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BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 428/17
vom
15. August 2018
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
ECLI:DE:BGH:2018:150818U2STR428.17.0
-2-
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 15. August
2018, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer,
die Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Krehl,
Dr. Eschelbach,
die Richterinnen am Bundesgerichtshof
Dr. Bartel,
Wimmer,
Bundesanwältin beim Bundesgerichtshof
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
Verhandlung
als Verteidiger des Angeklagten,
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
in der
-3-
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 29. März 2017 im Straf- und
Maßregelausspruch mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Schusswaffe und unerlaubtem
Besitz von Munition zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, die
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bei Vorwegvollzug von zwei Jahren
und sechs Monaten Freiheitsstrafe angeordnet und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen
Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
-4-
I.
2
Nach den Feststellungen des Landgerichts begab sich der Angeklagte
am
29. Februar
2016
in
das
türkische
um dort die als Bedienung tätige Zeugin F.
Café
„A.
in
F.
,
, mit der er kurz zuvor eine Be-
ziehung begonnen hatte, zu besuchen. Er beabsichtigte, ihr dort bis zum
Schließen des Lokals Gesellschaft zu leisten, um anschließend mit ihr in seiner
Wohnung zu übernachten. Im Café hielt sich seit dem Nachmittag auch das
spätere Tatopfer, der Zeuge Ö.
, auf. Bis gegen Mitternacht, als die meisten
Gäste das Café verlassen hatten, konsumierte der Angeklagte Kokain und trank
in erheblichem Umfang Bier und Schnaps. Er setzte sich schließlich zu Ö.
dessen Tisch, an dem auch die Zeugen Y.
und Öz.
an
saßen und ein Ge-
spräch über die gegenwärtigen politischen Gegebenheiten in der Türkei führten.
Auch nach dem Hinzukommen des Angeklagten setzten diese ihre Unterhaltung fort. Es kam in der Folge zu einer kontroversen politischen Diskussion, die
vor allem zwischen dem Angeklagten und Ö.
geführt wurde. Ö.
leidenschaftlich und lautstark
beklagte ein Demokratiedefizit in der Türkei sowie die
Unterdrückung und Entrechtung der Kurden. Dabei äußerte er ein gewisses
Verständnis für die (verbotene) kurdische Arbeiterpartei PKK, ohne allerdings
die von ihr veranlassten gewalttätigen Anschläge auf türkische Einrichtungen zu
rechtfertigen.
3
Dabei blieb die Atmosphäre während der mehrstündigen Diskussion
zwar „freundschaftlich“, allerdings kam beim Angeklagten, der sich als Anhänger Atatürks bezeichnete, im Laufe der Zeit eine sich stetig steigernde Wut
auf Ö.
auf, dem er mangelnden Patriotismus vorwarf. Dessen ständige Kritik
an der türkischen Regierung empfand er als Beleidigung des türkischen Staates, durch die er sich in seiner persönlichen Ehre als Türke verletzt fühlte. Des-
-5-
halb verspürte er schließlich das dringende Bedürfnis, ihn für die „Beleidigung
seines Heimatlandes“ abzustrafen.
4
Gegen 4.00 Uhr morgens, als das Café geschlossen werden sollte, bemerkte Ö.
, dass ihm die Zigaretten ausgegangen waren. Da anderweitig kei-
ne zu besorgen waren, bot der Angeklagte ihm an, er könne mit ihm kurz nach
Hause kommen, dort könne er aus seinem Vorrat einige bekommen. Tatsächlich beabsichtigte er, ihn mit einer Schusswaffe anzugreifen und zu verletzen.
Ö.
ging, ohne etwas zu ahnen, auf den Vorschlag ein und folgte dem Ange-
klagten und der Zeugin F.
, die schon ein Stück voraus gelaufen waren.
Nach wenigen Minuten erreichten sie den Innenhof vor dem Gebäude, in dem
der Angeklagte zusammen mit seinen Eltern eine Wohnung teilte. Der Angeklagte bat Ö.
und die Zeugin F.
zu warten, bis er die Zigaretten geholt
habe. Nach ca. fünf Minuten kehrte er ohne sie, aber mit einem Revolver, den
er unauffällig in seiner rechten Hand hielt, zurück. Diesen hatte er aus einem
Versteck vom Dachboden des Hauses geholt.
5
Unmittelbar nachdem der Angeklagte die beiden Zurückgebliebenen erreicht hatte, zog er die Zeugin F.
schnell zur Seite und gab aus einer Ent-
fernung von ca. 3 Metern kurz hintereinander zwei gezielte Schüsse auf die unteren Gliedmaßen des durch den Angriff überraschten Ö.
ab. Dabei beab-
sichtigte er, ihn im Bereich der Beine zu verletzen. Seinen Tod nahm er nicht
billigend in Kauf. Während des Schusses rief er „Ich ficke Dich, Du Kurde“ bzw.
„Du verfickter Kurde“. Ö.
brach nach dem zweiten Schuss, der ihn im linken
Oberschenkel getroffen und zu einem Trümmerbruch geführt hatte, zusammen.
Der Angeklagte kümmerte sich nicht um ihn und verließ zunächst mit der Zeugin F.
den Innenhof. Sie kamen jedoch alsbald zurück und sahen das Tat-
opfer noch immer regungslos auf dem Boden liegen. Der Angeklagte brachte
-6-
die Tatwaffe zurück auf den Dachboden und ging anschließend mit der Zeugin
F.
in seine Wohnung. Dort forderte er sie auf, einen Rettungswagen her-
beizurufen, da er befürchtete, den Geschädigten schwer verletzt zu haben. Dies
tat sie um 4.25 Uhr, unter einem falschen Namen und ohne auf die Schussverletzung des Geschädigten hinzuweisen. Zu diesem Zeitpunkt war die Polizei,
die um 4.26 Uhr einen Streifenwagen mit Sondersignal zum Tatort entsandt
hatte, allerdings bereits von dem Geschädigten Ö.
angerufen worden. Bei der
anschließenden Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten wurde in einem
Kleiderschrank die ihm gehörende erlaubnispflichtige Munition aufgefunden.
6
Der Angeklagte wies zur Tatzeit eine nach Entnahme einer Blutprobe errechnete Maximalblutalkoholkonzentration von 3,10 Promille auf; gleichwohl ist
das Landgericht nicht von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des
Angeklagten ausgegangen.
7
Der Geschädigte hielt sich in der Folge zu mehreren Operationen des
zertrümmerten Oberschenkels stationär im Krankenhaus auf; er kann sich nur
noch mühsam mit Krücken und unter Schmerzen fortbewegen. Es ist nicht abzusehen, dass er körperlich wieder vollständig hergestellt werden kann. Er befindet sich zudem in psychologischer Behandlung. Seine Lebensverhältnisse
haben sich grundlegend verändert. Er konnte seine Tätigkeit als Sozialarbeiter
nicht fortsetzen.
II.
8
Die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision des
Angeklagten hat weitgehend Erfolg. Sie führt mit der Verfahrensrüge der Verletzung von § 261 StPO zur Aufhebung des Straf- und Maßregelausspruchs, die
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Einziehungsentscheidung ist von dem Rechtsfehler nicht betroffen und hat
Bestand. Die weiteren Verfahrensrügen sowie die Sachrüge bedürfen keiner
näheren Erörterung, da sie sich nicht gegen die Einziehungsentscheidung richten.
9
1. Die Revision beanstandet zu Recht, dass sich das Landgericht im
Zusammenhang mit der Schuldfähigkeitsbeurteilung des Angeklagten nicht mit
dem in der Hauptverhandlung im Wege der Verlesung eingeführten ärztlichen
Untersuchungsberichts
des
Arztes
Dr. N.
vom
29. Februar 2016 auseinander gesetzt hat.
10
a) Die Rüge ist zulässig erhoben. Der Angeklagte war nicht gehalten vorzutragen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise sich der zur Frage der
Schuldfähigkeit des Angeklagten in der Hauptverhandlung gehörte Sachverständige in seinem Gutachten mit dem ärztlichen Untersuchungsbericht von
Dr. N.
befasst hat. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO verpflichtet insoweit nicht zu
einem Vorbringen von Umständen, das auf ein Verfahrensgeschehen abzielte,
dessen mögliche Aufklärung dem Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung unterliegen würde.
11
b) Die Rüge ist auch begründet.
12
Der im Rahmen der Beweisaufnahme verlesene Untersuchungsbericht
des die Blutabnahme um 8.43 Uhr durchführenden Arztes enthält Hinweise auf
relevante Einschränkungen der Leistungsfähigkeit des Angeklagten. Es wird
dort bescheinigt, er habe wegen Unsicherheit nicht geradeaus gehen können,
die Finger-Finger-Probe sei unsicher, die Sprache verwaschen, das Bewusstsein des Angeklagten benommen, der Denkablauf unklar, sein Verhalten ab-
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weisend und seine Stimmung gereizt gewesen. Diese Beschreibungen des Angeklagten werden in den landgerichtlichen Urteilsgründen nicht aufgegriffen,
obwohl sich dies angesichts der Begründung der Strafkammer zum Ausschluss
einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgedrängt hätte.
13
Das Landgericht hat – ausgehend von einer maximalen Blutalkoholkonzentration von 3,1 Promille, bei der jedenfalls die Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
nahe liegt (vgl. dazu Fischer, StGB, 65. Aufl., § 20 Rn. 20), – eine erhebliche
Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten verneint. Dabei hat es
sich – sachverständig beraten – auf fehlende äußerlich sichtbare typische alkoholbedingte Ausfallerscheinungen, auf eine nachgewiesene und lange Alkoholgewöhnung des Angeklagten und sein sehr gutes Leistungsvermögen zur Tatzeit bezogen. Die Überzeugung vom Fehlen von Ausfallerscheinungen hat es
gewonnen, weil keiner der befragten Caféhausbesucher am Tatabend solche
beobachtet hatte und auch zwei am Tatort anwesende Polizeibeamte nicht den
Eindruck gewonnen hätten, der Angeklagte habe unter Alkohol und/oder Drogen gestanden.
14
Bei dieser besonderen Sachlage hätte sich die Strafkammer mit den im
Untersuchungsbericht enthaltenen Angaben des sachverständigen Zeugen,
dessen Aufgabe im Zeitpunkt der Blutentnahme gerade auch darin bestand,
über die Entnahme hinaus (weitergehende) Feststellungen zur bestehenden
Alkoholisierung zu treffen, auseinander setzen müssen. Denn diese sprechen
jedenfalls dafür, dass die um 7.43 Uhr im Blut festgestellte Blutalkoholkonzentration zu diesem Zeitpunkt zu massiven Ausfallerscheinungen geführt hat. Wie
dies mit der Einschätzung der Strafkammer, zum Tatzeitpunkt, bei dem ein
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höherer BAK-Wert von 3,1 Promille anzunehmen war, habe es keine Ausfallerscheinungen gegeben, in Einklang zu bringen ist, hätte insoweit näherer Erörterung bedurft. Dies war auch nicht deshalb entbehrlich, weil das Landgericht
mit Blick auf den Kokainkonsum des Angeklagten vor der Tat darauf hingewiesen hat, der Konsum von Kokain steigere das Leistungsvermögen und führe
dazu, dass typische alkoholbedingte Ausfallerscheinungen antagonisiert würden. Selbst wenn man davon ausginge, dass das Landgericht damit nicht nur
das Fehlen eines sog. „Potenzierungseffekts“ bei gleichzeitigem Konsum von
Alkohol und Kokain begründen, sondern darüber hinaus den Wegfall von Ausfallerscheinungen zur Tatzeit erklären wollte, bleiben die landgerichtlichen Ausführungen defizitär. Denn ob und wie sich das mögliche kokainbedingte Fehlen
von durch Alkoholkonsum üblicherweise hervorgerufenen Ausfallerscheinungen
im Tatzeitpunkt auf das Hemmungsvermögen, für das 3 ½ Stunden nach der
Tat nicht nur eine hohe Blutalkoholkonzentration, sondern auch Ausfallerscheinungen streiten, auswirkt, lässt sich den Erläuterungen der Strafkammer nicht
entnehmen.
15
2. Dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Strafausspruchs. Der
Senat schließt aus, dass das Landgericht bei ordnungsgemäßer Berücksichtigung des ärztlichen Untersuchungsberichts zur Annahme von Schuldunfähigkeit des alkoholgewöhnten Angeklagten gelangt wäre.
16
Die Aufhebung des Strafausspruchs entzieht der Bestimmung über den
Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe vor der angeordneten Maßregel nach § 64
StGB die Grundlage. Der Senat hebt auch die an sich ohne Rechtsfehler angeordnete Unterbringung in der Entziehungsanstalt mit den zugehörigen Fest-
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stellungen auf, um dem Tatrichter, nahe liegender Weise unter Heranziehung
eines anderen Sachverständigen, auf einer widerspruchsfreien Tatsachengrundlage eine in sich stimmige Rechtsfolgenentscheidung zu ermöglichen.
Schäfer
Krehl
Bartel
Eschelbach
Wimmer