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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I ZR 170/10
Verkündet am:
18. Januar 2012
Führinger
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
Betriebskrankenkasse
Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. d; UWG §§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 7
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung der Richtlinie
2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005
über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr
zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie
84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004
des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. EG Nr. L 149 vom 11. Juni
2005, S. 22) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2005/29/EG
über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen, dass eine sich als Geschäftspraxis eines Unternehmens gegenüber Verbrauchern darstellende
Handlung eines Gewerbetreibenden auch darin liegen kann, dass eine gesetzliche Krankenkasse gegenüber ihren Mitgliedern (irreführende) Angaben darüber
macht, welche Nachteile den Mitgliedern im Falle eines Wechsels zu einer anderen gesetzlichen Krankenkasse entstehen?
BGH, Beschluss vom 18. Januar 2012 - I ZR 170/10 - OLG Celle
LG Lüneburg
-2-
Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 30. November 2011 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und
die Richter Pokrant, Dr. Schaffert, Dr. Koch und Dr. Löffler
beschlossen:
I.
Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung
der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie
84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG und
2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen
Parlaments und des Rates (ABl. EG Nr. L 149 vom 11. Juni
2005, S. 22) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen, dass eine - sich als Geschäftspraxis eines Unternehmens gegenüber Verbrauchern darstellende - Handlung
eines Gewerbetreibenden auch darin liegen kann, dass eine
gesetzliche Krankenkasse gegenüber ihren Mitgliedern (irreführende) Angaben darüber macht, welche Nachteile den Mitgliedern im Falle eines Wechsels zu einer anderen gesetzlichen Krankenkasse entstehen?
Gründe:
1
I. Die Klägerin, die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs,
nimmt die Beklagte, eine als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisierte
gesetzliche Krankenkasse, hauptsächlich auf Unterlassung der folgenden im
Dezember 2008 auf ihrer Internetseite erschienenen Aussagen in Anspruch:
-3-
Wer die BKK M.
jetzt verlässt, bindet sich an die Neue für die nächsten
18 Monate. Somit entgehen Ihnen attraktive Angebote, die Ihnen die BKK M.
im nächsten Jahr bietet und Sie müssen am Ende möglicherweise drauf
zahlen, wenn Ihre neue Kasse mit dem ihr zugeteilten Geld nicht auskommt und
deswegen einen Zusatzbeitrag erhebt.
2
Die Klägerin ist der Auffassung, die beanstandeten Informationen seien
irreführend und daher wettbewerbsrechtlich unzulässig. Die Beklagte verschweige, dass im Falle der Erhebung eines Zusatzbeitrags für die Versicherungsnehmer ein gesetzliches Sonderkündigungsrecht bestehe. Die Klägerin
mahnte die Beklagte deshalb mit Schreiben vom 17. Dezember 2008 ab und
forderte sie zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung sowie zur
Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten auf. Die Beklagte entfernte
die beanstandeten Aussagen daraufhin von ihrer Internetseite. Mit Schreiben
vom 6. Januar 2009 teilte sie der Klägerin mit, sie räume ein, auf ihre Internetseite eine fehlerhafte Information eingestellt zu haben, und sage zu, zukünftig
nicht mehr mit den beanstandeten Aussagen zu werben. Zur Abgabe einer
strafbewehrten Unterlassungserklärung und zur Übernahme von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten war die Beklagte nicht bereit.
3
Die Beklagte ist der Ansicht aufgrund der Ausstrahlungswirkung der
Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken seien die Vorschriften
des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb auf den Streitfall nicht anwendbar. Die Richtlinie erfordere nach ihrem Art. 2 Buchst. d die "Geschäftspraktik" eines "Gewerbetreibenden" im Sinne von Art. 2 Buchst. b der
Richtlinie. Daran fehle es im vorliegenden Fall, weil sie als Körperschaft des
öffentlichen Rechts nicht mit Gewinnerzielungsabsicht handele.
4
Das Landgericht hat die Beklagte unter Androhung von Ordnungsmitteln
verurteilt, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbszwecken mit den beanstandeten Aussagen zu werben und an die Klägerin 208,65 €
-4-
nebst Zinsen zu zahlen. Die dagegen gerichtete Berufung ist erfolglos geblieben (OLG Celle, WRP 2010, 1548 = GRUR-RR 2011, 111). Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.
5
II. Der Erfolg der Revision hängt, soweit die Verurteilung zur Unterlassung in Rede steht, von der Auslegung des Art. 3 Abs. 1 und des Art. 2
Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und
zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG,
98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie
der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des
Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken - ABl. EG Nr. L 149 vom
11. Juni 2005, S. 22) ab. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel der Beklagten ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1
Buchst. b, Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
6
Der Senat möchte in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht einen
Verstoß gegen §§ 3, 5 Abs. 1 UWG aF, § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7
UWG bejahen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die angegriffene Werbemaßnahme überhaupt nach den Vorschriften des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb beurteilt werden kann.
7
1. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG handelt unlauter, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt. Eine "geschäftliche Handlung" ist nach
§ 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG jedes Verhalten einer Person zugunsten des eigenen
oder eines fremden Unternehmens vor, bei oder nach einem Geschäftsab-
-5-
schluss, das mit der Förderung des Absatzes oder des Bezugs von Waren oder
Dienstleistungen oder mit dem Abschluss oder der Durchführung eines Vertrags
über Waren und Dienstleistungen objektiv zusammenhängt. "Unternehmer" im
Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 6 UWG ist jede natürliche oder juristische Person, die
geschäftliche Handlungen im Rahmen einer gewerblichen, handwerklichen oder
beruflichen Tätigkeit vornimmt. Die genannten Vorschriften dienen der Umsetzung der Art. 5 und 6 Abs. 1 Buchst. g, Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie
2005/29/EG. Sie sind daher im Lichte des Wortlauts und der Ziele dieser Richtlinie auszulegen (EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004 - C-397/01 bis C-403/01,
Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 f. = EuZW 2004, 691 - Pfeiffer u.A./Deutsches Rotes
Kreuz, Kreisverband Waldshut e.V.; BGH, Urteil vom 26. November 2008
- VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 Rn. 19 ff.).
8
a) Als nicht geklärt kann angesehen werden, ob Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG eine Auslegung von
§ 2 Abs. 1 Nr. 1 und 6 UWG erlaubt, nach der die beanstandete Handlung als
Geschäftspraktik im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern anzusehen ist und die Beklagte, die als Körperschaft des öffentlichen
Rechts die Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung erfüllt, bei Vornahme der beanstandeten Maßnahme als Gewerbetreibende gehandelt hat.
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat diese Frage bislang - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden.
9
b) Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29/EG findet die Richtlinie Anwendung auf unlautere Geschäftspraktiken zwischen Unternehmen und Verbrauchern. Als "Geschäftspraktik zwischen Unternehmen und Verbrauchern"
wird in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und
Marketing eines Gewerbetreibenden bezeichnet, die unmittelbar mit der Absatz-
-6-
förderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt. Gemäß Art. 2 Buchst. b der Richtlinie ist "Gewerbetreibender"
jede natürliche oder juristische Person, die im Geschäftsverkehr im Sinne dieser Richtlinie im Rahmen ihrer gewerblichen, handwerklichen oder beruflichen
Tätigkeit handelt.
10
Die von der Richtlinie verwendeten Rechtsbegriffe "Geschäftspraktik von
Unternehmen gegenüber Verbrauchern" und "Gewerbetreibender" sind als Begriffe des Gemeinschaftsrechts autonom auszulegen (EuGH, Urteil vom
11. März 2003 - C-40/01, Slg. 2003, I-2439 Rn. 26 = GRUR 2003, 425 - Ansul
BV/Ajax Brandbeveiliging BV; Köhler in Köhler/Bornkamm, UWG, 30. Aufl., Einl.
UWG Rn. 3.11 ff.) und setzen eine marktbezogene, wirtschaftliche Tätigkeit eines Unternehmens voraus.
11
Ein Unternehmen ist jede Einheit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung (EuGH,
Urteil vom 11. Dezember 2007 - C-280/06, Slg. 2007, I-10893 Rn. 38 = WuW/E
EU-R 1353 - ETI u.a.; Urteil vom 3. März 2011 - C-437/09, WuW/E EU-R 1929
Rn. 41 - AG2R Prévoyance). Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist jede Tätigkeit, die
im Anbieten von Gütern oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt besteht (EuGH, Urteil vom 11. Juli 2006 - C-205/03 P, Slg. 2006, I-6295 Rn. 25
= WuW/E
EU-R
1213
- FENIN/Kommission;
Urteil
vom
3. März
2011
- C-437/09, WuW/E EU-R 1929 Rn. 42 - AG2R Prévoyance).
12
Im Zusammenhang mit der Anwendung der Art. 81, 82 und 86 EG (jetzt:
Art. 101, 102 und 106 AEUV) auf soziale Sicherungssysteme hat der Gerichtshof entschieden, dass die deutschen gesetzlichen Krankenkassen bei der Festsetzung der Festbeträge für Arzneimittel weder als Unternehmen noch deren
Zusammenschlüsse als Unternehmensvereinigungen im Sinne der genannten
-7-
Vorschriften tätig werden (EuGH, Urteil vom 16. März 2004 - C-264/01 u.a., Slg.
2004, I-2493 Rn. 47 ff. = WuW/E EU-R 801 - AOK Bundesverband u.a./IchthyolGesellschaft Cordes Hermani & Co u.a.; siehe auch für Sozialversicherungssysteme anderer Mitgliedstaaten EuGH, Urteil vom 17. Februar 1993 - C-159/91,
C-160/91, Slg. 1993, I-637 Rn. 15, 18 = EuZW 1993, 355 - Poucet und Pistre).
Danach verfolgen Einrichtungen, die mit der Verwaltung gesetzlicher Krankenund Rentenversicherungssysteme betraut sind und dabei der staatlichen Aufsicht unterliegen, einen rein sozialen Zweck und üben insoweit keine wirtschaftliche Tätigkeit aus, wenn sie nur Gesetze anwenden und keine Möglichkeit haben, auf die Höhe der Beiträge, die Verwendung der Mittel und die Bestimmung
des Leistungsumfangs Einfluss zu nehmen. Auch die deutschen gesetzlichen
Krankenkassen erbringen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Wesentlichen gleiche Pflichtleistungen, unabhängig von der Höhe der Beiträge und
ohne eine Gewinnerzielungsabsicht. Ihre Tätigkeit beruhe auf dem Grundsatz
der nationalen Solidarität. Aus diesem Umstand sowie aus dem zwischen den
Krankenkassen bestehenden Kosten- und Risikoausgleich folge, dass die gesetzlichen Krankenkassen weder miteinander noch mit den privaten Einrichtungen hinsichtlich der Erbringung des gesetzlich vorgeschriebenen Leistungskatalogs konkurrierten. Dieser Bewertung stehe - so der Gerichtshof - nicht entgegen, dass die Krankenkassen in gewissem Umfang im Wettbewerb um Mitglieder stünden und in diesem Zusammenhang auch über einen gewissen Spielraum bei der Festsetzung der Beiträge verfügten (EuGH, Slg. 2004, I-2493
Rn. 51 ff. - AOK Bundesverband u.a./Ichthyol-Gesellschaft Cordes Hermani &
Co u.a.).
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Der Gerichtshof der Europäischen Union hat es allerdings auch für möglich erachtet, dass die Krankenkassen und die sie vertretenden Einheiten (Kassenverbände) außerhalb ihrer Aufgabe rein sozialer Art im Rahmen der Verwaltung des deutschen Systems der sozialen Sicherheit Geschäftstätigkeiten aus-
-8-
üben, die keinen sozialen, sondern einen wirtschaftlichen Zweck haben. In diesem Fall wären sie im Rahmen dieser Tätigkeiten als Unternehmen anzusehen
(EuGH, Slg. 2004, I-2493 Rn. 58 - AOK Bundesverband u.a./Ichthyol-Gesellschaft Cordes Hermani & Co u.a.; Urteil vom 5. März 2009 - C-350/07, Slg.
2009, I-1538 Rn. 42 = WuW/E DE-R 1543 - Kattner Stahlbau GmbH/Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft).
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2. Der Senat hat Zweifel, ob die für die Auslegung von Art. 101 und
Art. 102 AEUV entwickelten Grundsätze auch für die Auslegung von Art. 2
Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG maßgeblich sind. Dagegen könnte
die Zielsetzung der Richtlinie sprechen. Deren Zweck ist es, Verbraucher vor
Beeinträchtigungen ihrer wirtschaftlichen Interessen durch unlautere Geschäftspraktiken im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern zu schützen (vgl. Erwägungsgrund 8 sowie Art. 1 der Richtlinie) und damit der Verwirklichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus zu dienen (Erwägungsgründe 1 und 11). Insofern könnte bei der hier in Rede stehenden Auslegung der Richtlinie von maßgeblicher Bedeutung sein, ob die beanstandete
Maßnahme aus Sicht der Verbraucher, die die von der Beklagten angebotene
Dienstleistung nachfragen, einen Marktbezug hat. Dafür könnte Erwägungsgrund 7 der Richtlinie sprechen, nach dem sich die Richtlinie auf Geschäftspraktiken bezieht, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Beeinflussung der geschäftlichen Entscheidungen des Verbrauchers in Bezug auf
Produkte stehen.
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Jedenfalls dann, wenn irreführende Handlungen im Verhältnis zu Verbrauchern in einem Bereich ergriffen werden, der von einem Teilwettbewerb
zwischen den anbietenden Einrichtungen geprägt ist, die Maßnahme gerade
zum Zwecke der Ausnutzung der vom Gesetzgeber eröffneten wettbewerblichen Handlungsspielräume erfolgt und eine Beeinträchtigung der wirtschaftli-
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chen Interessen der Verbraucher zu befürchten ist, liegt es nahe, diese Handlung als irreführende Geschäftspraktik im Sinne von Art. 6, Art. 3 Abs. 1 und
Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG einzustufen. Für die Beantwortung der Vorlagefrage könnte auch von Bedeutung sein, dass der deutsche Gesetzgeber durch verschiedene gesetzgeberische Maßnahmen (vgl. Gesetz zur
Sicherung und Strukturverbesserung in der gesetzlichen Krankenkasse [Gesundheitsstrukturgesetz] vom 21. Dezember 1992, BGBl. I S. 2266; Gesetz zur
Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom
26. März 2007 [GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz], BGBl. I S. 378) zu Gunsten
der gesetzlichen Krankenkassen gezielt Handlungsspielräume eröffnet hat, um
damit einen - wenn auch eingeschränkten - Preis- und Qualitätswettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen zu ermöglichen (vgl. dazu Monopolkommission, 18. Hauptgutachten 2008/2009, BT-Drucks. 17/2600, S. 387 ff.). Gemäß den §§ 173, 175 SGB V haben Versicherungspflichtige und Versicherungsberechtigte das Recht, unter verschiedenen Anbietern den von ihnen bevorzugten Träger einer Krankenkasse zu wählen. Zwar können die Träger der
gesetzlichen Krankenkassen die Beitragssätze nicht frei bestimmen; diese werden seit dem Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes nach § 241
SGB V für alle Kassen einheitlich festgesetzt. Sie haben jedoch die Möglichkeit,
Zusatzbeiträge zu erheben (§ 242 SGB V), Beitragsrückerstattungen zu gewähren (§ 13 Abs. 2 SGB V) und besondere Wahltarife anzubieten (§ 53 SGB V).
Gemeinsames gesetzgeberisches Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Wirtschaftlichkeit des Systems der gesetzlichen Krankenkassen zu verbessern (vgl. die
Regierungsbegründung zum Entwurf des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes,
BT-Drucks. 16/3100, S. 85).
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Machen die Krankenkassen von diesen Handlungsmöglichkeiten Gebrauch und treten sie mit anderen Krankenkassen in einen Wettbewerb um Mitglieder, handeln sie nach dem Willen des Gesetzgebers insoweit jedenfalls un-
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ternehmerisch. Denn Ziel dieser Wettbewerbshandlungen ist es, die Beiträge
der Mitglieder zu vereinnahmen, um auf diese Weise ihre eigene Einnahmesituation zu verbessern. Aus der Sicht eines Verbrauchers handelt es sich bei der
Wahl der von ihm bevorzugten Krankenkasse aus dem Kreis mehrerer, konkurrierender Anbieter ebenfalls um eine geschäftliche Entscheidung, deren irreführende Beeinflussung durch die gesetzliche Krankenkasse eine Beeinträchtigung
seiner wirtschaftlichen Interessen zur Folge haben kann. Insofern stellt es für
ihn keinen Unterschied dar, ob sich der Marktbezug der beanstandeten Handlung aus einem Wettbewerb zwischen öffentlich-rechtlich organisierten Trägern
sozialer Sicherungssysteme oder zwischen privaten Anbietern ergibt.
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Vor dem Hintergrund des mit der Richtlinie 2005/29/EG erstrebten hohen
Verbraucherschutzniveaus erscheint es zweifelhaft, ob eine Auslegung von
Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie, wonach
unlautere Handlungen der gesetzlichen Krankenkassen im Wettbewerb um ihre
Mitglieder vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29/EG ausgenommen
sind, diesem Schutzzweck hinreichend Rechnung trägt.
Bornkamm
Pokrant
Koch
Schaffert
Löffler
Vorinstanzen:
LG Lüneburg, Entscheidung vom 29.10.2009 - 7 O 78/09 OLG Celle, Entscheidung vom 09.09.2010 - 13 U 173/09 -