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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 252/06
Verkündet am:
24. April 2008
Kiefer
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 839 Fe; § 254 F
Zur Frage des Mitverschuldens eines Bauherrn, der im Vertrauen auf
eine rechtswidrige Baugenehmigung das Bauvorhaben trotz eines
Nachbarwiderspruchs in Angriff nimmt (Fortführung der in den Senatsurteilen BGHZ 149, 50 und vom 9. Oktober 2003 [III ZR 414/02, NVwZ
2004, 638] aufgestellten Grundsätze).
BGH, Urteil vom 24. April 2008 - III ZR 252/06 - OLG Dresden
LG Leipzig
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 24. April 2008 durch den Vorsitzenden Richter Schlick und die Richter
Dr. Wurm, Dr. Kapsa, Dr. Herrmann und Wöstmann
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 6. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Dresden vom 20. September 2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Die Klägerin ist Eigentümerin eines Grundstücks in der ländlichen Gemeinde B.
, Ortsteil P.
. Sie beabsichtigte, dieses Grundstück mit
einem Mehrfamilienhaus zu bebauen, und stellte beim Bauamt des beklagten
Landkreises einen Baugenehmigungsantrag.
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Bereits während des Genehmigungsverfahrens erhob der Eigentümer
des Nachbargrundstücks Einwände, weil er eine Beeinträchtigung seines landwirtschaftlichen Betriebes, insbesondere durch zu erwartende Immissions-
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schutzauflagen, befürchtete. Der Beklagte holte daraufhin Stellungnahmen der
zuständigen Fachabteilung für Umweltschutz, Sachgebiet Immissionsschutz,
und des Staatlichen Amtes für Landwirtschaft und Gartenbau ein. Mit Bescheid
vom 1. September 1997 erteilte er der Klägerin die Baugenehmigung. Am
9. September 1997 erteilte er der Klägerin die Baufreigabe für die Durchführung
der Erdarbeiten und am 19. September 1997 für die Tiefbauarbeiten. Die Klägerin nahm diese Arbeiten daraufhin in Angriff.
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Mit Schreiben vom 5. September 1997 hatte der Nachbar gegen die
Baugenehmigung Widerspruch eingelegt. Am 9. September 1997 folgte ein Antrag beim Verwaltungsgericht auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung dieses Rechtsbehelfs. Am 16. September 1997 erlangte die Klägerin von dem Widerspruch Kenntnis. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 14. Oktober
1997 wurde die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet. Unter
dem 23. Oktober 1997 verfügte der Beklagte die Baueinstellung, der die Klägerin unverzüglich nachkam. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts wurde durch Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 7. Januar 1998 zurückgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht stellte zusätzlich zu den bereits vom
Verwaltungsgericht bejahten Immissionsproblemen noch darauf ab, dass das
Vorhaben an einer Stelle, nämlich mit einem geplanten Erker, den Grenzabstand nicht einhalte.
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Die Klägerin änderte die Tekturplanung dahin ab, dass dieser Erker wegfiel. Auf einen weiteren Antrag der Klägerin genehmigte der Beklagte die geänderte Planung mit Bescheid vom 25. Mai 1998. Der hiergegen gerichtete Widerspruch des Nachbarn blieb erfolglos. Auf dessen Klage hob das Verwaltungsgericht die Ursprungsbaugenehmigung vom 1. September 1997 in der Fassung
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der Änderungsgenehmigung vom 25. Mai 1998 und den Widerspruchsbescheid
des Regierungspräsidiums vom 2. September 1999 auf. Die von der Klägerin
gegen dieses Urteil beantragte Zulassung der Berufung wurde vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht abgelehnt.
Die Klägerin verlangt nunmehr von dem Beklagten wegen der Erteilung
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der rechtswidrigen Baugenehmigung Schadensersatz aus Amtspflichtverletzung
in Höhe ihrer fehlgeschlagenen Aufwendungen. Ihren Zahlungsanspruch hat sie
zuletzt auf 353.129,12 € nebst Zinsen beziffert und außerdem die Feststellung
begehrt, dass der Beklagte verpflichtet sei, ihr sämtliche weiteren Schäden aus
der Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung zu ersetzen.
Die Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der vom
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Senat gegen das Berufungsurteil zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin
ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils
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und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
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1.
Beide Vorinstanzen gehen zu Recht davon aus, dass die Erteilung der
Baugenehmigung vom 1. September 1997 - auch in der Fassung der Änderung
vom 25. Mai 1998 - rechtswidrig gewesen ist und eine schuldhafte Amtspflichtverletzung der zuständigen Amtsträger des Beklagten gegenüber der Klägerin
dargestellt hat.
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2.
Die Vorinstanzen haben sodann - der Rechtsprechung des Senats fol-
gend - die insbesondere im Urteil BGHZ 149, 50, 53 ff getroffene Unterscheidung zwischen objektiver Reichweite des Vertrauensschutzes einerseits und
einer Anspruchsminderung unter dem Gesichtspunkt des mitwirkenden Verschuldens andererseits beachtet. Feststellungen in dem Sinne, dass es hier
bereits an einer jeglichen Ersatzanspruch von vornherein ausschließenden
"Verlässlichkeitsgrundlage" gefehlt habe, sind nicht getroffen worden. Sie liegen
auch fern.
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3.
Dementsprechend konzentriert sich der rechtliche Schwerpunkt des Fal-
les auf die Frage, ob hier ein Mitverschulden der Klägerin vorliegt, welches so
schwer wiegt, dass dahinter die Verantwortung der Bauaufsichtsbehörde völlig
zurücktritt. Insbesondere das Berufungsgericht hat dies bejaht. Darin vermag
der Senat ihm nicht zu folgen.
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a) Der Senat hat im Urteil vom 11. Oktober 2001 (BGHZ 149, 51, 55 f)
Folgendes ausgeführt: Wenn und soweit eine Genehmigung geeignet ist,
schutzwürdiges Vertrauen des Adressaten in ihren Bestand zu begründen, so
kommt diese Vertrauensgrundlage im Falle der Anfechtung eines Bescheids
durch Dritte jedenfalls dann nicht ohne weiteres völlig in Wegfall (vorbehaltlich
einer Risikoüberwälzung auf den Genehmigungsinhaber nach § 254 BGB),
wenn und solange der Verwaltungsakt sofort vollziehbar ist. Aus § 50 VwVfG,
der in den Fällen, in denen bereits ein Rechtsbehelfsverfahren anhängig ist,
den Widerruf oder die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts erleichtert, kann nicht der generelle Schluss gezogen werden, dass mit der Anfechtung das in den Bestand des Verwaltungsakts gesetzte Vertrauen nunmehr
auch haftungsrechtlich in vollem Umfang seine Schutzwürdigkeit verliert und
daher nachfolgende Investitionen sich von vornherein nicht mehr im Schutzbe-
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reich der Amtspflicht halten. Allerdings wird ab dem Vorliegen von Drittanfechtungen grundsätzlich eine größere Eigenverantwortung des Bauherrn unter dem
Gesichtspunkt des § 254 BGB anzunehmen sein. Ist zulässigerweise Widerspruch eingelegt oder Klage erhoben, verbunden mit dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, so hat der Bauherr die Möglichkeit der
Rechtswidrigkeit der ihm erteilten Genehmigung jedenfalls dann ernsthaft in
Betracht zu ziehen, wenn Anfechtungsgründe vorgebracht werden, deren Richtigkeit nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist. Setzt er in einer solchen
Situation sein Vorhaben entsprechend der Genehmigung fort, ohne die Entscheidung des Gerichts der Hauptsache über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwarten, so nimmt er das in der Drittanfechtung liegende Risiko bewusst auf sich.
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b) Diese Grundsätze der Senatsrechtsprechung werden von beiden Parteien von jeweils unterschiedlichen Ausgangspunkten und mit entgegengesetzter Zielrichtung angegriffen:
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aa) Die Klägerin macht, gestützt auf einen Aufsatz von Gallois (BauR
2002, 884, 885), geltend, dass der Bauherr, ob (als Bauträger) fachkundig oder
nicht, anwaltlich beraten oder nicht, kaum je erkennen könne, ob solche Anfechtungsgründe vorgebracht werden, deren Richtigkeit nicht ohne weiteres von
der Hand zu weisen sei. Richtigerweise sei daher davon auszugehen, dass das
Risiko einer Drittanfechtung nur in Ausnahmefällen dem Bauherrn zuzuweisen
sei, nämlich nur, wenn die Frage, ob der Nachbarwiderspruch überzeugend begründet sei, eindeutig beantwortet werden könne, sich die Richtigkeit der Anfechtungsgründe also jedermann in der gleichen Situation geradezu aufdrängen
müsse, etwa nach dem Muster der in § 48 Abs. 2 VwVfG genannten Fälle.
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bb) Der Beklagte hält dem entgegen, dass die Schutzwürdigkeit des Ver-
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trauens vielmehr auch im Amtshaftungsprozess am Maßstab des § 50 VwVfG
zu messen sei. Danach sei bei Verwaltungsakten mit Doppel- bzw. Drittwirkung
der Vertrauensschutz für die Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens suspendiert.
cc) Diese Angriffe geben dem Senat zu einer Änderung seiner Recht-
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sprechung keinen Anlass. Die Abgrenzungsformel des Senats ermöglicht vielmehr eine sachgerechte Haftungszurechnung einerseits an die für den Erlass
der rechtswidrigen Genehmigung verantwortliche Behörde, andererseits an den
seine eigenen Interessen missachtenden Genehmigungsempfänger. In diesem
Sinne hat der Senat in seinem Urteil vom 9. Oktober 2003 (III ZR 414/02 =
NVwZ 2004, 638, 639) die Mitverschuldensquote von 25 %, die sich die dortigen Kläger selbst hatten anlasten lassen und die vom dortigen Berufungsgericht gebilligt worden war, auch revisionsrechtlich nicht beanstandet.
16
4.
Die Begründung, mit der das Berufungsgericht im konkreten Fall einen
Totalverlust des Ersatzanspruchs bejaht, hält jedoch der revisionsrechtlichen
Nachprüfung nicht stand.
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a) Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass - anders als das Landgericht gemeint hat - die Klägerin erst am 16. September 1997 Kenntnis vom Widerspruch des Nachbarn erlangt hat. Damit ist der Argumentation des landgerichtlichen Urteils, das von einer Kenntnis noch vor Baufreigabe der Erdarbeiten
am 9. September 1997 ausgegangen ist, teilweise der Boden entzogen.
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b) Für die Zeit zwischen der Erteilung der Baugenehmigung und der
Kenntniserlangung vom Widerspruch, d.h. den Zeitraum vom 1. bis zum
16. September 1997, sieht der Senat für ein Mitverschulden der Klägerin keinen
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Ansatzpunkt. Hiermit in Übereinstimmung hatte das Berufungsgericht ursprünglich der Klägerin mit Verfügung vom 22. März 2006 aufgegeben, die Ausgaben
für jene Arbeiten abzugrenzen, die nach Bekanntwerden des Widerspruchs
ausgelöst worden sind. Dieser Auflage war die Klägerin mit Schriftsatz vom
2. Mai 2006 nachgekommen. Das Berufungsgericht hatte sodann durch Beschluss vom 27. Juni 2006 eine Beweiserhebung über den Sachvortrag der
Klägerin, betreffend die vor dem Stichzeitpunkt entstandenen Aufwendungen,
angeordnet. Diesen Beweisbeschluss hat es in der mündlichen Verhandlung
vom 12. Juli 2006 nur unvollkommen ausgeführt. Im Urteil sind zu dieser zeitlichen Abgrenzung überhaupt keine Feststellungen getroffen worden.
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c) Darüber hinaus hält der Senat auch die Auffassung des Berufungsgerichts, die nach dem Stichzeitpunkt entstandenen Schäden seien in vollem Umfang der Klägerin anzulasten, nicht für vertretbar. Aus der vorstehend zitierten
Abgrenzungsformel des Senats kann keineswegs schematisch der Rückschluss
gezogen werden, dass Aufwendungen, die in Kenntnis eines Nachbarwiderspruchs oder sonstigen Rechtsbehelfs getätigt werden, stets dem durch die
Baugenehmigung begünstigten Bauherrn selbst zur Last fallen und die Bauaufsichtsbehörde von jeglicher eigener Verantwortlichkeit für die rechts- und amtspflichtwidrige Erteilung befreit wird. Zumindest ist dem Bauherrn gegen den Mitverschuldenseinwand die Replik zuzubilligen, er habe seinerseits bei Prüfung
des nachbarlichen Rechtsbehelfs diesem keine Erfolgsaussicht beimessen dürfen. In diesem Zusammenhang macht die Klägerin mit der Revision - wie schon
in den Vorinstanzen - zu Recht geltend, dass die Einwände des Nachbarn bereits im Zuge des Baugenehmigungsverfahrens offen gelegt, von der Bauaufsichtsbehörde eingehend geprüft und nicht für durchgreifend erachtet worden
waren. Trotz der Einlegung des Widerspruchs kann sich der Bauherr daher auf
den allgemeinen Grundsatz berufen, dass er nicht klüger zu sein braucht als die
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mit der Bearbeitung des Verwaltungsvorgangs betrauten sachkundigen Beamten. Der Senat hat sogar angenommen, dass das "Rechtsanwendungsrisiko",
d.h. die ordnungsgemäße Handhabung der einschlägigen öffentlich-rechtlichen
Vorschriften, nicht bereits dadurch in vollem Umfang von der Behörde auf den
antragstellenden Bürger selbst verlagert wird, dass dieser im Vergleich zu ihr
über die besseren Erkenntnisquellen und die größere Erfahrung verfügt (Senatsurteil BGHZ 149, 50, 55; Senatsurteil vom 9. Oktober 2003 aaO S. 639).
d) Um so mehr gilt dies, als nach dem der revisionsrechtlichen Beurtei-
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lung zugrunde zu legenden Sachvortrag der Klägerin den Amtsträgern der Beklagten die Bedenken der zuständigen Fachbehörden bei der Erteilung der
Baugenehmigung bereits vorgelegen hatten, diese Stellungnahmen der Klägerin selbst jedoch nicht zur Kenntnis gebracht worden waren, so dass diese ihr
Bauvorhaben danach nicht hatte ausrichten oder weitere Ermittlungen anregen
können.
e) Für nicht durchgreifend hält der Senat das Argument des Berufungs-
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gerichts, die Klägerin habe den Bau mit Rücksicht auf zum Ende des Jahres
1997 auslaufende Abschreibungsmöglichkeiten mit besonderer Eile vorangetrieben. Dazu war die Klägerin - nach ihrem Vorbringen auch im Hinblick auf die
gegenüber den Käufern eingegangenen Fertigstellungsverpflichtungen - berechtigt, solange sie sich im Besitz einer vollziehbaren Baugenehmigung befand. Eine Missachtung ihrer wohlverstandenen eigenen Interessen im Sinne
eines "Verschuldens gegen sich selbst" vermag der Senat hierin nicht zu erkennen.
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5.
Das Berufungsurteil kann nach alledem keinen Bestand haben. Die
Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, welches auf der Grundlage der aufgezeigten Gesichtspunkte - und erforderlichenfalls nach weiteren
Tatsachenfeststellungen - eine erneute Abwägung vorzunehmen haben wird.
Schlick
Wurm
Herrmann
Kapsa
Wöstmann
Vorinstanzen:
LG Leipzig, Entscheidung vom 27.05.2005 - 15 O 3117/04 OLG Dresden, Entscheidung vom 20.09.2006 - 6 U 1112/05 -