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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 548/16
vom
6. April 2017
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
ECLI:DE:BGH:2017:060417U3STR548.16.0
-2-
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 6. April 2017,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Becker,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer,
Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Spaniol,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Tiemann,
Hoch
als beisitzende Richter,
Richterin am Amtsgericht
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
-3-
I.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil
des Landgerichts Hildesheim vom 12. August 2016 mit
den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
1. soweit der Angeklagte in den Fällen 9 und 10 der
Anklage freigesprochen worden ist;
2. im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer
Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten
des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des
Landgerichts zurückverwiesen.
II. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in fünf Fällen sowie wegen
sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person, zu der
Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Hiergegen wendet sich die auf die Rüge der
-4-
Verletzung materiellen Rechts gestützte und wirksam auf den Freispruch in den
Fällen 9 und 10 der Anklage sowie den Maßregelausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft.
I.
2
Nach den Feststellungen freundete sich die Mutter der im September
2003 und September 2008 geborenen Nebenkläger im Jahr 2012 mit dem Angeklagten an, der bald in das Familienleben einbezogen wurde. So übernahm
er abwechselnd mit dem Großvater bei Abwesenheit der Mutter die Aufsicht
über die Kinder. Im Sommer 2015 missbrauchte der Angeklagte in vier Fällen
den damals elfjährigen Nebenkläger J.
B.
, indem er in drei Fällen
den Oralverkehr an dem Kind durchführte und in einem Fall die Spitze eines
Vibrators in dessen Anus einführte. Im Dezember 2015 und Januar 2016 drang
er in einem Fall mit der Spitze eines Vibrators und gleich darauf mit der eines
Dildos anal bei dem damals siebenjährigen Nebenkläger Ju.
B.
ein
und manipulierte in zwei Fällen an dessen Glied, wobei das Kind in einem Fall
schlief. Vom Vorwurf weiterer Missbrauchstaten zum Nachteil von J.
Ju.
B.
und
hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen, so
auch in den Fällen 9 und 10 der Anklage, in denen dem Angeklagten vorgeworfen worden war, zur Anfertigung von Fotos den Nebenkläger J.
B.
in zwei Fällen veranlasst zu haben, mit entblößtem erigierten Penis auf der
Couch sitzend zu posieren.
II.
3
1. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg, soweit es sich
gegen die Freisprüche in den Fällen 9 und 10 der Anklage wendet.
-5-
4
a) Die Staatsanwaltschaft hat ihre Revision wirksam auf die Freisprüche
in diesen beiden Fällen beschränkt. Zwar hat sie allgemein die Verletzung
materiellen Rechts gerügt und beantragt, das angefochtene Urteil hinsichtlich
der Teilfreisprüche und der lediglich vorbehaltenen Sicherungsverwahrung
aufzuheben. Doch setzt sich die Revisionsbegründung ausschließlich mit den
Teilfreisprüchen in den Fällen 9 und 10 der Anklage auseinander. In einem
solchen Fall, in dem der Umfang der Anfechtung unklar ist, ist nach ständiger
Rechtsprechung das Angriffsziel des Rechtsmittels durch Auslegung zu
ermitteln (vgl. etwa BGH, Urteile vom 7. Mai 2009 - 3 StR 122/09, juris Rn. 5;
vom 11. Juni 2014 - 2 StR 90/14, BGHR StPO § 344 Abs. 1 Antrag 9). Diese
ergibt nach dem insoweit maßgeblichen und eindeutigen Sinn der Revisionsbegründung - auch mit Blick auf Nr. 156 Abs. 2 RiStBV - eine Beschränkung
des Rechtsmittels auf die genannten Freisprüche und den Maßregelausspruch,
so dass die übrigen Teilfreisprüche ebenso wie die Schuldsprüche und die
hierfür verhängten Einzelfreiheitsstrafen in Rechtskraft erwachsen sind.
5
b) Im Umfang dieser Anfechtung halten die Teilfreisprüche der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat den festgestellten
Sachverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft und damit
gegen die ihm obliegende allseitige Kognitionspflicht (§ 264 StPO) verstoßen.
Dies stellt auch einen sachlich-rechtlichen Mangel dar (vgl. KK-Kuckein,
7. Aufl., § 264 Rn. 25 mwN).
6
Die umfassende gerichtliche Kognitionspflicht gebietet, dass der - durch
die zugelassene Anklage abgegrenzte - Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird (st. Rspr.; vgl. nur BGH,
Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 239/09, NStZ 2010, 222, 223 mwN). Der
Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss
-6-
zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen
Gründe entgegenstehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 264
Rn. 10).
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Dies hat das Landgericht unterlassen. Nach den Urteilsgründen wurden
Fotografien, die das Kind mit entblößtem Unterkörper und erigiertem Glied
breitbeinig auf der Couch sitzend zeigen, aus dem Handy des Angeklagten
ausgelesen. Der Angeklagte hat eingeräumt, die Aufnahmen gefertigt zu haben.
Er habe den Nebenkläger aber nicht gebeten, zu posieren, sondern - nachdem
er diesen in der abgelichteten Position vorgefunden habe - die Fotos aus einer
spontanen Eingebung heraus gemacht, diese ihm gezeigt und dann gelöscht
(UA S. 13). Das Landgericht sieht auf der Grundlage dieser Einlassung, der es
gefolgt ist, den Anklagevorwurf als nicht bestätigt an. Es sei weder erwiesen,
dass der Angeklagte den Nebenkläger zu dieser Pose veranlasst noch dass er
zuvor am Penis des Kindes manipuliert habe (UA S. 31 f.). Auf der Grundlage
dieser Feststellungen hätte die Strafkammer indes prüfen und entscheiden
müssen, ob der Angeklagte den Tatbestand des Sich-Verschaffens kinderpornographischer Schriften nach § 184b Abs. 3 StGB erfüllt hat. Die Vorschrift
ist als Unternehmensdelikt ausgestaltet. Das heißt, dass zur Erfüllung des
Tatbestandes allein der Versuch vorausgesetzt ist (§ 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB), sich
in den Besitz einer kinderpornografischen Schrift, wie sie auch die Abbildung
eines in eindeutig sexualbezogener Haltung posierenden Kindes darstellt (vgl.
BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 - 1 StR 485/13, BGHSt 59, 177, 178 ff.;
Beschluss vom 3. Dezember 2014 - 4 StR 342/14, StV 2015, 494), zu bringen.
Dies kann auch durch eigenhändiges Anfertigen entsprechender Fotoaufnahmen geschehen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1997 - 3 StR
567/97, BGHSt 43, 366, 368).
-7-
8
Das Urteil ist somit hinsichtlich der Teilfreisprüche in den Fällen 9 und 10
aufzuheben. Daher kann auch die Gesamtfreiheitsstrafe nicht bestehen bleiben. Sie bedarf gegebenenfalls neuer Bemessung.
9
2. Der Maßregelausspruch hat hingegen - auch soweit die Anordnung
der Sicherungsverwahrung lediglich vorbehalten wurde - Bestand.
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a) Das Landgericht hat zutreffend die formellen Voraussetzungen des
§ 66 Abs. 2 und des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB als erfüllt angesehen. Es hat aber
nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen vermocht, sondern es nur für
wahrscheinlich gehalten, dass die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1
Nr. 4 StGB vorliegen, und deshalb die Sicherungsverwahrung lediglich vorbehalten (§ 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB). Dies begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
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Das Landgericht ist mit rechtsfehlerfreier Begründung von der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen abgewichen, der das Vorliegen einer hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten für die Allgemeinheit bejaht hatte. An einer solchen Abweichung ist der Tatrichter nicht
gehindert; er muss sich dann aber bei seiner Beurteilung konkret mit den
Ausführungen des Sachverständigen auseinander setzen und seine Auffassung
tragfähig sowie nachvollziehbar begründen (vgl. BGH, Beschluss vom
16. September 2008 - 3 StR 302/08, StraFo 2009, 71).
12
Diesen Anforderungen wird das angegriffene Urteil gerecht. Die
Strafkammer hat - entgegen den Einwänden der Revision - nicht etwa ein
gegenüber dem Sachverständigen besseres Fachwissen behauptet. Vielmehr
ist sie den fachlichen Ausführungen des Sachverständigen gefolgt, gestützt auf
-8-
die von ihr in der Hauptverhandlung festgestellten Anknüpfungstatsachen aber
zu einer abweichenden Einschätzung der Gefährlichkeit des Angeklagten
gelangt. Der Sachverständige hatte seine Gefährlichkeitsbeurteilung unter
anderem auf das fehlende Unrechtsbewusstsein des Angeklagten, die Verharmlosung seiner Taten und seine mangelnde Opferempathie gestützt. Das
Landgericht konnte sich demgegenüber im Ergebnis nicht die Überzeugung
verschaffen, dass der Angeklagte kein Bedauern und kein Schuldbewusstsein
zeige. Vielmehr hat es in der Hauptverhandlung Reue und Mitgefühl für den
Geschädigten sowie eine beginnende Reflexion seines strafbaren Verhaltens
und Veränderungsbereitschaft feststellen können. Auf dieser Grundlage
vermochte es sich im Ergebnis keine Überzeugung von einer hangbedingten
Gefährlichkeit des Angeklagten zu verschaffen. Somit hat das Landgericht
seine Prognose, dass der Angeklagte zwar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, aber nicht hinreichend sicher künftig erhebliche Straftaten begehen
werde, auf tatsächlicher Ebene auf andere Anknüpfungstatsachen gestützt als
die, mit denen der Sachverständige das Bestehen einer Gefährlichkeit
begründet hat. Die Feststellung der Tatsachen, die der Gefährlichkeitsprognose
zugrunde zu legen sind, obliegt indes dem Tatgericht im Rahmen seiner freien
Beweiswürdigung. Auf dieser als Ergebnis der Hauptverhandlung gefundenen
Tatsachenbasis hat das Landgericht nach Maßgabe der gutachterlichen
Vorgaben des Sachverständigen, im Ergebnis aber abweichend die Gefährlichkeit des Angeklagten beurteilt. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden.
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b) Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung weist auch keinen Rechtsfehler zuungunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) auf. Das Landgericht hat die
Ausübung des ihr nach § 66a Abs. 1 StGB zustehenden Ermessens zwar nicht
ausdrücklich begründet. Dies führt indes vorliegend nicht zur Aufhebung des
Maßregelausspruchs.
-9-
14
§ 66a Abs. 1 StGB stellt auch bei Vorliegen aller Voraussetzungen die
Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung in das Ermessen des
Gerichts. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll dieses die Möglichkeit
haben, sich ungeachtet der festgestellten oder wahrscheinlichen Gefährlichkeit
des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die
Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt (vgl. zu § 66 Abs. 2 und 3 StGB:
BGH, Urteile vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172; vom
19. Februar 2013 - 1 StR 275/12, juris Rn. 34). Dass sich das Landgericht
seines Ermessens bewusst war und welche Gründe für seine Ermessensausübung leitend waren (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 4. Oktober 2012 - 3 StR
207/12, juris Rn. 3; vom 21. Juli 2015 - 3 StR 170/15, juris Rn. 2, jew. mwN), ist
dem Gesamtzusammenhang des Urteils vorliegend hinreichend zu entnehmen.
Das Landgericht hat sich in den Urteilsgründen eingehend mit den Einwirkungsmöglichkeiten des Strafvollzugs auf den Angeklagten und seinen Therapiechancen auseinandergesetzt. Damit hat es die Umstände berücksichtigt, die
regelmäßig Eingang in die Ermessensabwägung finden (vgl. etwa BGH, Urteil
vom 8. Juli 2005 - 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 198; vom 11. Juli 2013 - 3 StR
- 10 -
148/13, NStZ 2013, 707). Auch die Frage der Verhältnismäßigkeit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung hat es erörtert. Nach alledem ist nicht anzuzweifeln, dass das Landgericht eine fehlerfreie Ausübung seines Ermessens
vorgenommen hat.
Becker
Schäfer
Tiemann
Spaniol
Hoch