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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 50/07
vom
23. August 2007
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schwerer Brandstiftung u. a.
-2-
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlungen vom
3. Mai 2007 und vom 14. Juni 2007 in der Sitzung am 23. August 2007, an denen teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Winkler,
von Lienen,
Becker,
Hubert
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
beschlossen:
-3-
Der Senat beabsichtigt zu entscheiden:
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig
derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des
staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des
Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist der Angeklagte
gleichwohl zu der nach § 46 StGB angemessenen Strafe zu
verurteilen; zugleich ist in der Urteilsformel auszusprechen,
dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer
ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
Er legt die Sache wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung zur Fortbildung
des Rechts dem Großen Senat für Strafsachen vor.
Gründe:
1
Dem Senat liegt ein Revisionsverfahren vor, in dem die Staatsanwaltschaft mit ihrem zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf den Strafausspruch beschränkten Rechtsmittel beanstandet, das Landgericht habe die wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung vorgenommene Kompensation rechtsfehlerhaft durchgeführt. Die Rüge wirft grundsätzliche Fragen
zur Art und Weise derartiger Kompensationen auf. Diese sind nach Ansicht des
Senats dahin zu beantworten, dass an dem bisher in der Rechtsprechung angewendeten Modell, eine Strafe auszusprechen, die durch einen bezifferten
Abschlag von der in den Urteilsgründen festgelegten angemessenen Strafe zu
bilden ist, nicht mehr festgehalten werden sollte. Vielmehr hält der Senat die in
der Vorlegungsfrage beschriebene Vorgehensweise für vorzugswürdig. Da mit
einem derartigen Systemwechsel eine völlige Abkehr von der bisherigen einhel-
-4-
ligen Rechtsprechung verbunden wäre, hält es der Senat für erforderlich, dass
diese Grundsatzfrage vom Großen Senat für Strafsachen zur Fortbildung des
Rechts entschieden wird (§ 132 Abs. 4 GVG). Im Einzelnen:
2
I. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer
Brandstiftung (§ 306 b Abs. 2 Nr. 2 StGB) und wegen versuchten Betruges
(§ 263 Abs. 1 und 2, §§ 22, 23 StGB) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier
Jahren verurteilt. Im Rahmen der Strafzumessung hat es zunächst festgestellt,
dass das Verfahren in rechtsstaatswidriger Weise verzögert worden sei, weil
zwischen dem Eingang der Anklageschrift am 5. Oktober 2004 und dem Erlass
des Eröffnungsbeschlusses am 24. Mai 2006 ein unvertretbar langer Zeitraum
gelegen habe. Hiervon ausgehend hat es ausgeführt: Ohne Berücksichtigung
der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sei zur Ahndung der besonders schweren Brandstiftung die Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe
angemessen. Da § 306 b Abs. 2 StGB die Möglichkeit einer milderen Bestrafung minder schwerer Fälle nicht vorsehe, könne die eingetretene Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens nicht berücksichtigt werden. Um die verfassungsrechtlich gebotene Kompensation der Verletzung des Beschleunigungsgebots zu ermöglichen, sei § 49 Abs. 1 StGB anzuwenden. Entsprechend dieser Vorschrift hat das Landgericht den Strafrahmen
des § 306 Abs. 2 StGB herabgesetzt und sodann zur Kompensation der Verzögerung eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten statt der an
sich verwirkten Strafe von fünf Jahren verhängt. Für den versuchten Betrug hat
es mit Blick auf die überlange Verfahrensdauer eine Einzelfreiheitsstrafe von
sechs Monaten (statt der an sich verwirkten Strafe von einem Jahr) festgesetzt.
Unter Erhöhung der Einsatzstrafe von drei Jahren und zehn Monaten hat es
sodann auf die Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannt; ohne die jeweili-
-5-
gen Strafabschläge hätte es eine solche von fünf Jahren und sechs Monaten
gebildet.
3
II. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit Recht. Der Senat
beabsichtigt daher, das Urteil auf deren Revision im gesamten Strafausspruch
aufheben.
4
1. Allerdings sind die Einzelstrafen nicht zu beanstanden, die das Landgericht als eigentlich - ohne Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung - angemessene Sanktionen für die vom Angeklagten begangenen Taten festgesetzt und der Bemessung der tatsächlich verhängten Strafen zugrunde gelegt hat. Das gilt insbesondere auch, soweit es für die besonders schwere Brandstiftung aus dem maßgeblichen Strafrahmen des § 306 b
Abs. 2 StGB lediglich die Mindeststrafe als eigentlich verwirkt erachtet hat.
5
2. Soweit das Landgericht ausgehend von den an sich verwirkten Einzelstrafen die überlange Verfahrensdauer bei der Strafzumessung berücksichtigt
hat, folgt es zunächst den hierzu in der bisherigen Rechtsprechung entwickelten
Vorgaben. Hinsichtlich der Strafreduktion für das Brandstiftungsdelikt geht es
über diese hinaus; die Auffassung, die es hierbei vertritt, begegnet indessen
rechtlichen Bedenken.
6
a) Nach der ursprünglichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs war
einer Verletzung des Anspruchs auf schleunige Abwicklung des Strafverfahrens
ausschließlich in der Weise Rechnung zu tragen, dass sie - wie andere relevante Umstände - bei der Zumessung der angemessenen Strafe als ein strafmildernder Gesichtspunkt berücksichtigt und gegebenenfalls als ein bestimmender
Faktor in den Urteilsgründen ausgewiesen werden musste. Die Festlegung eines bestimmten Ausmaßes der Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes wur-
-6-
de
ebenso
wenig
wie
bei
anderen
strafmildernden
oder
-schärfenden Gesichtspunkten als notwendig angesehen (vgl. BGHSt 24, 239,
242; 27, 274, 275 f.; BGH NStZ 1982, 291, 292; BGH, Urt. vom 25. Juni 1974
- 1 StR 607/73).
7
Diese Rechtsprechung konnte indes keinen Bestand haben, weil sie den
aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Rechtstaatsgebot
des Grundgesetzes resultierenden Vorgaben nicht hinreichend gerecht wurde.
Ausgangspunkt für ihre Änderung war namentlich das Urteil des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte vom 15. Juli 1982 (EuGRZ 1983, 371 ff.
- Eckle ./. Bundesrepublik Deutschland). In diesem Verfahren, in dem die beiden Beschwerdeführer die Länge der gegen sie durchgeführten Strafverfahren
gerügt hatten, hat der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1
MRK festgestellt und unter anderem beanstandet, dass die angefochtenen Entscheidungen keine Hinweise auf eine Berücksichtigung der festgestellten Verzögerungen enthielten (aaO S. 381 f.). Aus den Gründen dieser Entscheidung
ist geschlossen worden, dass eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK künftig formell berücksichtigt werden müsse;
sie sei ausdrücklich festzustellen, Art sowie Ausmaß der gebotenen Wiedergutmachung seien erkennbar zu machen. Auf welche Art und Weise dies zu
geschehen habe, ist hingegen offen geblieben (vgl. die Anm. von Kühne
EuGRZ 1983, 382, 383).
8
Diesen Erwägungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
folgend entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens den
Beschuldigten auch in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG
auf ein rechtsstaatliches faires Verfahren verletze und - insbesondere solange
es an einer gesetzlichen Regelung fehle - die daraus folgenden verfassungs-
-7-
rechtlich gebotenen Konsequenzen zunächst in Anwendung und Auslegung des
Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen seien. Komme eine angemessene
Reaktion auf solche Verfahrensverzögerungen mit vorhandenen prozessualen
Mitteln (§§ 153, 153 a, 154, 154 a StPO) nicht in Frage, sei eine sachgerechte,
angemessene Berücksichtigung im Rechtsfolgenausspruch, bei der Strafzumessung wie auch gegebenenfalls bei der Strafaussetzung zur Bewährung und
bei der Frage der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung regelmäßig verfassungsrechtlich gefordert, aber auch ausreichend (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967). Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung müsse sich bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht zur
Einstellung führe, die im Extrembereich auch wegen eines Verfahrenshindernisses in Betracht komme (BVerfG NJW 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.). Dabei
sei es erforderlich, dass die Strafgerichte, wenn sie in Anwendung des Strafund Strafverfahrensrechts die gebotenen Folgen aus einem Verstoß gegen das
Beschleunigungsverbot zögen, diesen ausdrücklich feststellten und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstandes näher bestimmten (BVerfG aaO).
In seiner Entscheidung vom 7. März 1997 (NStZ 1997, 591) präzisierte das
Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung dahin, dass das Ausmaß der
vorgenommenen Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne Berücksichtigung der Verletzung des Beschleunigungsgebotes angemessenen
Strafe exakt zu bestimmen sei.
9
Hieran anknüpfend entwickelte sich in der Folgezeit eine Spruchpraxis aller Senate des Bundesgerichtshofs dahin, dass der Tatrichter zunächst stets Art
und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursache konkret festzustellen und falls dies zur Kompensation nicht ausreichend ist und andere rechtliche Folgen
nicht in Betracht kommen - in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation
durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe
ausdrücklich und konkret zu bestimmen hat (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Ver-
-8-
fahrensverzögerung 7, 12; BGH NJW 1999, 1198, 1199; NStZ-RR 2000, 343;
StV 1998, 377; 2002, 598; wistra 1997, 347; 2001, 177; 2002, 420; StraFo
2003, 247). Dies gilt bei Bildung einer Gesamtstrafe nach § 54 Abs. 1 StGB
nicht nur für diese, sondern auch für alle zugrundeliegenden Einzelstrafen (vgl.
BGH NStZ 2002, 589). Dem folgend haben die Tatrichter in den Urteilsgründen
für jede Einzeltat zwei Strafen auszuweisen, was sich aus Gründen der Klarheit
auch für die Gesamtstrafe empfiehlt (vgl. BGH NStZ 2003, 601). In die Urteilsformel wird nicht die der Schuld angemessene, sondern allein die gemilderte
Strafe aufgenommen.
10
b) Mit diesen Vorgaben steht die Entscheidung des Landgerichts in Einklang, soweit es mit Blick auf die Verletzung des Beschleunigungsgebots
im Strafverfahren gegen den Angeklagten zunächst das Ausmaß der von der
Justiz zu verantwortenden überlangen Verfahrensdauer ermittelt hat. Es hat
dieses zwar nicht exakt ziffernmäßig bestimmt; jedoch ist seinen Ausführungen
hinreichend deutlich zu entnehmen, dass es die zu kompensierende Verzögerung auf etwa ein Jahr und sechs Monate bemessen hat.
11
Soweit das Landgericht hiervon ausgehend auf die für den versuchten
Betrug eigentlich verwirkte Freiheitsstrafe von einem Jahr zur Kompensation
der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung einen Strafnachlass von sechs
Monaten gewährt hat, zeigt die Revision der Staatsanwaltschaft jedenfalls auf
der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung keinen beachtlichen Mangel des
Urteils zugunsten des Angeklagten auf. Dieser Nachlass ist mit der Halbierung
der an sich schuldangemessenen Strafe zwar sehr hoch ausgefallen; ein
durchgreifender Rechtsfehler kann hierin aber noch nicht gesehen werden.
-9-
12
Anders liegt es indes, soweit das Landgericht zur Kompensation der Verfahrensverzögerung bei der Festsetzung der Einzelstrafe für die besonders
schwere Brandstiftung die gesetzliche Mindeststrafe des § 306 b Abs. 2 StGB
unterschritten hat. Bei der Bemessung dieser Strafe hat es sich vor die Schwierigkeit gestellt gesehen, dass die Gewährung eines bezifferten Strafnachlasses
auf die an sich verwirkte Strafe (nach seiner rechtlich nicht zu beanstandenden
Bewertung die gesetzliche Mindeststrafe) innerhalb des gesetzlich eröffneten
Strafrahmens nicht möglich gewesen ist. Da eine Kompensation dennoch geboten war, Aussagen der obergerichtlichen Rechtsprechung zu dieser besonderen
Fallkonstellation bisher jedoch fehlen, hat es sich auch zu Recht veranlasst gesehen, nach neuen Lösungswegen zu suchen. Die Auffassung, die es dabei
entwickelt hat, ist indessen mit dem Strafzumessungsrecht des geltenden
Strafgesetzbuchs nicht in Einklang zu bringen; sie ist auch nicht aus übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkten zu billigen. All dies gibt Anlass, die
Grundsätze, die die Rechtsprechung bisher zur Durchführung der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen entwickelt hat, in Frage zu
stellen und nach einer Lösung zu suchen, die sich - bei Wahrung der verfassungsrechtlichen Vorgaben - besser in das gesetzliche System der Rechtsfolgenbemessung einfügt.
13
aa) Die vom Landgericht in Anwendung von § 49 Abs. 1 StGB vorgenommene Herabsetzung der in § 306 b Abs. 2 StGB angedrohten Strafe ist
rechtlich nicht möglich.
14
Eine unmittelbare Anwendung der Vorschrift scheidet aus, weil § 49
Abs. 1 StGB die Herabsetzung des Strafrahmens nur für Konstellationen regelt,
in denen "eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen ist", wobei nach dem Zusammenhang der Strafzumessungsregeln nur die
gesetzlich vorgeschriebene (§ 27 Abs. 2, § 28 Abs. 2, § 30 Abs. 1, § 35 Abs. 2,
- 10 -
§ 111 Abs. 2 StGB) oder zugelassene (im Strafgesetzbuch: § 13 Abs. 2, § 17,
§ 21, § 23 Abs. 2, § 35 Abs. 1, § 46 a, § 239 a Abs. 4 StGB) Strafmilderung
gemeint ist. Eine solche gesetzliche Vorschrift, die für den Fall einer vom Staat
zu verantwortenden überlangen Verfahrensverzögerung die gebotene Kompensation durch eine Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorschreibt oder zulässt, gibt es indes nicht.
15
Mit seiner Annahme, die Verpflichtung zur Kompensation einer überlangen Verfahrensdauer begründe einen "ungeschriebenen gesetzlichen Milderungsgrund", der die Anwendung von § 49 Abs. 1 StGB ermögliche (so wohl
Krehl in StV 2006, 407, 412; ähnlich LG Bremen StV 1998, 378: allgemeine
Strafrahmenminderung nach dem Rechtsgedanken der §§ 46, 49 StGB), spricht
sich das Landgericht in der Sache für eine analoge Anwendung dieser Vorschrift aus. Auch diese ist jedoch einfachrechtlich nicht möglich. Ihr steht zwar,
weil es sich um eine analoge Anwendung zugunsten des Angeklagten handelt,
nicht das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG entgegen. Die analoge Anwendung scheitert indes daran, dass es dem Rechtsanwender nicht frei steht,
den gesetzlichen Katalog der Vorschriften, die eine Milderung nach § 49 Abs. 1
StGB vorschreiben oder zulassen, nach seinen Vorstellungen durch Festlegung
eines ungeschriebenen obligatorischen oder fakultativen Milderungsgrundes zu
erweitern. Dementsprechend hat auch in der bisherigen Rechtsprechung kein
Senat des Bundesgerichtshofs die analoge Anwendung von § 49 Abs. 1 StGB
je als zulässigen Weg zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen in Erwägung gezogen. Soweit die Verzögerung nicht derart gravierend ist, dass sie ein aus der Verfassung abzuleitendes Verfahrenshindernis
begründet (vgl. BGHSt 46, 159, 171 ff.; dazu auch BVerfG NJW 2003, 2897,
2899; 2003, 2228; 1995, 1277, 1278; s. ergänzend BGHSt 35, 137, 140 ff.), hat
der Bundesgerichtshof vielmehr stets - ausdrücklich oder jedenfalls der Sache
nach - daran festgehalten, dass die Kompensation mit den Mitteln vorzunehmen
- 11 -
ist, die das Straf- oder das Strafverfahrensrecht dem Rechtsanwender zur Verfügung stellt; die dadurch vorgegebenen Grenzen sind einzuhalten. So kommt
etwa die Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153 a StPO nur in Betracht, wenn
sich der Angeklagte keines Verbrechens schuldig gemacht hat (vgl. BGHSt 24,
239, 242). Ebenso scheidet eine Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB)
oder ein Absehen von Strafe (§ 60 StGB) aus, wenn die in der jeweiligen Vorschrift genannten Voraussetzungen für eine derartige Rechtsfolgenentscheidung nicht erfüllt sind (BGHSt 27, 274). Auch führt eine rechtsstaatswidrige
Verzögerung des Verfahrens nicht dazu, dass von der gesetzlich vorgeschriebenen Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe abgesehen werden könnte
(BGH NJW 2006, 1529, 1535). In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
wird
all
dies
nicht
anders
gesehen
(BVerfG
- Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG NJW 1993, 3254, 3256;
2003, 2897, 2899; NStZ 2006, 680, 681).
16
In Konsequenz dieser Grundsätze können sich jedoch - wie der hier zu
entscheidende Fall exemplarisch zeigt - in Sachverhalten, bei denen der an sich
gebotene Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung an gesetzliche Schranken stößt und daher ganz oder teilweise ausgeschlossen ist,
"Kompensationslücken" ergeben. So fände hier jede Kompensation nach einfachgesetzlichem nationalen Recht bei der Mindeststrafe von fünf Jahren ihre
Grenze und könnte eine weitergehende Reaktion auf eine Verletzung des Beschleunigungsgebots erst dann erfolgen, wenn diese so gravierend wäre, dass
das Verfahren aus verfassungsrechtlichen Gründen eingestellt werden muss,
weil dessen Fortführung mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden
Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren und daher gleichzeitig mit
dem Übermaßverbot nicht mehr vereinbar wäre. Die vom Landgericht für geboten, aber auch ausreichend erachtete Reduzierung der Einzelstrafe wegen des
Brandstiftungsdelikts auf drei Jahre und zehn Monate wäre danach ausge-
- 12 -
schlossen. Ein solches Ergebnis wird sich (einfachgesetzlich) mit den von der
Bundesrepublik Deutschland durch die Anerkennung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1
MRK konventionsrechtlich eingegangenen Verpflichtungen, aber auch mit den
verfassungsrechtlichen Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips und des Übermaßverbots nicht vereinbaren lassen.
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Aber auch dies führt entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht dazu,
dass die analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB aus übergeordneten verfassungs- oder konventionsrechtlichen Gründen jedenfalls beschränkt auf die
hier in Frage stehende Konstellation gerechtfertigt wäre, weil nur so dem Gebot
der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung Rechnung getragen werden könnte.
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Dabei ist nicht von maßgeblicher Bedeutung, dass die vom Landgericht
vertretene Auffassung bei allgemeiner Betrachtung ohnehin nur eine Teillösung
böte, weil sie keine Antwort auf die Frage gibt, was zu geschehen hätte, wenn
die notwendige Kompensation zwar nicht zu einer Verfahrenseinstellung aus
verfassungsrechtlichen Gründen führt, aber die Unterschreitung des bereits analog § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmens (hier: Mindeststrafe von zwei
Jahren Freiheitsstrafe) erforderlich macht. Ausgehend von dem Grundansatz
des Landgerichts müsste daher erwogen werden, ob es in all den Fällen, in denen das verfassungs- und konventionsrechtliche Gebot einer Kompensation für
eine vom Staat zu verantwortende überlange Verfahrensdauer und die Bindung
des Strafrichters an die gesetzlichen Strafrahmen (Art. 103 Abs. 2 GG) zueinander in Widerspruch treten, möglich ist, die Kollision dadurch aufzulösen, dass
die Bindung an die Strafrahmen(unter)grenze aus übergeordneten rechtlichen
Gründen entfällt; dies wäre der Sache nach eine analoge Anwendung des § 49
Abs. 2 StGB.
- 13 -
Der Senat hat auch erwogen, ob es rechtlich zulässig ist, im Wege rich-
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terlicher Rechtsfortbildung - ungeachtet der grundsätzlichen Analogiefeindlichkeit des § 49 StGB - die Vorschrift zur Lösung eines extremen Sonderfalls doch
ausnahmsweise analog heranzuziehen, wie es der Bundesgerichtshof mit seiner sogenannten Rechtsfolgenlösung zur lebenslangen Freiheitsstrafe insbesondere beim Heimtückemord in der Entscheidung BGHSt 30, 105 ff. getan hat.
Es braucht hier weder entschieden zu werden, wie weit die Kritik an jener Entscheidung, die ihr eine Überschreitung der Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung vorwirft, berechtigt ist, noch bedarf es der Klärung, ob die hier in Rede
stehende Konstellation derjenigen vergleichbar ist, die der Entscheidung BGHSt
30, 105 ff. zugrunde gelegen hat und dadurch geprägt war, dass im Hinblick auf
extreme, außergewöhnliche Tatumstände die Verhängung der nach § 211 StGB
allein zulässigen lebenslangen Freiheitsstrafe das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verletzt hätte und das Abgehen von der absoluten Strafe nur auf
dem Weg über die Anwendung von § 49 StGB ermöglicht werden konnte.
All dies kann hier schon deshalb dahinstehen, weil eine verfassungs- und
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konventionskonforme Auslegung des Gesetzes möglich ist, die die hier gebotene Kompensation für die überlange Verfahrensdauer auf einem Weg zulässt,
der aus Rechtsgründen der vom Landgericht gefundenen Lösung vorzuziehen
ist.
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bb) Nach Ansicht des Senats kann in Fällen der vorliegenden Art die gebotene Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer - bei weitgehender
Respektierung des geltenden Systems strafrechtlicher Rechtsfolgenbestimmung - durch eine "Anrechungs- oder Vollstreckungslösung" vorgenommen
werden:
- 14 -
22
Das Gericht bestimmt in einem ersten Schritt, in dem die überlange Verfahrensverzögerung als ein kompensationspflichtiger Umstand außer Betracht
bleibt, die unter Berücksichtigung aller strafzumessungsrelevanten Umstände
angemessene Strafe und spricht diese in der Urteilsformel aus. Gleichzeitig legt
es - ebenfalls in der Urteilsformel - fest, dass ein bestimmter Teil der Strafe, der
dem Ausmaß der gebotenen Kompensation entspricht, als vollstreckt gilt.
23
Grundlage dieses Lösungsmodells ist eine entsprechende Anwendung
des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB. Diese Vorschrift beruht auf dem Grundgedanken,
dass der Staat die besonderen Belastungen auszugleichen hat, die er dem Angeklagten im Strafverfahren dadurch auferlegt, dass er trotz der Unschuldsvermutung - wenn auch auf gesetzlicher Grundlage (etwa §§ 112, 112 a StPO) schon vor einer rechtskräftigen Verurteilung in dessen Grundrecht auf Freiheit
der Person eingreift (vgl. Franke in MünchKomm-StGB § 51 Rdn. 1; Theune in
LK 12. Aufl. § 51 Rdn. 2; so schon Dreher MDR 1970, 965, 968 zu § 60 Abs. 1
StGB aF). Dieser Rechtsgedanke ist auf den hier fraglichen Sachverhalt übertragbar, in dem besondere Belastungen des Strafverfahrens für den Angeklagten zu kompensieren sind, die der Staat ihm in anderer Form als durch Freiheitsentziehung vor Abschluss des Verfahrens nicht nur ohne gesetzliche
Grundlage, sondern sogar in rechtsstaatswidriger Weise zufügt.
24
(1) Diese Vollstreckungs- oder Anrechnungslösung in entsprechender
Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB fügt die Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in den hier zu beurteilenden Grenzfällen
stimmiger in das System strafrechtlicher Rechtsfolgenbestimmung ein als das
vom Landgericht entwickelte Modell. Dies wird zunächst schon daran deutlich,
dass es die Kompensation von vornherein jenseits der Strafzumessung und
damit auch jenseits der Bindung an gesetzlich vorgegebene Strafrahmen des
Besonderen Teils vornimmt und auf diese Weise in Sonderkonstellationen, wie
- 15 -
der hier gegebenen, Lösungen ermöglicht, die den gesetzlich vorgegebenen
Strafrahmen beachten und dessen Untergrenze nicht unterschreiten. Sie könnte
daher sogar dann, wenn trotz zwingend vorgeschriebener Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe ausnahmsweise einmal ein Ausgleich für eine besonders
außergewöhnliche Verzögerung des Verfahrens unumgänglich wäre, eine
Kompensation dadurch eröffnen, dass ein bestimmter Teil der mindestens zu
verbüßenden Strafe (§ 57 a Abs. 1 Nr. 1 StGB) als vollstreckt angerechnet wird.
25
(2) Das Vollstreckungsmodell hebt die Kompensation von dem Akt der
eigentlichen Strafzumessung ab.
26
Allerdings ist die - gegebenenfalls durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (mit)bedingte - überlange Dauer eines Strafverfahrens für die
Bestimmung der schuldangemessenen Strafe in mehrfacher Hinsicht relevant.
So nimmt - abgesehen von den Fällen der absolut angedrohten lebenslangen
Freiheitsstrafe - allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, das Strafbedürfnis allgemein ab. Außerdem
wirken sich generell die Belastungen, die für den Angeklagten mit dem gegen
ihn geführten Strafverfahren verbunden sind, umso stärker mildernd aus, je
mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem er von den gegen ihn laufenden Ermittlungen erfährt, und dem Verfahrensabschluss verstreicht; dies gilt unabhängig davon, ob die Verfahrensdauer auch durch einen mit rechtsstaatlichen
Grundsätzen nicht vereinbaren Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot mitbedingt ist (BGH NJW 1999, 1198; NStZ-RR 1998, 108; BGHR StGB § 46
Abs. 2 Verfahrensverzögerung 3, 6). Die Kompensation für eine zudem rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ist zwar mit diesen Gesichtspunkten rein
faktisch eng verschränkt; sie hebt sich in ihrer rechtlichen Funktion von diesen
Strafzumessungserwägungen jedoch deutlich ab. Denn sie dient nicht unmittelbar Zwecken eines gerechten Ausgleichs von Unrecht und (Strafzumes-
- 16 -
sungs)Schuld, sondern der Entschädigung dafür, dass der Angeklagte durch
Maßnahmen staatlicher Strafverfolgung zum Opfer (vgl. Art. 25 MRK) einer mit
rechtsstaatlichen Maßstäben nicht mehr zu vereinbarenden Verfahrensführung
geworden ist. Dies wird daran deutlich, dass eine derartige Entschädigung
grundsätzlich - in welcher Form auch immer - auch und gerade dann geboten
sein wird, wenn das rechtsstaatswidrig verzögerte Verfahren nicht zu einer Verurteilung des Angeklagten, sondern zu dessen Freispruch führt.
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(3) Ist der Aspekt, dass die überlange Verfahrensdauer (teilweise auch)
durch einen rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot
verursacht wurde, somit rechtlich nicht mit Strafzumessungsgesichtspunkten zu
vermengen, sondern von diesen gesondert zu bewerten und auszugleichen, so
führt das Vollstreckungs- im Gegensatz zum Strafabschlagsmodell dazu, dass
die Festsetzung der unrechts- und schuldangemessenen Strafe beginnend mit
der Wahl der Strafart und des Strafrahmens bis hin zu ihrer konkreten Bemessung von diesem Gesichtspunkt unberührt bleibt; sie ist daher auch im Urteilstenor auszusprechen. Damit behält sie ihre Funktion, die ihr in anderen strafrechtlichen Bestimmungen, aber auch in außerstrafrechtlichen Regelungen zugewiesen ist. So bleibt - wie nach der gesetzlichen Konzeption vorgesehen - die
dem Unrecht und der Schuld angemessene und nicht eine aus hiervon abzugrenzenden Gründen verminderte Strafe entscheidend etwa für die Fragen, ob
und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Strafe zur Bewährung
ausgesetzt werden kann (§ 56 Abs. 1 - 3 StGB), ob die formellen Voraussetzungen für die Verhängung von Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 - 3 StGB),
deren Vorbehalt (§ 66 a Abs. 1 StGB) oder deren nachträgliche Anordnung
(§ 66 b StGB) erfüllt sind, ob der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und
des Stimmrechts eintritt (§ 45 Abs. 1 StGB), ob Führungsaufsicht angeordnet
werden kann (§ 68 Abs. 1 StGB), ob eine Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommt (§ 59 Abs. 1 StGB) oder ob von Strafe abgesehen werden kann
- 17 -
(§ 60 Satz 2 StGB). Ebenfalls bleibt sie beispielsweise maßgeblich für Tilgungsfristen nach dem BZRG (etwa § 46 BZRG) sowie beamten- oder ausländerrechtliche Folgen der Verurteilung (s. § 24 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BRRG; § 24
DRiG, §§ 53, 54 AufenthG).
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(4) Letztlich führt die Aufnahme der Kompensationsentscheidung in den
Urteilstenor auch zu einer höheren Transparenz der Rechtsfolgenbemessung,
indem sie für alle Beteiligten sofort kenntlich macht, in welchem Umfang das
den Angeklagten letztlich treffende geringere Strafübel allein dadurch bedingt
ist, dass er einem Verfahren unterworfen war, in dem das Beschleunigungsgebot in rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbarer Weise missachtet worden ist.
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3. Respektiert somit das Anrechnungs- oder Vollstreckungsmodell auch
in Sonderfällen die Strafrahmen der Strafgesetze und fügt es sich außerdem
auch allgemein stimmiger in das strafrechtliche Rechtsfolgensystem ein als das
Strafabschlagsmodell, so ist es diesem vorzuziehen. Dies entspricht dem
Grundsatz, dass eine verfassungsrechtlich oder wegen der Kollision mit anderen einfachgesetzlichen Regelungen gebotene Auslegung eines Gesetzes, die
in dessen Wortlaut nicht angelegt ist, stets auf die schonendste Weise vorgenommen werden muss.
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Die für das Brandstiftungsdelikt festgesetzte Einzelstrafe erweist sich daher als rechtsfehlerhaft; sie ist aufzuheben. An dieser Entscheidung wäre der
Senat weder durch entgegenstehende Rechtsprechung anderer Strafsenate
des Bundesgerichtshofs noch durch verfassungsrechtliche Vorgaben gehindert,
die sich der bisherigen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur notwendigen Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen entnehmen
lassen. Denn die Frage, wie der erforderliche Ausgleich vorzunehmen ist, wenn
dieser nach dem Strafabschlagsmodell zu einer Unterschreitung des gesetzli-
- 18 -
chen Rahmens einer zeitigen Freiheitsstrafe führen würde, war bisher nicht Gegenstand einer Entscheidung eines der beiden Gerichte.
III. Jedoch führt der hier zu beurteilende Sachverhalt über diese Frage-
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stellung hinaus und macht eine vertiefte Betrachtung des Problemkreises der
Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen notwendig, die
auch eine Prüfung der bisherigen Rechtsprechung erforderlich macht. Dazu gilt:
1. Der Senat ist - wie das Landgericht - der Ansicht, dass dem Angeklag-
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ten wegen der rechtsstaatswidrigen Verzögerung des Verfahrens zwischen dem
Eingang der Anklage und dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses ein Ausgleich
zu gewähren ist. Ausgehend von den oben dargelegten Rechtsgrundsätzen wären daher die Einzelstrafe für das Brandstiftungsdelikt sowie die Gesamtstrafe
aufzuheben, und die Sache müsste in diesem Umfang an das Landgericht zurückverwiesen werden, damit dieses die beiden Strafen neu zumisst und sodann bestimmt, welcher Teil der neu gebildeten Gesamtstrafe zur Kompensation der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als bereits vollstreckt gilt;
gegebenenfalls könnte der Senat für die besonders schwere Brandstiftung
selbst auf die Mindeststrafe von fünf Jahren erkennen und die Sache nur zur
neuen Gesamtstrafenbildung und zur Festlegung der Kompensation nach dem
Vollstreckungsmodell an das Landgericht zurückgeben. In beiden Fällen sähe
sich
das
Landgericht
jedoch
vor
das
Problem
gestellt,
dass
die
- nach bisheriger Rechtsprechung rechtsfehlerfrei - wegen der Verzögerung im
Wege des Strafabschlags auf sechs Monate bemessene Einzelfreiheitsstrafe
für den versuchten Betrug weiterhin im Raum stünde und in die Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen werden müsste, von der nach der Rechtsauffassung des
Senats dann im Anrechnungsmodell ein Teil als vollstreckt zu erklären wäre. Es
käme damit zu einer Kollision der unterschiedlichen Kompensationssysteme.
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Es kann offen bleiben, ob sich in dieser außergewöhnlichen Situation eine Lösung finden ließe, die auf dieser Grundlage einen rechtlich noch tragfähigen Rechtsfolgenausspruch ermöglichen würde. Ein insgesamt in sich ausgewogenes, stimmiges Ergebnis wäre jedenfalls nicht zu erreichen. Dies gibt dem
Senat Anlass, auch die Bemessung der Einzelstrafe wegen versuchten Betruges einer nochmaligen rechtlichen Prüfung zu unterziehen. Diese ergibt, dass
- entgegen bisheriger Rechtsprechung - auch die Betrugsstrafe als rechtsfehlerhaft zugemessen anzusehen ist. Denn - mit Ausnahme der Beachtung der
gesetzlichen Strafrahmenuntergrenze - beanspruchen die Gründe, die bestimmend dafür sind, dass die Kompensation der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bei der Einzelstrafe wegen des Brandstiftungsdelikts nicht nach
dem Strafabschlagsmodell vorzunehmen ist, auch für die Fälle Geltung, in denen die im Wege der Kompensation herabgesetzte Strafe noch innerhalb des
gesetzlichen Strafrahmens gefunden werden kann. Sie führen nach Ansicht des
Senats dazu, dass auch hier in Zukunft das Vollstreckungsmodell angewendet
werden muss. Das hat zur Folge, dass auch die Einzelstrafe wegen versuchten
Betruges aufzuheben wäre. Dies erscheint im Übrigen auch deswegen geboten,
weil als Konsequenz des Vollstreckungsmodells bei einer Gesamtstrafenbildung
die Kompensation ohnehin nicht bei den Einzelstrafen, sondern allein bei der
Gesamtstrafe ansetzt.
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2. Dieses Ergebnis steht nicht in Widerspruch zu konventions- oder verfassungsrechtlichen Vorgaben.
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In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte findet sich kein Hinweis darauf, dass nach Ansicht des Gerichtshofs der
zur Beseitigung der Opferstellung (Art. 25 MRK) erforderliche erkennbare Ausgleich für einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1
Satz 1 MRK in einer bestimmten Weise, gar in der Form eines bezifferten Ab-
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schlags auf die an sich schuldangemessene Strafe zu gewähren wäre. Vor dem
Hintergrund, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs sehr unterschiedlichen
nationalen Rechtsordnungen Rechnung zu tragen hat, ist dies auch nur konsequent.
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In einigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts findet sich
zwar die Aussage, dass das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung einen Zumessungsaspekt bilde, der bei der Festsetzung der dem
Unrecht und der Schuld angemessenen Strafe zu beachten sei (z. B. BVerfG
NJW 2003, 2897; 1995, 1277 f.; 1993, 3254, 3255). Dies ist aber ersichtlich
nicht dahin zu verstehen, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen allein das
bisher praktizierte Modell des bezifferten Strafabschlags dem Rechtsstaatsgebot und dem daraus abzuleitenden Anspruch des Angeklagten auf ein faires
Verfahren oder sonstigen verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht werden könnte, während die hier vertretene Rechtsauffassung, dass ein bezifferter
Teil der ohne Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verzögerung allein
nach den Maßstäben des § 46 StGB gebildeten Strafe für vollstreckt zu erklären
ist, vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben könnte; derartige Detailvorgaben wären aus der Verfassung schlicht nicht ableitbar. Andernfalls wäre auch
der Gesetzgeber gehindert, das Vollstreckungsmodell in Gesetzesform zu fassen und in das Strafgesetzbuch einzustellen. Die genannten Aussagen des
Bundesverfassungsgerichts sind vielmehr vor dem Hintergrund zu sehen, dass
bisher weder in der fachgerichtlichen noch in der Verfassungsrechtsprechung
ein anderes Modell als das Strafabschlagssystem ernsthaft in Betracht gezogen
wurde und sich daher auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ausschließlich an diesem Modell ausrichten, wobei die fachgerichtliche
Rechtsprechung in rechtlicher Hinsicht nicht immer deutlich zwischen den strafzumessungsrelevanten Auswirkungen einer langen oder überlangen Verfahrensdauer einerseits und andererseits dem gebotenen Ausgleich dafür unter-
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scheidet, dass diese Verfahrensdauer durch ein Verhalten der Strafverfolgungsbehörden verursacht wurde, das mit rechtsstaatlichen Maßstäben nicht
vereinbar war.
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3. Auch aus der Auffassung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs,
dass die unzulässige Provokation der Tat des Angeklagten einen Verstoß gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz des fairen Verfahrens darstellt, der bei der
Strafzumessung zu Gunsten des Angeklagten wie eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu beachten ist (BGHSt 45, 321; 47, 44), lässt sich nichts
gegen das Vollstreckungsmodell herleiten. Dabei mag dahinstehen, ob dieser
Ansicht überhaupt zugestimmt werden könnte. Denn jedenfalls werden durch
die unzulässige Tatprovokation das Unrecht der Tat und die Schuld des Täters
unmittelbar gemindert, so dass eine an den Strafausspruch anknüpfende Kompensation des rechtsstaatswidrigen Verhaltens der Strafverfolgungsorgane gegenüber dem Angeklagten hier mit Recht bei der Zumessung der Strafe nach
§ 46 StGB vorgenommen wird.
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IV. Das vom Senat für rechtlich zutreffend erachtete Ergebnis steht - soweit die Einzelstrafe wegen versuchten Betruges betroffen ist - in Widerspruch
zu der oben näher dargelegten ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wie sie sich nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte in dem Verfahren Eckle ./. Bundesrepublik Deutschland
aufbauend auf Judikaten des Bundesverfassungsgerichts entwickelt hat. Bei
der beabsichtigten Änderung dieser Rechtsprechung handelt es sich daher um
eine Fortbildung des Rechts von grundsätzlicher Bedeutung, die dem Großen
Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs unabhängig davon vorbehalten
bleiben sollte, ob zwischen den Strafsenaten ein Konsens über diesen Rechtsprechungswandel hergestellt werden könnte oder nicht. Der Senat legt dem
Großen Senat für Strafsachen die maßgebliche Rechtsfrage daher gemäß
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§ 132 Abs. 4 GVG unmittelbar zur Entscheidung vor und sieht davon ab, wegen
der Divergenz zu der bisherigen Rechtsprechung der übrigen Strafsenate in ein
Anfrageverfahren nach § 132 Abs. 3 GVG einzutreten und die Frage zu klären,
ob diese sich unter Aufgabe ihrer Rechtsauffassung der Ansicht des Senats
anschließen würden.
Tolksdorf
Winkler
Becker
von Lienen
Hubert