutreffend
ausgelegt. Ein besonderes Bedürfnis des Schuldners im Sinne dieser Vorschrift
setzt voraus, dass dieses konkret und aktuell vorliegt und außergewöhnlich in
dem Sinne ist, dass es bei den meisten Personen in vergleichbarer Lage nicht
auftritt (Hk-ZPO/Kemper, 2. Aufl. § 850f Rn. 5). Denn die Vorschrift dient dazu,
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einen Ausgleich zu schaffen, wenn der individuelle Bedarf durch die pauschal
unpfändbaren Einkommensteile aufgrund besonderer Umstände nicht gedeckt
werden kann (Zöller/Stöber, ZPO 27. Aufl. § 850f Rn. 1). Im Hinblick auf medizinische Behandlungen ist dies dann der Fall, wenn der Schuldner Beträge aufwenden muss, die ihm aus Anlass einer Krankheit entstehen (LG Düsseldorf
JurBüro 2006, 156; Stein/Jonas/Brehm, ZPO 22. Aufl. § 850f Rn. 4; Zöller/
Stöber, aaO § 850f Rn. 4; Musielak/Becker, ZPO 6. Aufl. § 850f Rn. 5; KessalWulf in Schuschke/Walker, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, 4. Aufl.
§ 850f ZPO Rn. 7), ohne dass die Kosten von der gesetzlichen Krankenkasse
übernommen werden. Davon umfasst sind grundsätzlich aus medizinischen
Gründen erforderliche Therapien. Zutreffend ist das Landgericht auch davon
ausgegangen, dass im Hinblick auf die erforderliche Abwägung zwischen Gläubigerinteressen und Schuldnerschutz zu fordern ist, dass ein objektivierbares
Bedürfnis des Schuldners bestehen muss, auf das billigerweise bei der Vollstreckung oder der Durchführung des Insolvenzverfahrens Rücksicht zu nehmen
ist. Hierfür genügt nicht, dass die fragliche Therapie hilfreich oder sinnvoll ist,
wie in den vorgelegten Attesten bestätigt wurde. Vielmehr liegt ein anzunehmendes Bedürfnis nur vor, wenn dem Schuldner nicht zugemutet werden kann,
aus wirtschaftlichen Gründen auf die Behandlung zu verzichten. Die Behandlung muss aus medizinischen Gründen erforderlich sein, um eine Besserung
der Krankheit oder ihrer Symptome zu erreichen oder einer Verschlechterung
vorzubeugen. Diese Wirkung muss objektivierbar, also für das Leiden des
Schuldners wissenschaftlich nachgewiesen sein. Darüber hinaus müssen die
Kosten für die Therapie verhältnismäßig sein, also individuell gerade beim
Schuldner in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen stehen. Dies ist tatrichterlich unter Würdigung aller Umstände festzustellen.
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b) Das Beschwerdegericht hat ebenfalls zutreffend gesehen, dass entsprechende Grundsätze dem Recht der gesetzlichen Krankenkassen zugrunde
liegen. Deren Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich
sein, dürfen aber das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen,
die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können die Versicherten nicht
beanspruchen. Andernfalls hat unter den genannten Voraussetzungen die gesetzliche Krankenkasse nach §§ 12, 13 SGB V die Kosten zu übernehmen. Dabei müssen die Behandlungsmethoden gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V nicht
zur Schulmedizin gehören.
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Nach neuem Recht ist allerdings in der gesetzlichen Krankenversicherung ein allgemeines Prüfungsverfahren eingeführt, in dem bei - in weitem Sinn
zu verstehenden - neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden die Leistungspflicht der Krankenkasse von der Anerkennung der Methode durch den
Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen nach § 135
SGB V abhängt. Eine unmittelbare Anwendung des § 12 SGB V im Einzelfall ist
daher nur außerhalb des Anwendungsbereiches des § 135 SGB V zulässig,
also wenn keine neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden vorliegen.
Innerhalb des Anwendungsbereiches des § 135 SGB V kommen Einzelfallentscheidungen der Krankenkassen und Sozialgerichte nur in Betracht, wenn die
Einleitung oder Durchführung des Verfahrens des Bundesausschusses nach
§ 135 SGB V willkürlich oder aus sachfremden Erwägungen blockiert oder verzögert wird (BSGE 81, 54; 86, 54; Höfler in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 12 SGB V Rn. 15 ff, Rn. 19; Wannagat/Ulmer, Sozialgesetzbuch, § 12 SGB V Rn. 18 ff).
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Ist allerdings § 12 SGB V unmittelbar anwendbar, müssen dessen Voraussetzungen für die Leistungserbringung im konkreten Einzelfall geprüft wer-
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den. Gegebenenfalls hat der Versicherte sodann einen Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 13 SGB V (vgl. Wannagat/Ulmer, aaO Rn. 32).
14
c) Für den Schuldner, der Sozialhilfe bezieht, werden als Hilfen zur Gesundheit gemäß § 52 SGB XII die Leistungen nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenkassen erbracht; für ihn gelten gleichermaßen die Zuzahlungspflichten in der Krankenversicherung (Grube/Wahrendorf, SGB XII 2. Aufl. § 48
Rn. 24, Bieritz-Harder/Birk in LPK-SGB XII, 8. Aufl. § 48 Rn. 14). Deren Ausgaben für die Gesundheitspflege sind nach heute geltendem Recht beim Sozialhilfeempfänger vom Regelsatz der Regelsatzverordnung umfasst, weil dieser den
Gesamtbedarf deckt (Grube/Wahrendorf, aaO § 48 SGB XII Rn. 26, § 28 Rn. 8;
Bieritz-Harder/Birk, aaO § 48 Rn. 27).
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d) Der Maßstab für die Beurteilung besonderer Bedürfnisse im Sinne des
§ 850f Abs. 1 Buchst. b ZPO ist zwar die individuelle Situation beim konkreten
Schuldner. Bei der Frage, ob ihm zu Lasten der Gläubiger ein pfändbarer Teil
seines Einkommens zu belassen ist, kann jedoch bei der Abwägung der Belange des Schuldners und der Gläubiger in der Regel kein Maßstab angelegt werden, der den Schuldner besser stellt als die gesetzlich Krankenversicherten oder diejenigen Personen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Dass er insoweit
nicht schlechter gestellt wird als ein Empfänger von Sozialhilfe, wird bereits
durch § 850f Abs. 1 Buchst. a ZPO gewährleistet (vgl. Zöller/Stöber, aaO § 850f
ZPO Rn. 2a). Den Gläubigern können keine weitergehenden Einschränkungen
ihrer Rechte zugemutet werden, wenn der Gesetzgeber sie auch der Versichertengemeinschaft bzw. dem Träger der Sozialhilfe nicht auferlegt. Das Interesse
der Schuldnerin an der Verbesserung ihres gesundheitlichen Zustandes kann in
diesem Rahmen keinen Vorrang beanspruchen.
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e) Dagegen kann nicht eingewandt werden, die Anwendung des § 850f
Abs. 1 Buchst. b ZPO setze doch gerade voraus, dass die besonderen Kosten
von der Krankenkasse nicht übernommen würden. Für die Vorschrift verbleibt
auch unter Zugrundelegung der vorstehenden Ausführungen ein Anwendungsbereich insoweit, als es um den Selbstbehalt des Schuldners geht, der unter
Berücksichtigung der von dem Krankenversicherer oder dem Träger der Sozialhilfe erbrachten Leistungen verbleibt (vgl. Zöller/Stöber, aaO § 850f ZPO Rn. 4).
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f) Nach dem eigenen Vortrag der Schuldnerin hat die gesetzliche Krankenkasse die Übernahme der Kosten abgelehnt. Die Schuldnerin macht nicht
geltend, dass dies mit dem SGB V in Widerspruch stünde; andernfalls hätte sie
den Bescheid vor den Sozialgerichten überprüfen lassen können. Im Gegenteil
trägt sie ausdrücklich vor, dass die von ihr begehrten ergänzenden Behandlungen bisher keinen Eingang in die vom Gemeinsamen Bundesausschuss zur
Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden festgelegten Richtlinien gefunden haben. Dass dies willkürlich oder aus sachfremden Erwägungen
unterblieben sei, macht sie nicht geltend.
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Somit kommt eine Erhöhung des pfändungsfreien Betrages schon aus
Rechtsgründen nicht in Betracht. Deshalb hat das Landgericht auch zutreffend
von der Einholung eines Gutachtens über die medizinische Indikation der fraglichen Behandlungsmaßnahmen abgesehen.
Ganter
Raebel
Fischer
Vill
Pape
Vorinstanzen:
AG Verden (Aller), Entscheidung vom 09.07.2007 - 11 IK 235/05 LG Verden, Entscheidung vom 07.01.2008 - 1 T 323/07 -