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22 KiB

Nachschlagewerk: ja
BGHSt
: ja
Veröffentlichung : ja
§ 66b Abs. 1 Satz 2 StGB
§ 66 Abs. 2 StGB
Zur Ermessensausübung bei Anwendung der §§ 66b Abs. 1
Satz 2, 66 Abs. 2 StGB nach der Entscheidung EGMR
EuGRZ 2010, 25.
BGH, Beschluss vom 21. Juli 2010
– 5 StR 60/10
LG Frankfurt (Oder) –
5 StR 60/10
alt: 5 StR 21/09
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 21. Juli 2010
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
-2-
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Juli 2010 beschlossen:
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 12. November 2009 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO aufgehoben. Der Antrag auf nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wird zurückgewiesen.
2. Der
Unterbringungsbefehl
des
Landgerichts
Frank-
furt (Oder) vom 11. August 2008 wird aufgehoben. Der Verurteilte ist in dieser Sache unverzüglich auf freien Fuß zu
setzen.
3. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der Rechtsmittelkosten und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.
4. Die Entscheidung über die Entschädigung des Verurteilten
wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt
dem Landgericht vorbehalten.
G r ü n d e
1
Das Landgericht Frankfurt (Oder) hat mit Urteil vom 12. November 2009 gegen den Beschwerdeführer (erneut) die nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision
des Verurteilten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts beanstandet.
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
-3-
I.
2
Der wiederholt, unter anderem wegen Sexualdelikten unterschiedlicher Art und Schwere auch gegen Kinder (vgl. Senatsbeschluss vom
25. März 2009 – 5 StR 21/09 – Tz. 6 bis 11, insoweit in BGHR StGB § 66b
Abs. 1 Satz 2 Voraussetzungen 2 nicht abgedruckt) vorbestrafte Verurteilte
war durch Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 7. April 1997 wegen
Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in acht Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von
Schutzbefohlenen in 17 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt worden. Die Einzelstrafen für die Vergewaltigungsfälle betrugen
jeweils vier Jahre und sechs Monate. Der Verurteilung lag zugrunde, dass
der Beschwerdeführer in den Jahren 1992 und 1993 in Brandenburg wiederholt sexuelle Handlungen an seiner acht bzw. neun Jahre alten Stieftochter
vorgenommen hatte. In 20 Fällen vollzog er – zumeist unter Mitwirkung seiner Ehefrau, die das Kind festhielt – den vaginalen Geschlechtsverkehr an
dem Mädchen. Den in den ersten acht Fällen von der Geschädigten noch
geleisteten Widerstand überwand er mit Gewalt.
3
Das Urteil wurde am 6. Januar 1998 hinsichtlich des Schuld- und
Strafausspruchs rechtskräftig, hinsichtlich der Frage der Anordnung einer
Maßregel – zunächst war der Verurteilte im psychiatrischen Krankenhaus
untergebracht worden, nach insoweit erfolgter Aufhebung durch den Bundesgerichtshof wurde eine Maßregel nicht erneut angeordnet – trat Rechtskraft am 8. Juli 1998 ein.
4
Die Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verbüßte der Verurteilte
vollständig. Seit dem 15. August 2008 befindet er sich aufgrund Beschlusses
des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. August 2008 im Vollzug der einstweiligen Unterbringung gemäß § 275a Abs. 5 StPO.
-4-
5
Mit Urteil vom 2. Oktober 2008 hatte das Landgericht Frankfurt (Oder)
auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 18. April 2008 gegen den Verurteilten
gemäß § 66b Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 2 StGB nachträglich
die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dieses Urteil
hat der Senat durch Beschluss vom 25. März 2009 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Grund für die Aufhebung war, dass
– bei rechtsfehlerfreier Bejahung der formellen Voraussetzungen des § 66b
Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 2 StGB – die Darlegungen des
Landgerichts den gebotenen Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose
nicht gerecht wurden.
6
Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Landgericht nunmehr
erneut die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
II.
7
Die Revision des Verurteilten führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückweisung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung.
8
1. Das Landgericht hat die sachlichen Voraussetzungen des § 66b
Abs. 1 Satz 2 StGB – im Ansatz rechtsfehlerfrei – bejaht. Nach dieser am
18. April 2007 in Kraft getretenen Bestimmung kann die Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung auch dann nachträglich angeordnet werden, wenn
die vom Verurteilten ausgehende Gefahr bereits im Zeitpunkt der Verurteilung erkennbar war, die Sicherungsverwahrung aber aus rechtlichen Gründen nicht verhängt werden konnte. Gegen den Verurteilten konnte aus rechtlichen Gründen bei der Verurteilung am 7. April 1997 nicht auf Sicherungsverwahrung erkannt werden. Die Vorschrift des § 66 StGB war damals auf
– wie hier – im Beitrittsgebiet begangene Taten nicht anwendbar (Art. 1a
-5-
Abs. 1 EGStGB a.F., eingefügt durch Anlage 1 Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1a des Einigungsvertrages, BGBl II 1990 S. 954).
9
2. § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB ist grundsätzlich auf Taten anwendbar,
die vor seinem Inkrafttreten – mithin vor dem 18. April 2007 – begangen worden sind, und ausschließlich auf Straftaten, bei deren Aburteilung die Verhängung von Sicherungsverwahrung aus Rechtsgründen ausgeschlossen
war. Die Sicherungsverwahrung rechnet zu den Maßregeln der Besserung
und Sicherung (§ 61 Nr. 3 StGB), für die nach § 2 Abs. 6 StGB das zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht maßgebend ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 6 StGB in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1
MRK. Letzterer kann im Geltungsbereich von § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht
als abweichende gesetzliche Bestimmung gemäß § 2 Abs. 6 StGB angesehen werden.
10
a) Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde als völkerrechtlicher Vertrag durch den Bundesgesetzgeber in das deutsche Recht transformiert. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung kommt den Regelungen
der Konvention der Rang einfachen Bundesrechts zu. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist bei der Interpretation des nationalen Rechts im
Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden
(BVerfGE 111, 307, 317). Dabei sind die Entscheidungen des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen, weil sie den aktuellen Entwicklungsstand der Konvention widerspiegeln (BVerfG aaO S. 319).
11
b) Nach dem Urteil der Kammer des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (Fünfte Sektion) in der Rechtsache M. gegen Bundesrepublik Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04) vom 17. Dezember 2009 (EuGRZ 2010, 25) ist die Sicherungsverwahrung – ungeachtet ihrer
Einordnung im deutschen Recht als Maßregel der Besserung und Sicherung
– im Sinne der MRK als Strafe zu qualifizieren, für die das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 MRK gilt (Rdn. 124 bis 133). Der Europäische Gerichts-
-6-
hof für Menschenrechte hat dies unter anderem damit begründet, dass die
Sicherungsverwahrung wie eine Freiheitsstrafe mit Freiheitsentziehung verbunden sei und es in der Bundesrepublik Deutschland keine wesentlichen
Unterschiede zwischen dem Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem der Sicherungsverwahrung gebe (Rdn. 127 bis 130). Er hat daher im entschiedenen
Fall die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung von Schadensersatz an
den Beschwerdeführer verurteilt, da die Anwendung des § 67d StGB in der
Fassung vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160), in welchem die Höchstfrist
der Sicherungsverwahrung für Erstverwahrte von zehn Jahren in § 67d
Abs. 1 Satz 1 StGB a.F. teilweise aufgehoben worden war, auf Altfälle gegen
Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK verstoße (Rdn. 135 ff.). Diese Entscheidung ist
endgültig, nachdem der Antrag der Bundesregierung auf Verweisung der
Rechtssache an die Große Kammer am 10. Mai 2010 abgelehnt worden ist
(Art. 43 Abs. 2, Art. 44 Abs. 2 lit. c MRK).
12
c) Unmittelbar betroffen von der genannten Entscheidung ist nur die
rückwirkende Geltung von § 67d StGB. Allerdings stellt die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB in ihren rechtlichen Voraussetzungen allein auf Straftaten ab, die bereits vor dem
Inkrafttreten der Norm begangen wurden. Die durch den Gerichtshof gegen
die Anordnung der Rückwirkung angeführten Argumente sind auf die § 66b
Abs. 1 Satz 2 StGB zugrundeliegenden Fallkonstellationen übertragbar (vgl.
auch Kinzig NStZ 2010, 233, 239; Müller StV 2010, 207, 211 f.; Eisenberg
NJW
2010,
1507,
1509;
Laue
JR 2010,
198,
202
f.;
Peglau
jurisPR-StrafR 1/2010 Anm. 2). Es muss davon ausgegangen werden, dass
der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 MRK auch insoweit annehmen würde.
13
d) Beanstandet eine Entscheidung des Gerichtshofs über den entschiedenen Einzelfall hinaus strukturelle Mängel des nationalen Rechts, so
gebietet die Verpflichtung der innerstaatlichen Beachtung der MRK – ungeachtet deren nach Art. 46 MRK auf den Einzelfall beschränkten Bindungswir-
-7-
kung – eine konventionskonforme Ausgestaltung des nationalen Rechts
(Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. MRK Verfahren Rdn. 77b).
Auch ohne eine dem § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, wonach
alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und
Behörden an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden
sind, gehört zur Bindung an Gesetz und Recht, dass Gewährleistungen der
Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrer Ausformung durch die
Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG aaO
S. 323). Die Rangzuweisung der Europäischen Menschenrechtskonvention
als einfaches Bundesrecht führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (BVerfG aaO). Solange Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft sie die Pflicht,
der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Anderes gilt
allerdings dann, wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs
eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht verletzen würde (BVerfG aaO
S. 329); die Zulässigkeit konventionskonformer Auslegung endet aus Gründen der Gesetzesbindung der Gerichte dort, wo der gegenteilige Wille des
nationalen Gesetzgebers hinreichend deutlich erkennbar wird (Giegerich in
Grote/Marauhn [Hrsg.], EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz 2006 Kap. 2 Rdn. 20).
14
e) Nach diesen Grundsätzen kann in den Fällen des § 66b Abs. 1
Satz 2 StGB das Rückwirkungsverbot gemäß Art. 7 Abs. 1 MRK nicht als
abweichende gesetzliche Bestimmung nach § 2 Abs. 6 StGB angesehen
werden. Eine Interpretation in diesem Sinne würde zur unmittelbaren Kollision der betroffenen Vorschriften führen und im Ergebnis auf eine vollständige
Verwerfung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB hinauslaufen. Anders als bei den
übrigen Regelungen des § 66b StGB würde § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB jeglicher Anwendungsbereich genommen, wenn auf die Geltung der Norm im
Zeitpunkt der Begehung der Anlasstat abgestellt werden müsste.
-8-
15
Einer Anwendung des Art. 7 Abs. 1 MRK als abweichende Regelung
nach § 2 Abs. 6 StGB stehen der Gesetzeswortlaut des § 66b Abs. 1 Satz 2
StGB sowie der eindeutige Wille des Gesetzgebers entgegen. Die Vorschrift
wurde als „Altfallregelung“ geschaffen. Ausdrücklich sollte gewährleistet werden, „dass bei der Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung als neu auch solche Tatsachen berücksichtigt werden
können, die das Tatgericht aus rechtlichen Gründen bei seiner Entscheidung
nicht verwerten durfte“ (BTDrucks. 16/4740 S. 23). In die Prüfung sollen Tatsachen einbezogen werden, „die im Zeitpunkt der Verurteilung bereits erkennbar oder sogar bekannt waren“ (BTDrucks. aaO). Beispielhaft verweisen
die Gesetzesmaterialen auf die vorliegende Fallgestaltung, in der aufgrund
der damals gültigen Fassung des Art. 1a EGStGB bei Aburteilung im Beitrittsgebiet begangener Anlasstaten Sicherungsverwahrung nicht angeordnet
werden konnte (BTDrucks. aaO S. 22). Raum für eine Anwendung des Art. 7
Abs. 1 MRK ist in diesem Rahmen nicht eröffnet, weil § 66b Abs. 1 Satz 2
StGB ausdrücklich und ausschließlich für Altfälle gilt.
16
f) Entscheidungen anderer Senate des Bundesgerichtshofs stehen der
Rechtsauffassung des Senats nicht entgegen. Die Frage, ob § 2 Abs. 6 StGB
in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 MRK einer Anwendung des § 66b Abs. 1
Satz 2 StGB widerstreitet, ist – soweit ersichtlich – vom Bundesgerichtshof
noch nicht entschieden worden. Der 4. Strafsenat hat in seinem Beschluss
vom 12. Mai 2010 – 4 StR 577/09 – zur Frage der Anwendung von § 66b
Abs. 3 StGB auf Altfälle Stellung genommen. Soweit er die Auffassung vertreten hat, dass § 2 Abs. 6 StGB in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 MRK der
Anwendung des § 66b Abs. 3 StGB in Altfällen zuwiderlaufe, handelt es sich
nicht um einen Fall von Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 GVG. Im Gegensatz
zur Regelung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB verbleibt für § 66b Abs. 3 StGB
bei der vom 4. Strafsenat vertretenen Auffassung ein Anwendungsbereich in
den Fällen, in denen die Anlassverurteilung nach Inkrafttreten der Norm erfolgte; die Norm erschöpft sich nicht in einer Geltung für Altfälle. Der Senat
-9-
muss deshalb nicht entscheiden, ob er sich in Bezug auf § 66b Abs. 3 StGB
der Rechtsauffassung des 4. Strafsenats anschließen würde.
17
3. Angesichts der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte hält indes die Ermessensausübung des Landgerichts revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht Stand. In allen Fällen des § 66b StGB
trifft das Tatgericht eine Ermessensentscheidung, im Rahmen derer der Vertrauensschutz des Verurteilten sowie sein Freiheitsrecht gegen das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit abzuwägen sind. Bei der Anwendung des § 66b
Abs. 1 Satz 2 StGB haben die Strafgerichte darüber hinaus im Blick zu behalten, dass der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit es
gebieten kann, über die gesetzlichen Beschränkungen des Anwendungsbereichs der Norm hinaus auf die mit erheblichen Eingriffen in die Freiheitsrechte des Betroffenen verbundene nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu verzichten, wenn eine Gesamtabwägung im Einzelfall ein Überwiegen der Freiheitsrechte gegenüber den Allgemeininteressen ergibt
(BVerfG – Kammer – NJW 2009, 980, 982).
18
a) Nach den dargestellten Grundsätzen sind in die Ermessensausübung auch die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrer Ausformung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzubeziehen. In die Abwägung muss die vom Gerichtshof geforderte
konventionsgemäße
Gewichtung
einfließen
(Gollwitzer
aaO
Rdn. 77a), um eine konforme Anwendung der in Frage stehenden Norm zu
gewährleisten. Die Ausführungen des Gerichtshofs zur Vereinbarkeit mit
Art. 7 Abs. 1 MRK streiten in diesem Rahmen unter dem Gesichtspunkt des
Vertrauensschutzes gewichtig zugunsten des Verurteilten.
19
b) Gleiches gilt für die Erwägungen des Gerichtshofs zu der ebenfalls
angenommenen Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 MRK, mithin des Freiheitsrechts des Verurteilten. Diesbezüglich hält der Gerichtshof in der genannten Entscheidung die Freiheitsentziehung über die ursprünglich für die
- 10 -
Sicherungsverwahrung geltende Zehnjahresfrist hinaus für nicht nach Art. 5
Abs. 1 Satz 2 lit. a MRK gerechtfertigt. Ein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers und seinem fortdauernden Freiheitsentzug liege nicht vor. Eine Rechtfertigung der Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c MRK komme ebenfalls nicht in Betracht, da die Gefahr weiterer schwerer Straftaten nicht konkret und spezifisch genug sei.
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Diese vom Gerichtshof für § 67d StGB aufgezeigten Bedenken sind
ebenfalls auf die Regelung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB zu übertragen. Danach beruht die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht
auf einer „Verurteilung" im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a MRK. Denn
diese setzt die Schuldfeststellung wegen einer Straftat und die Auferlegung
einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme voraus
(EuGRZ aaO Rdn. 87, 95). Die Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung enthält indes keine Schuldfeststellung. Auf
die Anlassverurteilung kann hier nicht abgestellt werden, weil – unter
Zugrundelegung der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertretenen Grundsätze (aaO Rdn. 100) – ein hinreichender kausaler Zusammenhang zwischen ihr und der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht besteht. Die Verurteilung des Beschwerdeführers im
Jahr 1997 bedeutete, dass er nach spätestens zwölf Jahren aus der Haft zu
entlassen sein würde, und zwar unabhängig von einer bei der Entlassung
bestehenden Gefährlichkeit. Ohne die nachträgliche Einführung des § 66b
StGB hätte er nicht in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden können; seine Unterbringung wurde nur durch die nachfolgende Gesetzesänderung im Jahre 2007 möglich und geschah aufgrund eines neuen gerichtlichen
Erkenntnisses.
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4. Vor diesem Hintergrund ist bei konventionskonformer Ermessensausübung von einem grundsätzlichen Überwiegen des Freiheitsrechtes
und des Vertrauensschutzes des Beschwerdeführers auszugehen.
- 11 -
22
a) Ungeachtet der Frage, ob § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB insgesamt mit
dem im Lichte der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention auszulegenden (vgl. dazu BVerfGE 74, 102, 128 m.w.N.; BVerfG
– Kammer – EuGRZ 2004, 317, 318) Vertrauensgrundsatz (Art. 20
Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG) vereinbar ist (vgl. dazu auch
BGH NJW 2010, 1539, 1542 f.), kann die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage dieser Vorschrift allenfalls bei
höchstgefährlichen Verurteilten in Betracht kommen, bei denen sich die Gefahrenprognose aus konkreten Umständen in der Person oder ihrem Verhalten ableiten lässt. Nur dann erscheint denkbar, dass nach der aus der Entscheidung des Gerichtshofs (EuGRZ 2010, 25) folgenden Rechtsauffassung
der Eingriff in das Freiheitsrecht des Verurteilten unter Berücksichtigung seines auf höchster Stufe schutzwürdigen Vertrauens in die Unabänderbarkeit
der in der Anlassverurteilung verhängten Rechtsfolge einerseits und der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits im Rahmen einer zu seinen Lasten getroffenen Abwägungsentscheidung gerechtfertigt ist.
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b) Ein derart schwerwiegendes, sich in konkreten Anhaltspunkten manifestierendes Gefährdungspotential belegen die Feststellungen des Landgerichts nicht.
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Sachverständig beraten ist das Landgericht zu der Überzeugung gelangt, dass der 67 Jahre alte und aufgrund eines Schlaganfalls im Jahr 2001
in seiner Beweglichkeit eingeschränkte Verurteilte wegen eines Hanges zur
Begehung erheblicher Sexualstraftaten gefährlich ist. Beim Verurteilten handele es sich um eine dissoziale Persönlichkeit, deren Lebensweg auch mangels eines inneren Wertesystems von starker Egozentrik in der Wahrnehmung seiner persönlichen, insbesondere sexuellen Bedürfnisse geprägt sei.
Die massive Verleugnung sowie die damit einhergehende mangelnde therapeutische Aufarbeitung der von ihm begangenen Straftaten verhinderten eine
selbstkritische Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit sowie den Aufbau eines von Empathie getragenen Wertesystems. Da sich die Persönlich-
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keitsstruktur auch in der nunmehr seit über 13 Jahren andauernden Haftzeit
trotz überwiegend guter Führung nicht geändert habe, bestehe eine hohe
Wahrscheinlichkeit, dass der Verurteilte im Falle seiner Entlassung aus der
Haft auch künftig Sexualstraftaten – gegebenenfalls erneut unter der enthemmenden Wirkung von Alkohol – aus dem gesamten Spektrum der seit
dem 20. Lebensjahr von ihm begangenen Taten begehen werde.
Damit hat das Landgericht die fortbestehende Gefährlichkeit des Ver-
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urteilten im Ergebnis aus der dissozialen Prägung seiner Persönlichkeit und
seines Lebensweges abgeleitet, die sich in den von ihm begangenen Straftaten niedergeschlagen hat, verbunden mit dem Umstand, dass er nie zu einer
therapeutischen Aufarbeitung seiner Straftaten bereit war. Hinreichend konkrete Hinweise auf die Begehung künftiger Straftaten von höchster Schwere
hat das Landgericht demgegenüber nicht festgestellt. Diese sind indes auf
der Grundlage der – nach dem angefochtenen Urteil ergangenen – Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte jedenfalls erforderlich, um die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b
Abs. 1 Satz 2 StGB rechtfertigen zu können.
c) Nachdem das Landgericht bereits nach der Zurückverweisung der
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Sache durch den Senat mit Beschluss vom 25. März 2009 ergänzende Feststellungen zum Beleg der Gefahrenprognose getroffen hat, schließt der Senat aus, dass noch weitergehende Feststellungen getroffen werden können,
die eine auf hinreichend konkreten Anhaltspunkten basierende Gefahrenprognose in der Person des Verurteilten begründen. Er hat wegen der aus
Rechtsgründen eingetretenen Ermessensreduzierung von einer Zurückverweisung der Sache abgesehen.
5. Die Maßregelanordnung war demzufolge aufzuheben und der An-
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trag der Staatsanwaltschaft in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1
StPO zurückzuweisen. Der Verurteilte ist unverzüglich auf freien Fuß zu setzen.
- 13 -
28
6. Die Entscheidung über die Entschädigung des Beschwerdeführers
wegen der seit Ende der Strafhaft erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen
bleibt wegen der größeren Sachnähe dem Landgericht vorbehalten.
Brause
Sander
König
Schneider
Bellay